Es war Mittwoch. Professor Grafton saß am Schreibtisch, genau an dem Platz, an dem seine Putzfrau wenige Wochen zuvor erschossen worden war. Als Winter ihm erklärte, was er vorhatte, sah der Professor unter seiner Löwenmähne grimmig drein und tat das, womit Winter gerechnet hatte: Er spielte sich auf und bemühte sich, so viele Schwierigkeiten wie nur möglich zu machen. Eine Rekonstruktion in seinem Haus, eine neuerliche Absperrung, ein Riesen-Polizeiauflauf, und das während seiner und seiner Frau Abwesenheit? Niemals! Man habe sein Haus schon genug geschändet, ihm wertvolle Funde gestohlen, sie in Tüten gestopft, als handele es sich um Haushaltsmüll. Von solchen Banausen wolle er sich nie wieder seine Kreise stören lassen. Und übrigens, was habe die Polizei denn bisher erreicht? Sei man etwa demjenigen, der diesen Anschlag auf ihn ausgeführt habe, auch nur einen Schritt nähergekommen? Nicht einmal Personenschutz habe man ihm zugebilligt, for God’s sake! Winter könne ihm doch nicht erzählen, dass diese sogenannte Rekonstruktion irgendetwas bringen würde. Sie seien bei der Polizei doch alle Dilettanten. Der Staat solle als Kriminalpolizisten besser Wissenschaftler einstellen, Archäologen, Historiker, die in der Technik der Abduktion und Deduktion geübt seien, statt irgendwelche Idioten mit Sportabzeichen.

Winter musste an sich halten, Grafton nicht zu fragen, ob er denn mit «Wissenschaftler» Leute wie sich selbst meine, die bei Datierungen mal eben ein paar tausend Jahre auf das korrekte Ergebnis draufsattelten, um berühmt zu werden, und die dann Nachwuchsforschern, denen dies auffiel, die Karriere vermasselten.

Grafton wusste nicht, dass sie die Schädel aus seinem Schrank hatten datieren lassen. Und er ahnte nicht, wie gut Winter über die Vorgeschichte des Einbruchs durch André Bründl informiert war. Winter hatte hierzu keinerlei Informationen an die Öffentlichkeit gegeben, um Bründl zu schützen. Der Presse hatte man gesagt, dass der Verletzte im Dauerkoma liege. Winter hatte nicht vor, Grafton zu verraten, dass sich das geändert hatte. Ebendeshalb sollte Grafton bei der Rekonstruktion auch nicht dabei sein.

Als Grafton polternd bei seinem definitiven Nein gegen die Rekonstruktion blieb, griff Winter zum letzten Mittel. «Gut. Sie wollen uns also bei der Aufklärung des Falles nicht unterstützen. Daraus muss ich jetzt meine Konsequenzen ziehen. Ich wollte Sie bisher schonen, weil ich im Gegensatz zu meinen Kollegen der Meinung war, dass Sie nichts mit den Verbrechen zu tun haben. Aber wenn Sie mir so kommen, dann werde ich jetzt doch einen Haftbefehl beantragen. Es besteht der Verdacht, dass Sie Ihre Putzfrau und Ihren ehemaligen Studenten beseitigen wollten, um wissenschaftliche Fälschungen zu vertuschen. Und denken Sie bloß nicht, dass Sie sich der Verhaftung durch Flucht entziehen können. Sie stehen sowieso die ganze Zeit unter Observation. Deshalb war der Personenschutz auch überflüssig.»

Diese Taktik war hochriskant, aber Winter musste sie jetzt durchziehen. «Auf Wiedersehen dann», sagte er, stand auf, drehte sich um und ging. Er war noch nicht bei den Flügeltüren des Arbeitszimmers angekommen, da rief ihm Grafton hinterher: «Herr Kommissar, Moment mal, nun seien Sie doch nicht so empfindlich.»

Jetzt hatte Winter ihn in der Tasche. Sie verabredeten die Rekonstruktion für den morgigen Donnerstag. Winter hatte die Ärzte schon überredet, Bründl trotz seiner wohl noch immer schweren Verletzungen «ausnahmsweise» vor die Tür zu lassen. Es konnte Winter nicht schnell genug gehen, er konnte sich nicht von dem Gefühl einer drohenden Gefahr befreien, der er zuvorkommen müsse. Diese Andrea Vogel, die ins Beuteschema des Täters passte und möglicherweise das nächste Opfer war, hatte er unter ihrer Handynummer noch immer nicht erreicht. Und eine Festnetznummer war bei der Telekom nicht verzeichnet.

Grafton und seine Frau, so vereinbarten sie, würden morgen um neun den Schlüssel übergeben und sich dann bis nachmittags um drei nicht zeigen.

Nun allerdings würde Winter wirklich seine paar Leute für eine Rund-um-die-Uhr-Observation des Professors missbrauchen müssen. Grafton war ja jetzt gewarnt, welcher Verdacht gegen ihn bestand. Dass er floh, konnte Winter nicht riskieren. Und die Staatsanwaltschaft hatte sich gegen einen Haftbefehl ausgesprochen.

***

Winter verspürte eine leichte nervöse Aufregung am Morgen der Rekonstruktion, so wie vor den Vorträgen, die er manchmal als Dozent bei Fortbildungen halten musste. Irgendetwas würde sich heute entscheiden.

Bründls Stationsarzt hatte sie ermahnt, der Patient dürfe sich wegen des ausheilenden Schädel- und Genickbruchs und der Lungenverletzung nur langsam und vorsichtig bewegen. Keine Sprünge, kein Laufen, und um Himmels willen aufpassen, dass er sich nirgends den Kopf stieß. Vom SoKo-Team war bei der eigentlichen Rekonstruktion nur Aksoy dabei. Glocke schlief sich zu Hause aus, Musso hatte von ihm den Stab bei der Observierung von Grafton übernommen, und Ziering war auf dessen Frau angesetzt, falls die sich von ihrem Mann entfernte. Es ging nicht nur um Fluchtgefahr; es musste auch sichergestellt sein, dass das Ehepaar Grafton nicht von irgendwoher die Szenerie beobachtete und Bründl erkannte, während er aus dem Krankentransporter stieg.

Winter hatte einen Mietwagen besorgt, vom selben Typ, wie Bründl ihn in den Wochen vor seinem unbefugten Eindringen bei Grafton benutzt hatte, höchstwahrscheinlich sogar den identischen Wagen. Die Limousine hatte Winter im Kettenhofweg gegenüber der Villa geparkt. Es hatte etwas Lächerliches, dieses magische Heraufbeschwören eines vergangenen Tages mittels irgendwelcher Requisiten. Doch als Winter ein erschrockenes Wiedererkennen des Mietwagens in Bründls Gesicht wahrnahm, wusste er, dass es richtig gewesen war, die Mühe und die Kosten dafür nicht zu scheuen.

Er ließ Bründl sich in den Wagen setzen. «Wie sind Sie hergefahren an dem Tag?»

«Über die Senckenberganlage, wie sonst», erklärte Bründl. Der Kettenhofweg war eine Einbahnstraße. «Und ich hab dann da drüben direkt vorm Haus geparkt, damit ich möglichst schnell Richtung Schumannstraße wegfahren kann.»

Genau da hatten sie am Tag nach dem Verbrechen tatsächlich den Mietwagen gefunden. Na bestens, da hatten Sie Bründls Erinnerung ja schon etwas auf die Sprünge geholfen.

Winter befahl Bründl, den Wagen an seinen damaligen Parkplatz zu manövrieren und auszusteigen. Auf dem Beifahrersitz hatten sie die blaue Sporttasche bereitgelegt, darin die Utensilien, die Bründl damals dabeigehabt hatte und die bei der Hausdurchsuchung verstreut über die Villa gefunden worden waren: ein Bohrer und gepolsterte Kartons für die zu stehlenden Schädel.

Mit der Tasche über der Schulter musste Bründl nun aus dem Wagen steigen. Hilflos sah er Winter an.

«Tun Sie einfach das, was Sie denken, an dem Tag getan zu haben», munterte Winter ihn auf. Der junge Mann ging langsam und zögerlich den Bürgersteig entlang, öffnete die angelehnte Zauntür zum Grafton’schen Grundstück und nahm den Weg zur Tür der Villa. Winter schlenderte hinterher. Oben auf den Eingangsstufen angekommen, sagte Bründl, als wäre er selbst erstaunt: «Ich hab nicht geklingelt. Die Tür stand offen.»

Die Tür stand offen? Winter sah unwillkürlich vor seinem inneren Auge die offenstehende Haustür des Vogel’schen Hauses in Kalbach vor sich.

«Ich glaube, damit der Boden trocknet», sagte Bründl nun allerdings. «Die Fliesen im Vorflur waren nass. Bestimmt hat sie deshalb die Tür offen stehen lassen. Die Putzfrau, mein ich. Und ich hab mir gedacht, ich schleich mich rein. Ich hab gehofft, sie kriegt es dann gar nicht mit, dass ich da bin. Ich musste ja nur ganz kurz bohren, und so ein Bohrgeräusch kann von überall her kommen. Wenn sie’s gemerkt hätt, hätt ich mich immer noch als Doktorand vorstellen können. – Scheiße.» Er drehte sich zu Winter um. «Jetzt ist es klar, oder? Die hat auf mich geschossen, weil sie dachte, ich bin ein Einbrecher und Angst vor mir hatte. Ich bin selber schuld.»

«Die Putzfrau hat auf Sie geschossen?»

«Keine Ahnung, oder wer auch immer sonst im Haus war, vielleicht ist die Frau Grafton früher zurückgekommen.»

«Machen wir einfach weiter», schlug Winter vor. Aksoy hatte unterdessen von innen die Tür geöffnet und sich wieder verzogen.

Bründl betrat das Haus vorsichtig. Man merkte ihm an, dass es ihm unheimlich war, hier zu sein. Er schlich sich durchs Vestibül zur Treppe, stieg mühsam in den ersten Stock und betrat das Zimmer, in dem der berühmte «Giftschrank» stand. Sie hatten es auf die Spitze getrieben und dem «Giftschrank» eine neue Tür verpasst, sodass Bründl ihn wie am Tattag aufbohren konnte. Winter würde es höchstpersönlich verantworten müssen, wenn bei der ganzen teuren Aktion nichts herauskam.

Mit leerem Ausdruck tat Bründl, was von ihm verlangt wurde, bekam sehr schnell den Schrank auf, verstaute die Schädel in der Sporttasche und hängte sich die volle Tasche über die Schulter. (Sie hatten auch die Knochen wieder in den Schrank geräumt, die sie ohnehin zurückgeben mussten.) Dann schritt Bründl mit höchst zweifelndem Blick zurück zur Treppe. Er stieg sie ganz hinunter, bis er im Vestibül angekommen war. Dort drehte er sich zu Winter um, der hinterherkam.

«Keine Ahnung», sagte Bründl, «ich kann mich nicht erinnern. Wo ist es passiert?»

Das war es dann wohl. Winter zeigte Bründl die Stelle, wo er sich ungefähr auf der Treppe befunden haben musste, als er angeschossen wurde. Bründl stieg hoch und stand dort fünf Minuten, ohne dass ihm eine Erleuchtung kam.

Sie hatten bis drei Uhr Zeit und wiederholten den gesamten Ablauf, zweimal, dreimal, viermal. Aber in Bründls Gedächtnis regte sich nichts. Das Letzte, woran er sich erinnern könne, sei die offene Haustür. Er wiederholte noch mehrfach seine Annahme, dass es die Putzfrau gewesen sei, die auf ihn geschossen habe; dies sei aber keine Erinnerung, sondern bloß eine Vermutung. Winter fragte sich, ob nicht doch eine unbewusste Erinnerung dahintersteckte.

Als er Bründl zu seinem Krankentransporter brachte, sagte der junge Mann wie entschuldigend: «Haben denn die Kinder nichts mitbekommen?»

«Welche Kinder?», fragte Winter hellwach.

«Na, die Kinder der Putzfrau. Die hatte sie dienstags immer dabei.»

Winter starrte ihn an.

«Auch an dem Dienstag?»

«Keine Ahnung, aber ich nehm’s an.»

Aksoy hatte das mitgehört. Als Bründl weg war, sagte sie: «Ich kümmere mich gleich drum, dass wir die Tamm-Kinder befragen, okay? Wie blöd von uns, wir haben gedacht, die können nichts wissen. Aber wenn die wirklich dabei waren … mein Gott. – Bei der Gelegenheit, Andi: Als wir am Wochenende beim Haus der Vogels waren, ist mir noch so eine verworrene Idee gekommen. Was, wenn der Täter die ganze Familie Vogel umbringen wollte? Und die Kinder nur überlebten, weil sie sich versteckt hatten? Sie hatten doch gesagt, sie hätten sich versteckt. Und dann hat ihn vielleicht das Geräusch des Motorradfahrers draußen aufgeschreckt, und er ist abgehauen. Das bringt uns zwar nicht weiter. Aber vielleicht sollten wir die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Vogel-Mädchen noch in Gefahr sein könnten.»

Auf der Fahrt zurück ins Präsidium saß Winter am Steuer, während Aksoy neben ihm per Freisprechanlage bei Carsten Tamm anrief, dem Ehemann der ermordeten Putzfrau. Ob seine Frau am Tattag die Kinder mit zur Arbeit genommen habe?, fragte sie.

Nein, am Tattag nicht. Jedenfalls seien sie zu Hause gewesen, als er zurückkam.

«Von wo sind Sie denn zurückgekommen?»

«Ich war beim Arzt. Beim Professor Heumann in der Uniklinik. Der ist Diabetologe.» Natürlich, sein Alibi. Das hatte er schon erzählt, als sie letzte Woche bei ihm waren. Und Aksoy hatte es längst mit der Klinik gegengecheckt. «Wir müssten dringend die Kinder befragen», sagte sie. «Ist das möglich?»

Bei Kindern brauchten sie die Zustimmung eines Sorgeberechtigten. Selbst in so einem Fall. «Von mir aus», sagte Tamm. «Da müssen Sie sich aber beim Jugendamt melden, ich hab die Kinder doch nicht mehr. Ist ja auch besser so.»

Unglaublich, wie locker er das nahm. Über seine Kinder sprach er wie über einen wegen Alkoholismus vernünftigerweise abgegebenen Führerschein. Aksoy dachte an die Vogel-Mädchen, die nach dem Tod der Eltern von beiden Großmüttern im Stich gelassen worden waren. Sie dachte an ihre eigenen Kinder, deren Vater sich seit einem Dreivierteljahr nicht mehr hatte blickenlassen. Wahrscheinlich, weil es ihm selbst zu weh tat. Aber das machte für die Kinder keinen Unterschied.

***

Die letzten Tage waren für Andrea extrem stressig gewesen. Erst Ullis krasse Entdeckung in Merles Bilderkiste. Okay, damit kamen sie zurecht. Sie hatten ja immer gewusst, dass sie bei den Kindern psychische Heilarbeit leisten mussten. Vielleicht war es gut, dass sie jetzt besser informiert waren, welche Katastrophe es hier zu verarbeiten galt. Ulli hatte am Montag nach dem Fund lange mit Merle gesprochen, und Merle hatte unter Tränen den Verdacht bestätigt und eine Geschichte erzählt, die entsetzlicher nicht sein konnte.

Sie brauchten jetzt alle miteinander Ruhe und Stabilität. Doch die ließ ihnen die Großmutter der Kinder nicht. Frau Pfister rief wieder und wieder an. Erst hatte sie versucht, Andrea zu überreden, die Kinder mit Sack und Pack in ihr Dorf bei Lauterbach zu fahren und ihr zu überlassen, einfach so. Dabei hatte sie ja noch nicht einmal mit dem Jugendamt kommuniziert. Als der alten Frau klarwurde, dass es so einfach nicht funktionieren würde, wünschte sie «nur» noch einen Besuch der Kinder bei ihr. Doch auch davor schreckte Andrea zurück. Sie hatte Angst, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, verdächtigte die Frau, etwas zu planen, das sie und Ulli vor vollendete Tatsachen stellen würde. Oder würden etwa die Kinder sich in der vertrauten Umgebung der großelterlichen Wohnung plötzlich so sehr zu Hause fühlen, dass sie dableiben wollten? Würden sich die Kinder am Kaffeetisch der Großmutter überhaupt trauen, nein zu sagen, falls die Großmutter die Mädchen direkt fragte, ob sie zu ihr wollten?

Andrea ließ sich schließlich auf einen Kompromiss ein. Ein Besuch Frau Pfisters in Frankfurt, wie sie ihn ohnehin verabredet hatten, nur früher als geplant.

Donnerstagnachmittag war es so weit. Es klingelte, und einige Minuten später stand eine schnaufende ältere Dame vor der Tür, der Schweiß über das gerötete Gesicht lief. Die fünf Stockwerke Treppen bis unters Dach hatten sie offenbar sehr angestrengt. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Andrea, dass Frau Pfister schweres Gepäck dabeihatte: Neben einem militärisch wirkenden Leinenrucksack trug sie eine Art Umhängetasche, im selben Khakigrün wie der Rucksack, die von der länglichen Form her anscheinend ein Musikinstrument beherbergte.

«Guten Tag», sagte Frau Pfister gehetzt und ohne ein Lächeln.

«Hallo», sagte Andrea und deutete auf die Tasche. «Sie haben den Kindern wohl ein Geschenk mitgebracht?»

Frau Pfister schluckte, bevor sie «Jawohl» sagte.

Irgendetwas stimmt nicht mit der Frau, dachte Andrea.

Laut sagte sie: «Die Kinder haben sich anscheinend gerade verkrümelt. Kommen Sie doch erst mal mit ins Wohnzimmer.»

Die Mädchen waren den ganzen Morgen aufgedreht und schwierig gewesen, schwankend zwischen Freude und Nervosität angesichts des ersten Wiedersehens mit ihrer Großmutter nach der Katastrophe. Als es klingelte, waren sie in Merles Zimmer gerannt.

«Ich möchte aber die Kinder sehen», sagte Frau Pfister steif.

«Das wird Ihnen auch niemand verwehren», sagte Andrea schnippisch. Hinter ihr hörte sie, wie sich eine Tür öffnete. Die Kinder wagten sich jetzt doch hervor, Wolke vorsichtig und großäugig vorneweg, ihren rosa Hasen im Arm, was bei ihr Unsicherheit anzeigte. Dann nahm sich Merle ein Herz. «Oma, Oma», rief sie halblaut und preschte vor. Frau Pfister betrat den langen Flur, der mit einem schwarz-weiß quergestreiften Designer-PVC ausgelegt war. Den PVC hatten Andrea und Ulli wie alle anderen Bodenbeläge in der Wohnung von den unkonventionellen Vorbesitzern geerbt.

Die Großmutter stand stocksteif da, während sich Merle an sie drückte und ihr Gesicht im Stoff des Pullovers der alten Frau verschwinden ließ. Nach einem langen Moment legte Frau Pfister ihre Hand auf den Kopf des Mädchens, ließ aber bald wieder los, um auch Wolke zu tätscheln.

«Ich wäre gern mit den Mädchen allein», sagte sie nun würdevoll zu Andrea. Zu den Kindern hatte sie noch kein Wort gesprochen.

Andrea stieg die Hitze ins Gesicht. Irgendwie lief das alles beinahe so schlecht, wie sie es sich in ihren Albträumen ausgemalt hatte. «Fürs erste Mal wäre ich eigentlich lieber dabei», hörte sie sich sagen. (Dass sie das nötig hatte!) «Ach, kein Problem», schob sie abschwächend hinterher. «Aber gehen wir doch erst mal ins Wohnzimmer, ich hab was zu essen vorbereitet, Sie müssen ja Hunger haben.»

Frau Pfisters Ausdruck war nicht zu deuten.

«Es tut mir leid, ich habe keinen Hunger», sagte sie.

Andrea hatte auch keinen. Natürlich nicht. Sie war viel zu angespannt. «Vielleicht kommt der Hunger noch», sagte sie, bemüht um einen fröhlich unbeschwerten Ton. «Gehen wir trotzdem ins Wohnzimmer, ich bin gespannt, was Sie den Kindern da mitgebracht haben. Es sieht fast aus wie eine Geige.»

«Wo ist denn euer Zimmer?», fragte Frau Pfister Merle, als hätte sie Andrea nicht gehört. Merle nahm ihre Großmutter an der Hand. Andrea ging entschlossen hinterher. Da drehte sich Frau Pfister mit einem harten Blick zu ihr um. «Gut, dann zeigen Sie mir aber bitte zuerst die Toilette.»

«Hier rechts, gleich die erste Tür», sagte Andrea. Frau Pfister ließ Merles Hand los und verschwand mit ihrem gesamten Gepäck hinter der Klotür. Die Kinder gingen vor in Merles Spielzimmer. Andrea aber stand im Flur, hörte auf die Klogeräusche, die Frau Pfister hinter der Tür produzierte, und konnte sich von dem albtraumhaften, unwirklichen Gefühl nicht befreien. Sie wünschte, Ulli wäre da. Aber die war noch bei der Arbeit, hatte heute nicht schon wieder freibekommen können.

Endlich kam Frau Pfister wieder hinter der Tür hervor. Andrea brauchte einen Moment, bevor sie deuten konnte, was sie da sah. Frau Pfister zielte mit einem zweiläufigen Gewehr direkt auf ihr Gesicht. «Sie wollten es ja nicht anders», sagte die alte Frau tadelnd. «Nehmen Sie die Hände hoch und gehen Sie in ein Zimmer, das man abschließen kann.»

Andrea hob langsam die Hände. Nach der Schrecksekunde ratterte es in ihrem Gehirn. Sie drehte sich um und bewegte sich langsam auf die Küche zu, die auf der anderen Seite der Wohnung lag. Von dort aus ging sie ins Arbeitszimmer, das keine Tür zum Flur hatte.

In dem Moment, als Frau Pfister die Arbeitszimmertür hinter ihr schloss und den Schlüssel umdrehte, schrie Andrea los, so laut, wie sie konnte: «Versteckt euch! Versteckt euch! Hilfe, Hilfe!» Sie schrie immer weiter. Unter Ulli und Andrea wohnte ein Arzt, der im Erdgeschoss seine Praxis hatte. Wahrscheinlich war in der Privatwohnung jetzt niemand. Aber das Haus war wegen der alten Holzdecken hellhörig, vielleicht drang Andreas Schreien weiter nach unten.

Nach einer knappen Minute hörte Andrea auf zu schreien und spitzte die Ohren. Um sie herum war alles still. Leise und vorsichtig öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Sie hatte Frau Pfister ausgetrickst. Das Arbeitszimmer, in das sie sich hatte «einschließen» lassen, weiß gestrichen und mit hellblauem Linoleum ausgelegt, war das «halbe Zimmer» der Wohnung, ein Eckzimmer und Durchgangsraum zwischen Küche und Wohnzimmer mit einem winzigen Gaubenfenster. Die zweite Tür hatte Frau Pfister nicht entdeckt, weil sie von der Küche aus gesehen von einem Bücherregal verdeckt wurde.

Die freigelegten Dielen im Wohnzimmer knarrten leise. Hoffentlich hörte die Pfister es nicht. Andrea wollte der bewaffneten Verrückten nicht gegenübertreten. Was hätte sie schon erreichen können? Ihr Ziel war das Telefon, das im Flur stand. Als Andrea langsam schleichend endlich die offene Tür zum Flur erreichte, lag der Telefonanschluss ihr direkt gegenüber. Doch die Telefonschnur war herausgerissen. Das Ende der Schnur schlängelte sich vor der offenen Toilettentür auf dem PVC-Boden. Frau Pfister hatte die Basisstation des Telefons in die Kloschüssel geworfen.

Wo war das Handy? In der Küche. Um dort hinzukommen, musste Andrea ein Stück durch den Flur.

Aus einem der Kinderzimmer kam plötzlich Lärm, als ob jemand mit Möbeln um sich warf. Andrea wagte sich einen Schritt vor. Eine lose Diele unter dem Flur-PVC knarrte laut. Andrea hatte ihren Schrecken über das Geräusch noch nicht verwunden, da hatte es die alte Frau ebenfalls gehört, tauchte aus Merles Spielzimmertür auf, riss das Gewehr in Andreas Richtung und murmelte irgendwas. Andrea hörte einen Schuss, während sie sich schnell wieder ins Wohnzimmer zurückzog. Doch ihre Reaktion war zu langsam. Gerade als sie es geschafft zu haben glaubte, spürte sie einen Schlag an ihrer linken Hand. Sie warf einen Blick darauf, starrte ungläubig auf ein Loch im Bereich zwischen Daumen und Zeigefinger. Das konnte nicht ihre Hand sein. Sie musste eine Sehstörung haben. Da spürte sie plötzlich einen starken Druckschmerz, der immer schärfer wurde, und nun nahm sie auch das Blut wahr, das auf den Boden troff. Sie floh ins Arbeitszimmer, doch als Andrea mit der gesunden rechten Hand die Arbeitszimmertür hinter sich zuzog, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte, denn auf dieser Seite konnte sie nicht abschließen, und auf der Küchenseite konnte sie nicht raus. Sie saß in der Falle. Mit der rechten Hand hielt Andrea die Klinke fest, während sie die schreckliche alte Frau durchs Wohnzimmer herbeilaufen hörte. Andrea zitterte am ganzen Körper, und die Hand, die die Klinke hielt, fühlte sich schwach und schweißnass an. Mit zusammengebissenen Zähnen und der Kraft der Todesangst umklammerte sie die Klinke, als Frau Pfister von außen daran rüttelte. Im Hintergrund hörte sie die Kinder kreischen. «Lauft raus», schrie Andrea, «lauft raus!» Das Gerüttel an der Klinke stoppte abrupt, und Andrea hörte Frau Pfister nun durchs Wohnzimmer zurück in den Flur eilen, wahrscheinlich, um die Kinder am Weglaufen zu hindern.

Andrea atmete kurz auf, ließ die Klinke los und warf einen Blick auf ihre verletzte Hand. Warmes Blut lief in einem durchgehenden Strom auf den Boden. Verdammt. Sie würde doch nicht verbluten? Diese Frau Pfister war eindeutig verrückt. Genauso verrückt wie ihre Tochter Sabrina. Was würde die Frau mit den Kindern machen, wenn sie sie mitnahm? Und das war ja wohl ihr Ziel. Sie hörte Wolke in der Ferne wimmern. Andrea hätte am liebsten geschrien, aber beherrschte sich. Da! Ein Schuss. Ein Kreischen. Sie wusste nicht, ob von Merle oder von Wolke. Andrea vergaß alle Vorsicht, riss mit der gesunden Hand die Tür zum Wohnzimmer auf und stürmte hindurch. Sie musste den Kindern helfen. Da kam ihr schlagartig eine Idee. Sie hatten ja eine Waffe im Haus! Oder jedenfalls etwas, das so aussah. Sie raste zurück ins Arbeitszimmer, stellte den Stuhl vors Regal und kramte blind auf dem obersten Brett herum, bis sie an den Schuhkarton heran war. Er war zu schwer, um ihn mit einer Hand herunterzuheben, sie schob einfach, bis er mit einem erstaunlich leisen Geräusch auf den Linoleumboden fiel, sie selbst torkelte vom Stuhl, ihr war jetzt sehr schwindelig, sie riss den Deckel von dem Karton und griff nach der schweren Handfeuerwaffe darin. Das Ding war natürlich nicht geladen. Aber etwas Besseres hatte sie nicht da, und ihr Ziel war ja sowieso nicht, wirklich damit zu schießen, sie musste nur verdammt noch mal die Kinder schützen. Ohne jeden Plan, mit schwarzen Flecken vor den Augen und pochender, vor Schmerz brüllender Hand rannte Andrea mit der Waffe in Richtung Kinderzimmer. Wolkes Zimmer mit den Betten war leer. Andrea raste nach nebenan in Merles Spielzimmer. Es war das Falscheste, was sie hätte tun können. Die verrückte Großmutter stand mit dem Rücken zur Tür und hatte ihr Gewehr auf einen Berg von Kisten in einer Ecke angelegt, hinter denen sich die Kinder verschanzt hatten. In demselben Augenblick, in dem die alte Frau Andreas Schritte hinter sich hörte, schoss sie. «Halt», schrie Andrea außer sich, stürzte sich von hinten auf die Verrückte und riss sie am Arm herum, während sich ein weiterer Schuss löste und eins der Kinder ein helles Kreischen hören ließ. Andrea setzte der Frau ihre Pistole direkt auf die Brust. Fast war es erleichternd, der Feindin Auge in Auge gegenüberzustehen. Mit ihrem langen, schlecht manövrierbaren Schießprügel war die Verrückte jetzt im Nachteil, jedenfalls wenn man nicht berücksichtigte, dass Andreas Waffe nicht geladen war. Die Brust der Frau hob und senkte sich. «Lassen Sie die Waffe fallen», sagte Andrea mit einer Reibeisenstimme, die ihr nicht zu gehören schien. Die alte Frau sah sie aus wässrigen Augen an, streckte beide Arme nach unten, als wolle sie das Gewehr auf den Boden legen. Doch dann drehte sie es ganz herum, verrenkte sich, schob sich beide Läufe in den Mund und drückte ab. Jetzt schrie Andrea zusammen mit den Kindern aus voller Kehle. Ohne einen Blick auf die zusammenbrechende Frau Pfister zu werfen, ließ Andrea ihre Waffe fallen und stürzte sich auf die Kisten in der Ecke, unter denen sie eine blutüberströmte, leichenblasse Merle und eine leise wimmernde Wolke hervorzog, die unverletzt geblieben war. Merle hatte sich schützend auf sie gelegt.

Andrea ignorierte ihre verletzte Hand, nahm Merle mit beiden Armen hoch, griff sich Wolke gleich dazu mit einer Kraft, von der sie kaum glauben konnte, dass sie sie noch besaß, und schleppte beide Kinder aus dem Raum, wobei sie sich bemühte, die schrecklichen Überreste der Großmutter nicht anzusehen. Mit letzter Kraft schleppte sie die Kinder durch den Flur in die Küche, wo sie die Mädchen am Boden ablud, sich das Handy von der Arbeitsplatte schnappte, selbst am Boden neben den beiden niedersank und den Notruf wählte. Andrea schaffte es noch, ihre Adresse durchzugeben und dass es Verletzte gab. Dann verlor sie das Bewusstsein.

***

Als sie von Grafton zurückkamen, rückte in der Tiefgarage gerade ein ganzer Trupp zum Einsatz aus. Neben dem Aufzug stand Aksoys alter KDD-Kollege Falk Binz und rauchte. Er und Aksoy begrüßten sich. «Weißt du, weshalb die eben raus sind?», fragte sie. «Notruf», erläuterte Binz. «Mehrere Verletzte bei einer Schießerei irgendwo in Höchst. Ein Anruf kam von den Nachbarn. Kuriose Sache irgendwie. Da soll wohl eine Familie in ihrer Wohnung von irgendeiner Oma mit ’ner Knarre überfallen worden sein.»

Winter und Aksoy sahen sich an. «Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke», sagte Winter. Noch vom Aufzug aus rief er in der Zentrale an. Zu «Oma mit ’ner Knarre» fiel ihm leider sehr eindeutig nur eine bestimmte Person ein. Zwar hatten sie Frau Pfister wohlweislich ihren geliebten Revolver noch nicht zurückgegeben, und Winter hatte sogar unrechtmäßigerweise den Schlüssel zum Waffenschrank wieder einbehalten. Aber es gab im Pfister’schen Haus ja noch weitere Waffen: Die beiden alten Jagdgewehre, die im Wohnzimmer die Wand zierten. Wenn man sie gut putzte, waren sie wahrscheinlich noch funktionsfähig.

Die Zentrale wusste nichts von einer Frau Pfister. Die Anruferin allerdings, die den Notruf getätigt hatte, die hieß ausgerechnet Vogel. Andrea Vogel.

«Geht ihr rein und haltet euch bereit», sagte Winter zu den anderen. «Ich muss da jetzt hin.»

Er fühlte sich unendlich schlecht. Was auch immer passiert war, er war schuld.

Im Gehen drehte er sich noch mal um. «Hilal? Versuch rauszukriegen, wo die Tamm-Kinder und die Vogel-Kinder jetzt sind. Und zwar schnellstens. Mach die platt im Jugendamt, wenn sie wieder nichts rausrücken.»

***

Es war die Zeit am Tag, zu der sich auf der Mainzer Landstraße der Berufsverkehr kolonnenweise stadtauswärts schob. Winter hatte auf der Fahrt nach Höchst genügend Zeit zum Nachdenken. Vor der Notrufadresse, einem einzeln stehenden, großen, schmucklosen alten Haus an der vielbefahrenen Gabelung von Mainzer- und Bolongarostraße, sprach er kurz mit dem Kollegen, der die Absperrung bewachte, und erfuhr das Wichtigste. Eine Tote und zwei Verletzte, darunter ein Kind lebensgefährlich. Warum um Gottes willen war es ihm nicht gelungen, das zu verhindern? Denn dass ein Zusammenhang mit «seinen» Fällen bestand, daran zweifelte er keine Sekunde.

Oben, in einer verwinkelten, unkonventionellen Dachwohnung ganz ähnlich seiner eigenen, fand er in der Küche eine leichenblasse, sportliche dunkelhaarige Frau Ende dreißig vor, die ein etwa dreijähriges weißblondes Mädchen auf dem Schoß hielt. Vielmehr, die sich an dem Mädchen festhielt. So wie das Mädchen sich seinerseits an einem rosa Plüschhasen festhielt.

Winter war nicht erstaunt, dass er das Mädchen kannte.

«Du bist die Wolke, stimmt’s?», sagte er. Die Kleine nickte kaum merklich.

«Andreas Winter, Kripo», stellte er sich der Frau vor. «Sie sind Andrea Vogel?»

Die Frau schüttelte den Kopf. Es fiel ihr offensichtlich schwer, sich zusammenzureißen und normal zu antworten. «Nein», sagte sie. «Ich heiße Ulrike Stamitz. Ich bin die Lebensgefährtin von Andrea. Andrea ist im Krankenhaus.» Sie warf einen Blick auf den großen Blutfleck auf den Fliesen vor dem Küchenblock.

«Andrea ist also die leichtverletzte Frau, von der mir die Kollegen erzählt haben», schloss Winter. «Sagen Sie, Frau Stamitz, ist Ihre Lebensgefährtin Andrea Vogel mit Merle und Wolke Vogel verwandt?»

«Nein.» Ulrike Stamitz sah so hilflos aus, als wisse sie nicht, wie sie Winter die Verhältnisse begreiflich machen solle. «Nein, also, die Namensgleichheit ist zufällig, so wie Andrea auch zufällig aus der Gegend von Lauterbach kommt, wo die Kinder … wo die leibliche Mutter der Kinder auch her war. Diese Zufälle waren einer der Gründe, warum wir uns so schnell für die Kinder entschieden haben. Es kam uns wie Schicksal vor. Die beiden sind unsere Pflegekinder, und wir werden sie hoffentlich auch bald adoptieren. Hoffentlich alle beide. Weil doch Merle jetzt … es geht ihr sehr schlecht. Wir wissen noch nicht …»

Sie war völlig außer sich, Tränen strömten über ihr Gesicht. «Ich weiß», sagte Winter. «Können Sie mir berichten, was hier heute abgelaufen ist?»

«Nur halb. Ich war ja nicht da. Ich war noch auf der Arbeit, als es passiert ist, und als ich eben zurückkam, da – ich dachte – o Gott. Also, da war schon alles vorbei. Ich weiß bloß, heute sollte diese Frau Pfister zu Besuch kommen, die Oma der Kinder, und ich habe eben kurz mit Andrea im Krankenhaus telefoniert, und Andrea sagt, die Frau hat plötzlich ein Gewehr rausgeholt und fing an, um sich zu schießen. Und am Ende hat sie wohl …» Ihre Stimme stockte, sie blickte auf Wolke, in deren Gegenwart sie nicht alles aussprechen wollte.

Winter nickte. «Okay, ich weiß, Frau Pfister hat die Waffe am Schluss gegen sich gerichtet.»

«Andrea dachte erst, sie will die Kinder entführen. Es könnte sein, dass es um einen Sorgerechtsstreit ging. Die Frau Pfister hat uns am letzten Samstag gesagt, dass sie die Kinder jetzt zu sich nehmen will. Das war uns nicht recht, weil sich die Frau Pfister lange nicht um die Mädchen gekümmert hatte, und die Kinder schienen es auch nicht zu wollen. Es war gerade schön, so wie es war. Ich nehme an, dass es irgendwie darum ging. Aber die Frau muss doch verrückt sein.»

«Ja, ein bisschen verrückt war sie sicher. Wie sehr, das wird sich noch herausstellen.» Winter war sich in der Tiefe seines Herzens sicher, dass Gunhild Pfister voll schuldfähig war, egal, welche wilden Motive sie antrieben. Er hatte oft genug mit ihr gesprochen. Sie konnte zweifellos moralisch einschätzen, was sie tat. Aber da sie nun tot war, hatte sie sich einem Strafprozess ja entzogen. Er sah ihr Gesicht vor sich, wie sie stolz zu ihm sagte: «Ich gebe den Gnadenschuss.» Nun hatte sie es bei sich selbst getan.

Winter ließ Ulrike Stamitz und die kleine Wolke alleine, wanderte durch die Wohnung, die spartanisch und sehr zusammengewürfelt eingerichtet war. Die Leiche tat er sich nur mit wenigen Blicken an. Vom Kopf war nicht mehr viel übrig. Schmerzlos und wildbretschonend. In der Ecke des Zimmers lagen zusammengewürfelte Plastik- und Holzkisten, auf dem Boden darunter Blut. Merles Blut? Winter ahnte, dass sich die Kinder hinter den Kisten vor der Großmutter hatten verstecken wollen. Das doppelläufige Jagdgewehr, das die Tote benutzt hatte, lag halb auf der Leiche. Zu Füßen der Toten und zu seinen eigenen lag aber noch eine Waffe. Ein großer, stählerner Revolver älterer Bauart.

Endlich, dachte Winter, bückte sich, malte Kreide um das Fundstück, zog Handschuhe an und tütete es ein. Sein Gehirn ratterte. Konnte es wirklich sein, was er jetzt ahnte? Von hinten hörte er Leute kommen, erkannte Freimanns Stimme: Der Erkennungsdienst war da. Er konnte gehen. Und das würde er auch. Er musste nachdenken.

Er besprach sich kurz mit Freimann, ging dann noch einmal in die Küche zurück, wo er dasselbe Bild vorfand wie vorhin. «Frau Stamitz, ich muss Sie für morgen früh zu einer Aussage ins Präsidium bitten. Sie können Wolke ruhig mitbringen. Irgendjemand bei uns wird sich so lange um die Kleine kümmern.» Mit «irgendjemand» hatte er Hilal Aksoy im Sinn, die Wolke schon kannte. Winter hoffte bloß, dass Hilal sich nicht in ihrer Feministinnenehre gekränkt fühlen würde, wenn sie als Kindermädchen missbraucht wurde.

«Sie haben ja keine Ahnung, wie schlimm das für die Kinder ist», sagte Ulrike Stamitz mit trostlosem, weinerlichem Ton.

Winter setzte sich. «Doch, Frau Stamitz, glauben Sie mir, das habe ich.»

«Nein, Sie wissen ja nicht, was den Kindern schon alles passiert ist. Diese Wohnung sollte ein sicheres Nest für sie sein, hier sollten sie sich geborgen fühlen.»

«Das wird bestimmt wieder. Frau Pfister kann ihnen jetzt nichts mehr tun. Und Kinder kommen oft schneller über ein traumatisches Erlebnis hinweg als Erwachsene.»

«Wenn Merle es überhaupt schafft», murmelte Frau Stamitz.

Winters Handy klingelte, es war Hilal Aksoy.

«Bist du noch in Höchst?», fragte sie.

«Ja, aber ich bin gerade auf dem Sprung.»

«Ich bin jetzt auf dem Weg dahin. Nach Höchst. Bleibst du noch so lange da? Ich müsste kurz mit dir reden. Es ist wichtig.»

Was es wohl war, was sie nicht am Telefon sagen wollte? «Okay», sagte Winter, «ich warte auf dich.»

In der Zwischenzeit rief er im Höchster Krankenhaus an, erkundigte sich nach Merles Zustand. Kritisch, hieß es. Eine Kugel hatte ihre Hüfte zertrümmert, und dann hatte sie noch einen Streifschuss an der Halsschlagader abbekommen. Letzterer war im Moment das Hauptproblem. Sie hatte sehr viel Blut verloren und eine Art Schlaganfall deshalb erlitten.

Freimann steckte den Kopf zur Küchentür herein. «Komm grad mal, ich hab hier was für dich», nuschelte er zwischen Bart und Maske.

Draußen im Flur steckte er Winter ein Blatt liniertes Papier zwischen die behandschuhten Finger. «Das haben wir in einem Rucksack gefunden, der auf dem Klo stand. Der Rucksack gehörte dieser Pfister, da ist ein Portemonnaie mit Ausweisdokumenten von ihr drin.»

Der Zettel war eng und in einer zwanghaft ordentlichen Schrift beschrieben.

Winter las:

Der Herrgott weiß, dass ich das Richtige tue. Ich muss das Böse, das aus meinem Schoß gekrochen ist, ausrotten. Denn es heißt, der Herr verfolgt die Sünde der Eltern an den Kindern bis ins dritte Glied. Ich habe lange gebraucht, bis ich es verstanden habe, wie dies gemeint ist, und dass es ein Engel des Herrn war, der mir diese Worte einst zugesandt hat. Oder vielleicht spricht durch Jörg Krombach der Heilige Geist, wenn er seine Phasen hat. Als das mit Verena passiert ist, habe ich endlich auch verstanden, warum es heißt, dass die Eltern ihre Kinder fressen werden zur Strafe für ihre Sünden. Gott verzeihe mir, dass ich Reinhard umgebracht habe. Er war auch ein Mörder, aber ich habe es nicht deshalb getan. Ich konnte meine Pflicht nicht erfüllen, bevor er tot war. Ich wollte nicht, dass er es weiß. Er hätte es nicht verstanden. Reinhard war zu irdisch veranlagt, während ich und Sabrina vergeistigt sind und immer zu viel wussten und gelitten haben.

Ich bitte darum, dass man in der katholischen Kirche in Lauterbach Kerzen für mich anzündet und für mich betet. Ich habe nichts Böses getan, sondern meine Pflicht erfüllt. Ich wollte nie jemandem schaden. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich trotzdem in die Hölle kommen werde, weil ich mein Leben nehmen werde. Aber in der Hölle werde ich wenigstens meine Enkelchen wiedersehen.

Winter war innerlich noch vollkommen mit dem beschäftigt, was er gerade gelesen hatte, als plötzlich Hilal Aksoy vor ihm stand. Sie sah bleich und todunglücklich aus.

«Andi, lass uns in irgendein Zimmer gehen, ich muss mit dir reden.»

Er ahnte dunkel, was kommen würde; nahm sie wortlos mit in das Wohnzimmer, wo es nichts Schreckliches zu sehen gab und wohin Freimanns Leute noch nicht vorgedrungen waren. «Und?», fragte er.

«Im Jugendamt habe ich noch niemanden erreicht, aber ich hab mit Herrn Tamm gesprochen», sagte sie.

«Und, wo sind seine Kinder?»

«Er hat gar keine», sagte sie heiser und schluckte. «Mir ist eine furchtbare Idee gekommen. Wir waren so blind, Andi, wir waren so blind.» Sie begann plötzlich zu weinen.

Winter ging einen Schritt vor und nahm sie in den Arm. Was sollte er auch anderes tun?

***

Es war zehn Uhr vormittags, als Winter endlich Ulrike Stamitz vor sich sitzen hatte. Er war schon seit sieben im Büro. In seinem Schädel hatte sich seit gestern Abend ein dumpfer Kopfschmerz festgesetzt, aber im Geist fühlte er sich seltsam euphorisch und glasklar. Zum allerersten Mal hatte er das Gefühl, die Puzzlestücke im Fall Vogel würden sich alle zusammenfügen.

Stamitz berichtete noch einmal genauestens, wie Andrea Vogel und sie an die Kinder gekommen waren, wie dann die Großmutter, Frau Pfister, mit ihnen in Kontakt getreten war, sie bedrängt hatte, die Kinder abzugeben, und schließlich überstürzt den fatalen Besuch angekündigt hatte. Winter interessierte das alles nur am Rande. Er ließ die dunkelhaarige Frau fertig erzählen. Dann sagte er:

«Frau Stamitz, wir haben in Ihrer Wohnung ein Jagdgewehr gefunden, da waren die Fingerabdrücke von Frau Pfister drauf und sonst keine. Außerdem haben wir aber noch einen Revolver gefunden, der mit Fingerabdrücken und DNA-Spuren von mindestens fünf Personen übersät war. Nur die von Frau Pfister konnten unsere Leute nicht entdecken.»

Das war ein halber Bluff. Bisher wusste Winter nur: Der Revolver war voller Spuren, und mit ihm war gestern nicht geschossen worden. Der Rest war geraten. Nach einer Pause, während deren sich in Frau Stamitz’ Gesicht eine Menge tat, schob Winter hinterher: «Mich würde sehr interessieren, was Sie mir zu der Geschichte dieses Revolvers sagen können.»

Ulrike Stamitz’ Gesicht verriet ihren inneren Kampf, dann verhärteten sich ihre Züge.

«Ich kann dazu nichts aussagen», erklärte sie.

Winter seufzte.

«Frau Stamitz, falls Sie es nicht wissen, möchte ich Sie darüber informieren, dass derzeit ein wahrscheinlich unschuldiger junger Mann wegen Mordes an dem Ehepaar Sabrina und Thomas Vogel auf der Anklagebank sitzt. Falls Sie zur Aufklärung des Falles beitragen können –»

«Wer ist der Mann?», fragte sie schnell. «Ich glaube nicht, dass er unschuldig ist.»

Eine Sekunde fragte sich Winter, ob sie auf der falschen Fährte waren.

Dann drückte er die Pausentaste, ganz offen, sie sollte es sehen.

«So, Frau Stamitz. Ihre Fingerabdrücke waren da auch mit drauf und die von Frau Vogel, und wir wissen, dass mit dem Revolver in den letzten acht Monaten drei Leute getötet und eine weitere Person schwer verletzt wurde. Wenn Sie jetzt nicht reden, kann ich Ihnen und Frau Vogel den schönsten Ärger machen. Was meinen Sie, wie schnell das Jugendamt Ihnen dann die Kinder wieder weggenommen hat. Sie können sich auch gerne erst mal unter uns äußern, ohne Protokoll und Tonaufnahme. Aber reden müssen Sie, alles andere werde ich nicht akzeptieren. Wir müssen wissen, was da gelaufen ist.»

Sie sah erschrocken aus. «Ach, wissen Sie», sagte sie schließlich, «ich würde es ja gerne jemandem erzählen. Ich glaube nur nicht, dass die Polizei die richtige Adresse ist. Ein Psychologe schon eher.»

«Na, was meinen Sie, was ich bin», sagte Winter trocken. «Glauben Sie wirklich, es gibt bessere Psychologen als Leute, die seit fünfzehn Jahren bei der Kripo arbeiten?»

Damit hatte er den richtigen Ton getroffen. Ulrike Stamitz entspannte sich nach und nach, sackte ein bisschen in sich zusammen, und schließlich begann sie, zunächst noch zögerlich, dann immer flüssiger zu erzählen.

Den Revolver hatte sie am letzten Sonntag oder Montag unter einem Stapel Bilder in einer von Merles Kisten gefunden. Das Mädchen war sehr selbständig mit ihren Sachen und beim Aufräumen, und so kam es wohl, dass sie die Entdeckung nicht früher gemacht hatten. Sie hatten Merle später zu dem Revolver befragt. Und daraufhin hatte Merle eine unglaublich schreckliche Geschichte erzählt.