Mitte Januar

Winter war nicht da gewesen, als es passierte. Ein zweiwöchiger Urlaub, Sonne tanken auf Fuerteventura.

Als er zurückkam, hingen an den Wänden seines Büros lauter Fotos: ein schäbiges Haus am Rand von Kalbach, wo es noch bäuerlich war, isoliert an einer Stichstraße am Ortsrand, die hier in einen Feldweg überging, umgeben von Schuppen und Wildwuchs. Nördlich weideten Pferde. Im Haus ein düsteres Schlafzimmer unterm Dach, braune Holzpaneelen, Blümchengardinen. In dieses Zimmer war in jener Nacht, zwei Tage nach Weihnachten, das Grauen eingebrochen. Die Frau, eine Mutter von Ende zwanzig, hatte noch Glück gehabt. Sie war im Schlaf erschossen worden. Mehrere Fotos zeigten ihren Kopf mit geschlossenen Augen auf dem Kissen. Die kurzgeschnittenen, naturblonden Haare, das kindlich wirkende Gesicht, im Tod gelb und wächsern wie das einer Puppe. Zwei Schüsse hatten ihren Schädel wie eine Eierschale zerplatzten lassen, die Hirnmasse quoll zwischen blutverkrusteten Haaren hervor, Spritzer und Fetzen von Hirngewebe klebten an der Wand dahinter. Fast schien es, als täte die Polizeikamera der Toten die meiste Gewalt an.

Winter rekonstruierte aus den Bildern den Ablauf. Der Täter hatte sich wahrscheinlich ins Zimmer geschlichen und das Bett umrundet, bis er direkt neben dem Kissen der Frau stehen geblieben war. Aus nächster Nähe hatte er die Schlafende erschossen. Der daneben schlafende Mann – sein Bett war das der Tür nächstliegende – war von den Schüssen zweifellos aufgeschreckt. Barfuß und im Schlafanzug war er aus dem Bett gesprungen und hatte es zur Tür geschafft. Dort hatte er sich noch einmal umgewandt, womöglich, um mit dem Täter zu verhandeln. Und war frontal von drei Schüssen in den Bauch niedergestreckt worden. Vornüber war er zusammengebrochen und so liegen geblieben, bis er starb. Auch hier das Gesicht in Großaufnahme, diesmal mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Ein Schuss war danebengegangen, die Kamera zeigte das Loch im Türpfosten. Der oder die Täter hatten danach wahrscheinlich das Haus verlassen. Die Haustür war sperrangelweit offen abgebildet. Ein Foto des Küchenfensters im Erdgeschoss: Es stand ebenfalls offen. Möglicherweise waren die Täter hier eingedrungen.

An der Tür klopfte es, Arno Zierings runder Kopf mit der Knollennase erschien. «Ich hab was gehört, und da hab ich mir gedacht, dass du das bist», sagte er mit einem Grinsen. «Kollege Kettler erscheint ja selten vor neun. Wie war der Urlaub?»

«Bestens», sagte Winter, obwohl das übertrieben war. Seine Ehe kriselte. Der weihnachtliche Urlaub war ein Versuch gewesen zu kitten, was zu kitten war. Dafür war es tatsächlich ganz gut gelaufen. Aber solche Details wollte Ziering gar nicht wissen, der seine rundliche Gestalt auf einen Stuhl setzte und schon weiterredete.

«Mensch, Andreas, gut, dass du wieder da bist. Wie du siehst, wartet Arbeit. Unangenehme Sache. Eine Familie Vogel aus Kalbach. Die Eltern wurden in der Nacht zum zweiten Weihnachtstag erschossen. Also vor zwei Wochen, genau am Tag, nachdem du fort bist. Und eigentlich haben wir noch keinen Schimmer, wer’s war. Oder auch nur, welchen Hintergrund das Ganze haben könnte.»

«Wo ist die Akte?»

Ziering deutete auf Kettlers Tisch, auf dem sich mehrere Ordner stapelten.

Den Vormittag über klinkte Winter sich aus dem Alltagsgeschäft aus und machte sich mit dem weihnachtlichen Doppelmord bekannt. Er blieb auch zum Essen im Büro, um schneller durch die Akten zu kommen. Der Fall schien vertrackt: kein klares Motiv, kein Verdächtiger, dürftige Spurenlage. Außer Fasern, die sich überall in dem nicht besonders sauberen Haus gefunden hatten, gab es praktisch nichts. Wie zu erwarten keine Schmauchspuren an den Händen der Opfer, aber auch keine Fingerabdrücke Fremder im Haus. Winter sah bei diesem Spurenbild einen maskierten Täter mit Handschuhen vor sich.

Die wichtigsten Zeugen waren die beiden kleinen Töchter des getöteten Paares. Vernehmung und Protokoll hatte Hilal Aksoy vom Kriminaldauerdienst gemacht, was Winters Konzentration leicht behinderte. An die Kollegin Aksoy hatte er in letzter Zeit eindeutig zu viel gedacht. Jedenfalls waren die Mädchen, drei und sechs Jahre alt, in der Nacht zum 26. Dezember durch Schüsse wach geworden. «Es hat geknallt», waren die Worte der Älteren. Sie hatten die erhobene Stimme ihres Vaters gehört und wie dessen Worte nach einem neuerlichen Knall abrissen. Die Mädchen waren «von dem vielen Krach» verängstigt und warteten nach ihren Worten «ganz lange» unter dem Bett der großen Schwester ab, bis «es still war» und sie schließlich nachsehen gingen. Völlig verstört von dem, was sie entdeckten, saßen sie auf der leeren Seite des Ehebetts neben der Leiche ihrer Mutter, ohne zu essen und zu trinken, bis am folgenden Nachmittag das Telefon klingelte. Die Anruferin war eine alte Schulfreundin der Mutter, die inzwischen in Kanada lebte. Es sollte ein ganz normaler Feiertagsanruf werden. Der Anrufbeantworter der Familie war so eingestellt, dass er das Gespräch automatisch aufzeichnete. Winters neuer Bürogefährte Sven Kettler, inzwischen auch eingetroffen, hatte eine morbide Faszination für dieses Telefonat entwickelt. Während Winter in den Akten las, spielte Kettler ihm das Gespräch mehrfach ungebeten vor.

Eine Kinderstimme meldete sich mit «Hallo», darauf die Anruferin: «Hallo, ist da die Merle?» – «Ja.»

«Hallo, Merle-Maus, hier ist Janine aus Kanada. Wie geht’s dir denn, hattet ihr schöne Weinachten?»

(Pause, zögerlich:) «Ja-ah.»

«Was hast du denn bekommen?»

(Pause.) «Ein Spiel.»

«Wow, da hast du dich sicher gefreut. Sag mal, Merle, kann ich deine Mami sprechen?»

«Nein. Die Mami ist tot. Die hat einer totgeschossen.»

Die Verzweiflung und Hilflosigkeit in der Stimme des Kindes waren herzzerreißend. Doch Kettler hielt die Dialogwendung Kann ich die Mami sprechen? – Die Mami ist tot für einen besonders guten Witz. Seine kastanienbraunen Locken, die sich um die Stirnglatze rankten, wippten fröhlich, und er grinste jedes Mal, wenn die Stelle kam. «Müsste man bei YouTube einstellen», bemerkte er launig, als er das Gespräch zum dritten Mal laufen ließ.

Winter hatte sich nach zwei Monaten mit Sven Kettler im Büro daran gewöhnt, dass der Mann nichts ernst nahm. Das sorgte immerhin für eine lockere Atmosphäre. Aber als er die Stelle zum dritten Mal abspielte, wurde es Winter zu viel.

«Deinen Humor müsste man haben. Mensch, Sven, schalt das Ding aus und kümmer dich um deine Arbeit. Es ist ja nicht so, dass ihr schon weit gekommen wärt.»

«Wieso? Lief doch prima ohne dich», parierte Kettler gut gelaunt. Winter verdrehte die Augen, aber sagte nichts, weil Kettler jetzt zumindest so tat, als würde er Hinweise auswerten. Tatsächlich hatte das Team der Mordkommission 1 während Winters Urlaub einiges abgearbeitet. Aber dabei war nicht ein Fünkchen Licht in den Fall gekommen. Nach zwei Wochen Ermittlungsarbeit hatte man in klärbaren Fällen zumindest eine Ahnung, in welche Richtung es ging. Aber hier? Um einen Raubmord handelte es sich nicht. Jedenfalls war im Haus der Familie nichts durchsucht oder in Unordnung gebracht worden. Einen Safe gab es nicht. Die Kinder konnten nichts nennen, was fehlte. Es schien, als hätten der oder die Täter das Ehepaar Vogel gezielt getötet, um dann wieder spurlos in der Nacht zu verschwinden. Es wirkte wie eine Hinrichtung.

Winter scannte noch einmal das Material über den Ehemann. Gab es Hinweise auf Kontakte zur Unterwelt, die er übersehen hatte?

Thomas Vogel war neununddreißig Jahre alt, zehn Jahre älter als seine Frau. Auf den Fotos war ein schmaler, aber durchtrainierter Mann zu sehen, mittelgroß, mit Tätowierungen und einem modischen Ansatz von Schnauz- und Kinnbart. Das Gesicht war eine Spur feminin, und bis auf einen charakteristischen Leberfleck auf einer Wange durchschnittlich-nichtssagend, die Haare waren auf Millimeterlänge rasiert und in der Stirn ausgedünnt. Vogel arbeitete als selbständiger Fliesenleger ohne Meisterbrief; heutzutage ging so etwas. Im ganzen Haus gab es nichts, was darauf hindeutete, dass Thomas Vogel neben seinem Fliesenlegerberuf einer illegalen Tätigkeit nachgegangen war. Einer, bei der er sich skrupellose Feinde hätte machen können. Feinde, die vor Mord nicht zurückschreckten.

Die Finanzen der Familie waren in Ordnung. Thomas Vogel besaß eine Kundenkartei und einen Terminkalender. Winters Kollegen hatten die Kunden der letzten Wochen befragt und Vogels Rechner durchforstet, ohne auf irgendeine Besonderheit zu stoßen. Höchstens, dass es Anzeichen für Schwarzarbeit gab. Aber das war bei Handwerkern nicht ganz selten und höchstwahrscheinlich nicht fallrelevant. Außerdem waren die Kollegen auf einen Familienzank mit Thomas Vogels Mutter gestoßen, eine klassische Erbstreitigkeit. Das Haus war Herrn Vogel vor acht Jahren von seiner Großmutter überschrieben worden. Das zugehörige Grundstück hatte Vogel an einen Golfplatzbetreiber verkauft und ganz gut daran verdient. Seine Mutter hatte auf das Erbe der Oma für sich selbst gehofft und war enttäuscht worden. So etwas kam leider vor, war aber normalerweise kein Grund für Mord.

Thomas Vogels Frau Sabrina bot auch keine Anhaltspunkte. Sie hatte zwar Abitur, beruflich aber nur per Minijob in einem Kalbacher Supermarkt ausgeholfen. Unspektakulärer ging es kaum.

Auffällig war nur, dass die Familie sehr isoliert lebte. Die Kollegen hatten in den zwei Wochen seit dem Mord noch keine Freunde der Vogels auftreiben können. Niemanden, der das Paar zu Hause besuchte. Die Auswertung der Telefondaten hatte praktisch keine Privatgespräche ergeben. Fast jede Nummer hatte sich als Kunde des Fliesenlegerbetriebs erwiesen. Mit seiner Mutter war Thomas Vogel ja wegen der Erbstreitigkeit verkracht; nach deren Aussage hatten sie seit Jahren nicht miteinander gesprochen. Vater Vogel lebte nicht mehr. Halbwegs regelmäßigen Kontakt gab es nur mit Sabrina Vogels Eltern, die mit Nachnamen Pfister hießen, ungewöhnlich alt für eine neunundzwanzigjährige Tochter waren und in einem Dorf namens Allmenrod bei Lauterbach lebten.

Immerhin gab es die nach Kanada verzogene alte Schulfreundin von Sabrina Vogel, die mit der Familie, nach dem Telefonat zu urteilen, ganz gut bekannt war. Winter beschloss, diese Freundin noch einmal zu befragen. Kettler hatte das bloß oberflächlich getan: Bei Tatverdächtigen war Kettler motiviert und lieferte gute Arbeit, bei allen anderen Vernehmungen neigte er jedoch zur Schlamperei.

Was Spuren des Täters betraf, so hatten die bisherigen Ermittlungen nur eine einzige erbracht. Diese Spur lieferten die nächsten Nachbarn des einsamen Hauses, die ungefähr sechzig Meter entfernt am Beginn der Stichstraße wohnten, ein älteres Ehepaar. Die Herrschaften berichteten, in der Mordnacht gegen zwölf durch eine Reihe von Schüssen geweckt worden zu sein. «Aber mir haben des für verfrühte Silvesterknaller gehalten», erläuterte die Frau. Winter hörte sich die Tonaufnahme an, da dies neben den Kindern die wichtigsten Zeugen waren. Auf Kettlers Protokolle konnte man sich ja leider nicht verlassen. Die Frau schwor, kurze Zeit nach den Schüssen («Na, lassen Se’s finf Minude gewesen sein») draußen ein Motorrad gehört zu haben, das vom Feldweg kam.

Dieses nächtliche Motorradgeräusch war als Hinweis auf den Täter natürlich verdammt dünn. Zudem war die Suche nach einem Motorradfahrer im Bekanntenkreis der Vogels bislang vergeblich gewesen. Wegen des trockenen, frostigen Wetters hatten sie nicht einmal neuere Reifenspuren auf dem Feldweg gefunden, die sich untersuchen ließen.

Winter klappte die Akte zu und stellte sich mit seinem Zigarettenersatz-Bleistiftstummel ein weiteres Mal vor die Wand mit den scheußlichen Fotos.

Der Täter hatte eigens das Bett umrundet, um zu Sabrina Vogels Seite zu gelangen. Und Frau Vogel war zuerst erschossen worden. Demnach war wohl sie das Hauptziel des Anschlags gewesen und ihr Mann eher ein Kollateralschaden, zumal Thomas Vogel nur Bauchschüsse erlitten hatte. Bauchschüsse waren für gewöhnlich nicht tödlich. Vielleicht hatten der oder die Täter Thomas Vogel lediglich außer Gefecht setzen wollen, um in Ruhe fliehen zu können.

Gehen wir mal davon aus, dachte Winter, Sabrina Vogel wäre der Schlüssel zu der Tat, nicht ihr Mann.

Was war sie für ein Mensch gewesen?

Die Akte gab über sie nicht gerade viel her. Winter wühlte zwischen den Deckeln, fand endlich ein Foto der jungen Frau zu Lebzeiten. Es zeigte sie in einer Arbeitslatzhose, in der Hand einen dicken Pinsel voll blauer Farbe, fröhlich, das blühende Leben. Sabrina Vogel hatte einen kleinen runden Mund, eine etwas kräftigere Nase und rote Wangen, ihr gänzlich ungeschminktes Gesicht wirkte noch sehr kindlich-jugendlich. Die Augenbrauen waren ebenso blond wie die Haare, und der unkonventionelle kurze Haarschnitt stand ihr ausgezeichnet.

Die Angestellten des Kalbacher Supermarkts, in dem sie gearbeitet hatte, hatten sie unterschiedlich beschrieben. Als «lieb und schüchtern» charakterisierte sie die eine. Die nächste Kollegin hielt sie für eine Angeberin. Eine dritte wartete auf mit «chaotisch und ungeschickt, ließ immer alles fallen». Bei der letzten befragten Kassiererin galt Sabrina als «komisch irgendwie». Die Tote war anscheinend ein Chamäleon gewesen. Oder so unscheinbar, dass jeder in ihr sah, was er wollte. Nur eines bestätigten alle: Frau Vogel habe oft von ihrem Mann, ihrem Haus und ihren angeblich sehr begabten Kindern erzählt.

Mit anderen Worten: Die Ermittler wussten über Sabrina Vogel gar nichts.

Winter seufzte, reckte sich, legte den Bleistiftstummel zur Seite. «Sven?», wandte er sich an Kettler. «Ich habe das Gefühl, ihr seid mit den Ermittlungen noch nicht zum Kern der Sache vorgestoßen. Es muss irgendeinen entscheidenden Faktor geben, den wir nicht kennen. Gibt es schon einen Plan, wie wir weiter vorgehen?»

«Na klar. Wir konzentrieren uns auf die Omma. Es ist doch klar, dass die es war.»

«Ha, ha», sagte Winter, der das für einen schlechten Witz hielt.

«Nee, echt», sagte Kettler. «Das war die Omma.»

Winter wusste nicht, ob er befremdet oder belustigt sein sollte. «Wie kommt ihr denn darauf?»

«Die Motivlage. Die Alte hasst ihren Sohn und will das Haus.»

«Ach, du meinst, die Mutter von Thomas Vogel. Ich dachte schon, die andere Oma bei Lauterbach, mit der die Vogels viel Kontakt hatten, das wäre ja völlig absurd. Aber trotzdem, Sven. Die alte Frau setzt sich doch nicht nachts aufs Motorrad, mit einer Waffe im Gepäck, um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu erschießen. Ich hab in fünfzehn Jahren MK nicht ein einziges Mal erlebt –»

«Sie hat es natürlich nicht selbst gemacht. Sie hat einen Auftragskiller geheuert.»

«Aber trotzdem –»

«Ich sag dir nur, schau dir das Video an. Es gibt eins von der Vernehmung. Ich hatte die Alte schon vorher auf dem Kieker, weil sie überhaupt nicht überrascht oder geschockt von der Todesnachricht war. Dann hab ich sie vorgeladen und hab das aufzeichnen lassen. Wir sprechen uns wieder, wenn du das Video gesehen hast. Für mich ist der Fall klar.»

***

Winter blieb kaum etwas übrig, als sich die DVD vorzunehmen. Die Aufnahme war allerdings eher amüsant, als dass sie der Aufklärung des Falles diente. Frau Vogel senior, Vorname Renate, wohnhaft in Kelkheim, war eine sehr gepflegte, gutaussehende ältere Dame, die über ihre ganze Familie schimpfte wie ein Rohrspatz. Thomas Vogels Vater, mit dem sie nie verheiratet gewesen war, sei ein «Säufer unter Gottes Sonne» gewesen, doch zum Glück seit zwanzig Jahren unter der Erde. Über ihren Sohn Thomas teilte sie mit, sie habe das undankbare Blag seit Jahren nicht gesehen. Es wundere sie nicht, dass es ein schlechtes Ende mit ihm genommen habe. Dem schloss sich eine lange Tirade an: «Der war doch immer frech und faul, der Thomas. Und dann hat er mich um mein Erbe gebracht, die eigene Mutter schamlos betrogen. Das ist doch mein Vaterhaus, wo er jetzt wohnt, das müsste mir gehören nach Recht und Gesetz, aber er hat sich’s von der Großmutter überschreiben lassen, wie die im Sterben lag. Da hat er sie beredet und gemacht und getan, die war doch eh schon nicht mehr klar im Kopf. Aber er war ja immer ihr Liebling gewesen, der Thomas, auf den hat sie nichts kommen lassen, bloß die eigne Tochter war nichts wert, ich konnte es der Alten nie recht machen. Das hat der Thomas nun von dem Haus, was er mir unter den Händen weggestohlen hat. Es lag ja sowieso zu einsam, da musste man immer fürchten, dass jemand einbricht. Ich kann von Glück sagen, dass ich meine Eigentumswohnung in Kelkheim habe. Ein gepflegtes Haus, da passiert so etwas nicht.»

Winter fand es bedrückend, dass nicht einmal der Tod des Sohnes die Frau von ihrem Groll befreien konnte. Doch Kettlers Behauptung, sie sei dafür verantwortlich, konnte er trotzdem nicht ernst nehmen. Eine Mutter, die einen Auftragskiller anheuerte und den eigenen Sohn ermorden ließ – das widersprach all seiner kriminalistischen Erfahrung.

Zurück im Büro zog Winter seine Jacke über, dunkelbraunes Wildleder mit Fell innen, schon etwas abgewetzt, aber gerade richtig für die Kälte unter grauem Himmel draußen, die der Wetterbericht als «ruhiges Winterwetter» angekündigt hatte.

«Ich sehe mir das Haus an», informierte er Kettler. «Ich muss irgendwie ein Gefühl für den Fall bekommen, vielleicht fällt mir ja noch was auf.»

Minuten, nachdem Winter draußen war, rief Fock an, der Chef des K 11. Kettler hob Winters Telefon ab.

«Kettler, K 11

«Fock. Ist Winter nicht –»

«Herr Winter ist entschwunden, um sich das Haus der Familie Vogel anzusehen. Er meint, er kommt überhaupt nicht zurecht mit dem Fall, und hofft, dass ihn dort eine Inspiration ereilt. Vielleicht sprechen ja die Toten zu ihm.»

«Aha. Also … egal. Winter soll sich sofort bei mir melden, wenn er wieder da ist.»

***

Als Winter auf dem Hof des Vogel’schen Hauses einfuhr, kam hinter ausgedünntem Hochnebel die Sonne hervor. Das Haus war aus den 1920er Jahren, eigentlich ganz hübsch, nur von außen sehr heruntergekommen. In den siebziger Jahren hatte jemand schwarz gerahmte Alu-Doppelglasfenster eingesetzt. Winter brach gerade das Siegel an der Haustür, da hörte er trippelnde Schritte. Er wandte sich um. Ein stupsnasiges, braunhaariges, braunäugiges kleines Mädchen von sieben oder acht lief über den Hof auf ihn zu. «Hallo», sagte die Kleine mit ihrer hellen Kinderstimme. «Hallo», sagte Winter.

«Wo ist denn die Merle?», fragte das Mädchen.

«Du meinst bestimmt die Tochter von den Vogels?», fragte er zurück.

Das Mädchen nickte heftig und zog die Nase hoch. Sie trug einen rosa Anorak mit einer silberfarbenen Feenapplikation.

«Die Merle ist nicht mehr hier», antwortete Winter, dem gerade erst aufging, dass er keine Ahnung hatte, was nach dem Tod der Eltern mit den Kindern geschehen war. Ein Satz der Großmutter Vogel aus Kelkheim fiel ihm ein: «Das Amt soll bloß net denken, dass ich jetzt die Bälger nehm.»

«Wo ist die Merle denn?», fragte das Mädchen.

«Das weiß ich leider nicht. Ich bin Polizist. Bist du eine Freundin von der Merle?»

«Ja. Meine Oma wohnt da drüben.» Sie zeigte auf das nächststehende Haus, das in einiger Entfernung lag.

«Warst du öfter hier bei den Vogels?», fragte Winter.

Sie nickte. «Nur, jetzt darf ich nicht mehr so oft, weil, ich muss erst Hausaufgaben machen. Und um halb vier kommt schon meine Mutter und holt mich ab.»

Aha, das Mädchen verbrachte also die Zeit nach der Schule bei seiner Oma, der Nachbarin von Vogels.

«Weißt du, dass hier etwas Schlimmes passiert ist?», fragte Winter.

«Ja. Da hat jemand die Sabrina und den Herrn Vogel totgeschossen.»

Die Sabrina. Das Mädchen schien gut mit der Familie bekannt gewesen zu sein. Wahrscheinlich wusste sie mehr als die meisten anderen Zeugen, die sie bis jetzt befragt hatten.

«Ja, das stimmt. Wie heißt du denn?»

«Julia.»

«Und weiter?»

«Julia Marysa Höfling.»

Das Mädchen zog wieder die Nase hoch und trat von einem Bein aufs andere. Hier im Schatten des Hauses zog es unangenehm. Winter kam es einen Augenblick absurderweise so vor, als sei es das Haus selbst, von dem der Schatten und die Kälte ausgingen, und ein Schauer lief über seinen Rücken.

«Sag mal, Julia, kennst du jemanden außer dir, der öfters bei den Vogels vorbeigekommen ist? Einen Erwachsenen zum Beispiel?»

«Also, da war ein Mann mit einem großen Laster. Der ist ganz oft gekommen.»

«Weißt du, was er wollte?»

«Zur Sabrina wollte der.»

Ach nein. Eine Affäre? Der Mörder ein abgelegter Liebhaber von Frau Vogel, der sich rächen wollte? Das wäre ein plausibles Motiv.

«Weißt du, wie der Mann hieß?»

«Nicht so genau.»

«Aber ungefähr?»

«Also, der hieß Herr Winter oder so ähnlich. Bloß, es war nicht Herr Winter.»

Winter verkniff sich ein Grinsen. Zufälle gab’s!

«Wenn es dir einfällt, schreib es bitte auf oder merk es dir gut. Später kommt sicher noch mal ein Polizist und befragt dich, weil du eine wichtige Zeugin bist. Wie sah der Mann mit dem Laster denn aus?»

Von ferne, von Richtung Nachbarhaus, kam jetzt eine kleine, untersetzte Frau in der dunkelblau-türkisen Uniform der Frankfurter Verkehrsbetriebe mit schnellen Schritten den Feldweg entlang. «Julia!», rief die Frau, «Julia!»

«Ach, Menno», stöhnte das Mädchen, ohne auf die Rufe zu reagieren. «Das ist meine Mutter. Aber die ist doof. Die Sabrina war viel netter.»

Winter verkniff sich wieder ein Grinsen. Was Kinder manchmal sagten …

«Alles in Ordnung!», rief er der besorgt aussehenden Frau zu, «ich bin von der Polizei.»

Dann fragte er die kleine Julia nochmals nach dem Aussehen des mysteriösen Mannes mit dem Laster.

«Weiß nicht. Ganz normal.»

«Wie alt?»

«Normal alt», erklärte die kleine Julia. Mit einem kritischen Blick auf Winter fügte sie an: «Nicht so alt wie Sie.»

Kindermund, dachte Winter erneut. Da er selbst dreiundvierzig war, mochte der «normal alte» Lastwagenfahrer gerade das richtige Alter gehabt haben, um für die neunundzwanzigjährige Sabrina Vogel einen Liebhaber abzugeben.

Die Mutter war nun herangekommen, eine vergröberte, dickere Version ihrer Tochter, die den frechen Charme des kleinen Mädchens nicht besaß. Zumal sie gerade sehr verärgert war. «Du weißt doch genau, dass du ab drei Uhr im Haus auf mich warten sollst!», keifte sie ihre Tochter an. «Ich bin seit fünf auf den Beinen und hab seit acht nichts gegessen, und jetzt muss ich dir schon wieder hinterherrennen!»

«Frau Höfling?», fragte Winter.

«Ja, und wer sind Sie? Wie kommen Sie dazu, ohne mich zu fragen meine Tochter –»

«Winter, Kriminalpolizei. Es tut mir leid, wenn ich Ihre Tochter aufgehalten habe. Wir ermitteln hier im Mordfall Vogel. Sie haben davon gehört?»

«Ja, sicher. Furchtbar, die Sach. Meine Eltern wohnen da drüben und schlafen seitdem keine Nacht mehr.»

«Kannten Sie die Vogels persönlich?»

«Den Thomas, ja, von früher, aber wir hatten nichts weiter miteinander zu tun. Er ist ja fünf Jahre älter wie ich. Pardon, war. Seit ich nicht mehr hier wohn, hab ich ihn nicht mehr gesehen. Bloß die Frau, weil ich öfter hier ins Haus kommen musste und die Julia holen, obwohl sie genau weiß, dass sie ab Punkt drei bei meiner Mutter bereitstehen soll. Wenigstens hat das jetzt ein Ende.»

«Was hatten Sie für einen Eindruck von Sabrina Vogel?»

«Komische Person. Ein bisschen asozial.»

«Inwiefern?»

«Zum Beispiel, als ich das letzte Mal die Julia geholt hab, da war ein Chaos und ein Dreck in der Küche …»

«Quatsch!», unterbrach Julia protestierend ihre Mutter. «Wir haben Plätzchen gebacken!»

«Ja, die Kinder hat sie alleine Plätzchen backen lassen, und sie saß daneben im Schaukelstuhl und hat gestrickt, auf dem Tisch stand noch das dreckige Geschirr vom Mittagessen, und mittendrin die Katz. Da können Sie sich ungefähr vorstellen, wie es in der Küche aussah. Ich hab die auch nie anders als schlampig angezogen gesehen. Immer bloß Schlabberpullover oder schlabbrige T-Shirts. Und es stank auch so im Haus. Von ihren Kindern hat sie sich Sabrina nennen lassen. Als wär sie die Freundin, nicht die Mutter.»

Winter konnte sich gut vorstellen, warum Julia sich von der Atmosphäre im Vogel’schen Haus angezogen gefühlt hatte. Das Ganze hörte sich ein bisschen nach Villa Kunterbunt an, mit Sabrina Vogel als Pippi Langstrumpf.

«Ihre Tochter erzählte mir vorhin, dass öfter ein Mann mit einem Laster vorbeikam und zu Frau Vogel wollte. Wissen Sie darüber etwas?»

«Ein Mann mit einem Laster? Nein. Wer weiß, ob das nicht wieder so eine Geschichte ist. Die Merle Vogel hat ein bisschen viel Phantasie. Die hat der Julia immer Sachen erzählt … diese ganzen Computerspiele, da wissen doch Kinder bald gar nicht mehr, was Wahrheit ist und was erfunden. Die Kinder durften ja bei der Frau Vogel stundenlang alleine am Computer sitzen. Die hat gar keine Grenzen gesetzt.»

«Mama!», protestierte Julia. «So ein Quatsch! Der Mann mit dem Laster ist wirklich, ich schwöre!» Dabei sah sie Winter an, als wolle sie sagen: Da sehen Sie mal, wie doof meine Mutter ist.

«Kennst du Herrn Vogel eigentlich auch?», fragte Winter das Mädchen.

«Ja», sagte sie. «Aber zum Glück war der meistens weg. Der ist nämlich doof. Sagt auch die Merle.»

«Julia!», tadelte die Mutter und griff ihre Tochter am Arm. «So redet man nicht über Erwachsene! Schon gar nicht, wenn sie tot sind.» Sie sah Winter entschuldigend an.

Der beendete jetzt das Gespräch, gab Frau Höfling seine Karte und bat darum, angerufen zu werden, falls ihr oder der Tochter noch etwas einfalle. Wie etwa der richtige Name des mysteriösen Lasterfahrers.

***

Im düsteren Flur des Vogel’schen Hauses roch es tatsächlich streng. Ein muffiger Geruch von feuchtem Keller mischte sich mit den Düften von Abertausenden Brat- und Kochvorgängen in einer Küche ohne Dunstabzug und war im Laufe des vergangenen Jahrhunderts tief in den Putz der Wände und der alten Möbel gedrungen. Winter kannte das Geruchsensemble; er hatte als Kind gelegentlich eine Großtante auf einem einsamen Gehöft besuchen müssen, und da hatte es ganz ähnlich geduftet. Beim Schritt über die Schwelle der Küchentür stolperte er beinahe über eine tote Maus.

Die Küche war fünfundzwanzig Quadratmeter groß. Es gab alte Öfen und eine antike Spüle vor einer geschmackvoll neu gefliesten Wand, eine neue, massivhölzerne Arbeitsplatte, einen großen, alten Holztisch, einen Schaukelstuhl, ein abgewetztes altes Sofa und eine Terrassentür mit Glaseinsatz und Katzenklappe. Auf dem neuen Terrakotta-Fliesenboden lagen Flickenteppiche verstreut. Mittendrin hatte jemand eine hölzerne Eisenbahn aufgebaut. Villa Kunterbunt eben. In der weißen Keramikspüle stand noch dreckiges Geschirr, das nach gut zwei Wochen Lagerdauer nicht sehr appetitlich aussah.

Im Erdgeschoss gab es nichts, was in Hinsicht auf den Fall von Interesse schien. Winter ging nach oben. Dort roch es anders, aber nicht besser. Die Schlafzimmertür stand weit offen. Im Licht eines Westfensters, durch das die tief stehende Wintersonne hereinfiel, sah man schon vom Flur den großen Fleck auf den Dielen, der die Stelle markierte, wo Thomas Vogel sterbend zusammengebrochen war. Winter stieg mit einem langen Schritt über den Fleck hinweg ins Schlafzimmer. Der Raum mit seinen Holzpaneelen hatte zwei Fenster und wirkte bei Tag nicht ganz so düster wie von den Fotos her erwartet. Aber zum Verweilen lud er im derzeitigen Zustand auch nicht gerade ein. Die Reste von Hirnmasse im Bett und an den Holzpaneelen dahinter waren in den letzten zwei Wochen vor sich hin gemodert. Die Fliegen hatte Winter schon von draußen summen gehört. Er hielt sich im Schlafzimmer nicht lange auf.

Vom oberen Flur gingen außer dem Schlafzimmer noch drei andere Räume und das Bad ab. Die Holztüren und Türrahmen hatte jemand, der kein Profi war, in einem leuchtenden Blau gestrichen. Winter dachte an das Foto, das Sabrina Vogel fröhlich in Latzhose und mit einem blau beschmierten Pinsel in der Hand zeigte.

Im Bad suchte er nach Medikamenten, obwohl die Kollegen das sicher längst getan hatten. Es gab eine klassische Hausapotheke, die nichts Ungewöhnliches enthielt. Sabrina Vogel schien außer einem hellblauen Eyeliner keinerlei Schminkutensilien zu besitzen. Das war auf den ersten Blick seltsam, passte aber zu dem ungeschminkten Gesicht auf den Fotos. Ein paar Cremetöpfe gingen in Richtung Naturkosmetik. Ob sie wirklich einen Liebhaber besaß? Manche Männer mochte gerade das Natürliche an ihr gereizt haben. Ausstrahlung hatte sie, das hatte Winter auf den Fotos gesehen. Jetzt fiel ihm auch ein, an wen sie ihn erinnert hatte: An Fotos der ganz jungen Prinzessin Diana, als die noch nicht Prinzessin war, sondern eine rosenwangige, kokett-unschuldige Kindergärtnerin.

In einem der oberen Räume fehlte die Tür. Hier stand ein einzelnes unbezogenes Bett unter der Dachschräge, gegenüber ein halbleerer Kleiderschrank mit Kleidern in Plastikfolie und massenweise Krimskrams. Neben dem Schrank verbargen sich Staubsauger und Bügelbrett. An der Türseite des Zimmers lehnte ein schlichtes, nicht mal einen Meter breites Bücherregal. Winter nahm ein paar Bände heraus. Es waren billige Taschenbücher. Vorne war überall in mädchenhafter Schrift «Sabrina Pfister» und ein Datum eingetragen. Die Bücher stammten noch aus Sabrina Vogels Schulzeit. Doch Kinderbücher waren es keineswegs. Winter sah den «Steppenwolf» von Hermann Hesse und irgendwas von Carlos Castaneda. Hatte das nicht mit Drogen zu tun? Völlig zerlesen war ein Buch namens «I Ging», das Esoterisches zu beinhalten schien.

Winter nahm an, dass es sich bei diesem türlosen Raum um ein Gästezimmer handelte, das Sabrina Vogel auch hauswirtschaftlich und als Abstellraum für die alten Bücher nutzte. Er fragte sich, wer hier wohl übernachtet hatte – falls überhaupt jemand. Die kanadische Freundin vielleicht.

Die beiden Räume auf der anderen Seite des Flures waren Kinderzimmer. In einem summten die Fliegen. Ein Nymphensittich lag tot in seinem Käfig. Der Wasserbehälter war leer, und hier war sicher auch die Todesursache zu suchen. Die Kollegen mussten das Tier beim Versiegeln des Hauses achtlos zurückgelassen haben. Auf einem Bücherbord sah Winter gestapelt drei Kinderbücher, die offensichtlich der Stadtbücherei entstammten. Ein Impuls ließ ihn danach greifen. Die Bücher sollte jemand von der örtlichen Wache zurückbringen, ansonsten würden sie am Ende im Müll landen, und da gehörten sie nicht hin.

Im muffigen Keller gab es außer einer Waschmaschine und einer weiteren toten Maus nichts zu sehen. Winter verließ das Haus und nahm sich die Schuppen draußen auf dem Grundstück vor. Hier gab es von gestapelten Fliesen über uralte Landwirtschaftsmaschinen bis hin zu Schmiedewerkzeug so ziemlich alles. Alle Nebengebäude waren extrem unübersichtlich. Als Winter den zweiten Schuppen gerade verlassen wollte, stach ihm eine blaue Holztür ins Auge, die ausgehängt an einer Wand lehnte. Das war zweifellos die Tür, die oben im Gästezimmer fehlte. Aber warum hatten Vogels sie ausgehängt, nachdem sie sich erst die Mühe gemacht hatten, sie zu streichen? Winter nahm seine Taschenlampe zu Hilfe. Als der Lichtkegel auf die Tür fiel, stand er schlagartig unter Hochspannung. Die Tür wies Einschüsse auf. Sie konzentrierten sich um den Beschlag. Jemand hatte versucht, eine abgeschlossene Tür aufzuschießen.

Davon stand kein Wort in der Akte.

Winter griff zum Handy.

***

«Die werte Laune steht nicht zum Besten», warnte Hildchen, die Kommissariatssekretärin, als Winter erschien, um wie bestellt beim Chef vorzusprechen.

Fock, der Chef des K 11, trug zu seinem gescheitelten Silberhaar und ebensolchen Schnauzbart als Markenzeichen eine rote Fliege. Der schwarze Anzug mit weißem Hemd war ebenfalls obligat. «Ach, Winter, da sind Sie ja endlich», begrüßte er diesen in rügendem Ton und blickte von einem Schriftstück auf. «Setzen Sie sich. Also, wir haben ja nun das Problem, dass Sie im Fall Vogel erst heute eingestiegen sind. Ich frage mich, ob Sie in der Lage sind, die Ermittlungen zu leiten. Es wäre wahrscheinlich praktischer, die Leitung in die Hände des Kollegen Glocke zu legen, nach dem Senioritätsprinzip. So hatte ich das als Interimslösung angeordnet. Oder vielleicht wäre ein jüngerer Kollege geeigneter, ich denke da an diesen neuen, Kettler, der scheint doch sehr patent.»

«Das ist überflüssig», protestierte Winter rasch. «Natürlich kann ich die zentrale Sachbearbeitung übernehmen, gar kein Problem. Ich bin durch die Akte schon durch.» Der faule, fröhliche Kettler war garantiert der Letzte, den man auf einen verantwortungsvollen Posten setzen sollte. Und der Senior des Teams, Heinz Glocke, war zwar routiniert und gewissenhaft, aber nach Winters Einschätzung nicht der hellste Kopf und ohne jede Neigung zu Eigeninitiative.

«Ich dachte ja nur», sagte Fock beleidigt. «Mir wurde nämlich zugetragen, dass Sie sich von dem Fall überfordert fühlen.»

Winter zog die Brauen hoch. Er war leicht schockiert. «Von wem haben Sie denn das?», fragte er.

«Von niemand Bestimmtem. Es war so mein Eindruck. Sie sprachen davon, dass Sie den Fall sehr schwierig finden. Die Kollegen scheinen da anderer Meinung zu sein.»

«Nicht dass ich wüsste. Der einzige Kollege, der den Fall nicht schwierig findet, ist Sven Kettler. Kettler meint ja, die Mutter des Geschädigten sei die Täterin. Mir fällt es bloß etwas schwer zu glauben, dass eine bislang unbescholtene Frau von über sechzig einen Killer auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter ansetzt.»

«Unbescholten? Ach, kommen Sie, Winter. Die Frau hat ihr Leben lang als Prostituierte gearbeitet. Die dürfte im Rotlichtmilieu einige Leute kennen, die für ein paar Scheine zum Töten bereit sind.»

Die alte Frau Vogel eine ehemalige Prostituierte? Winter war eiskalt erwischt. Davon wusste er nichts. Er musste es in der Akte überlesen haben. Bei der Vernehmung der Dame war es jedenfalls kein Thema gewesen.

Winter versuchte, sich keine Blöße zu geben. «Wir werden natürlich in die Richtung weiterermitteln», sagte er knapp. «Nur wäre ich mir nicht so sicher, dass die Großmutter Vogel hinter dem Doppelmord steckt. Das Haus bekommt sie durch den Tod jedenfalls nicht, sie ist ja nicht die Erbin ihres Sohnes. Außerdem war sie bei ihrer Aussage ein bisschen sehr freimütig mit dem Hass auf ihren Sprössling. Wäre sie die Täterin, hätte sie sich zurückgehalten.»

«Ach, Winter, Sie erwarten zu viel Intelligenz von den Leuten. Dabei sind die meisten unserer Kunden eher dumm. Das wissen Sie doch.»

«Nichtsdestotrotz sollten wir dringend auch in andere Richtungen ermitteln. Die Geschädigte Sabrina Vogel hatte wahrscheinlich einen Liebhaber, wie ich eben bei einem Besuch des Hauses erfahren habe. Außerdem habe ich eine Entdeckung gemacht, die darauf hindeutet, dass es schon einmal einen Anschlag auf die Vogels gab, der aber schiefging und der Polizei nicht gemeldet wurde.»

Focks Gesicht rötete sich, und der Schnauzbart bebte. «Was? Mensch, Winter! Gute Arbeit! Kaum sind Sie da, bewegt sich was. Sie sind eben doch mein bester Mann. Um halb fünf kommt der Staatsanwalt. Ich schlage vor, wir machen dann eine kurze Konferenz und bringen alle auf den neuesten Stand.» Fock rieb sich die Hände.

***

Auf dem Rückweg ging Winter am Büro seiner altgedienten Mitarbeiter Glocke und Ziering vorbei. Es herrschte ein Höllenlärm, weil gerade ein Hubschrauber auf der Plattform im Innenhof landete. «Sagt mal», brüllte Winter über das Rotorengeräusch hinweg, «wo in der Akte Vogel steht denn was über die Prostituiertenvergangenheit der Kelkheimer Großmutter?»

Die beiden Altgedienten zeigten sich ahnungslos. «Da musst du unser Tennis-Ass fragen», befand Ziering. «Der hat das rausgefunden.»

Das «Tennis-Ass» war Sven Kettler, der sich regelmäßig wegen irgendwelcher Tennisverpflichtungen das Recht herausnahm, früher zu gehen. In kindlichem Enthusiasmus berichtete er dann am nächsten Tag von seinen Heldentaten auf dem Platz, ohne zu merken, dass er die Kollegen damit nervte.

Zwei Büros weiter blickte Kettler hinter seiner Woody-Allen-Brille eine winzige Spur schuldbewusst drein, als Winter ihn nach einem Akteneintrag zu Renate Vogels beruflicher Vergangenheit fragte.

«Kann sein, dass ich das nicht notiert hatte», sagte Kettler schließlich, die Hände hinterm Kopf verschränkt. «Ich hatte die Olle halt irgendwann im System nachgeguckt und gesehen, dass sie in den siebziger und achtziger Jahren ein paarmal bei Razzien im Bahnhofsviertel aufgegriffen wurde.»

Winter seufzte. «Sven, wirklich. Wir hatten das doch schon mehrfach. Alle Ermittlungsergebnisse gehören schriftlich festgehalten, wirklich alle. Das geht so nicht. Ich wusste jetzt gar nichts davon.»

«Sorry. Du warst halt nicht dabei, als ich das den anderen erzählt habe.»

«Nein, aber bei anständiger Aktenführung darf das kein Problem sein. Wie soll sich denn die Staatsanwaltschaft informieren oder später der Richter, wenn die Hälfte nicht in der Akte steht?»

«Okay, okay, hab’s kapiert. War bloß ein Versehen.»

Winter seufzte. Es fiel einem schwer, Kettler richtig böse zu sein. Aber es war anstrengend, mit ihm zu arbeiten. Was wahrscheinlich auch der Grund war, warum er alle paar Jahre von einer Abteilung des Präsidiums zur nächsten weitergereicht wurde. Nun hatte er ihn am Hals.

Winter sah auf die Uhr. Es blieben nur fünf Minuten bis zur Besprechung. Zu wenig Zeit, um sich anständig vorzubereiten.

Im Büro waren nach wie vor alle Wände mit Standaufnahmen des Tatorts und vor allem der Leichen gepflastert – in maximaler Vergrößerung. Winters Gepflogenheiten entsprach das nicht. Um die fünf Minuten Leerlauf zu nutzen, begann er, die Fotos abzunehmen.

«Hey, was machst du da?», beschwerte sich Kettler.

«Ich lege die Bilder in die Akte.»

«Warum denn?», fragte Kettler maulend.

Winter musterte seinen Kollegen. Kettler war wirklich wie ein Kind.

«Weil sie in die Akte gehören, und weil ich mir nicht die ganze Zeit Leichen ansehen möchte.»

«Hey, hey, hey, stell dich nicht so an», erwiderte Kettler mit einem Lachen. «Ein bisschen professionelle Distanz sollte man in unserem Job schon haben.»

«Ein bisschen Respekt vor den Toten auch», entgegnete Winter.

«Wieso, die Fotos helfen doch bei der Aufklärung. Das dürfte ja wohl im Sinne der Toten sein.»

«Dazu müssen die Fotos aber nicht hier hängen. Im Gegenteil, wenn man die Bilder die ganze Zeit im Hintergrund sieht, nimmt man sie nicht mehr richtig wahr, glaube ich. Hier, schau mal …»

Winter hielt Kettler ein Foto vors Gesicht, das aus dem Eingangsbereich des größten Schuppens aufgenommen worden war. «Fällt dir da was auf?», fragte er.

«Nö. Nur dass die echt mal Sperrmüll machen sollten.»

«Hier, dieses blaue Ding an der Wand.»

«Ach so. Ist das die Tür, wegen der du vorhin angerufen hast?»

«Richtig. Die hattest du die ganze Zeit vor Augen, inklusive Schusslöchern. Ist dir trotzdem nicht aufgefallen.»

«Das ist auch nicht mein Job. Das hat die SpuSi verbaselt.»

«Sollte ja kein Vorwurf sein, ich meinte nur, es bringt nichts, die Bilder an der Wand zu haben statt in der Akte.» Er sah auf die Uhr. «So, es ist so weit, auf zur Besprechung.»

Kettler zuckte mit den Schultern. «Wenn du meinst. Du bist der Chef.»

***

Erster Kriminalhauptkommissar Fock hatte so ziemlich jeden zusammengetrommelt, der direkt oder indirekt mit dem Fall befasst gewesen war. An die vierzig Leute saßen im Raum. Unwillkürlich sah Winter sich um, ob Hilal Aksoy vom Kriminaldauerdienst auch da war, doch sie fehlte. Absichtlich? Nach einer Eskapade seinerseits auf der Weihnachtsfeier drohte ein Wiedersehen peinlich zu werden. Feiern im Präsidium waren wohl irgendwie ihr Fluch: Auf dem Sommerfest im letzten August schon waren Winter und Aksoy in einer alkoholisierten Diskussion zusammengerasselt, was darin gipfelte, dass er ihr, gnadenlos politisch inkorrekt, vorschlug, sie solle doch in die Türkei zurückgehen, wenn es ihr hier nicht gefalle. Die folgende Eiszeit zwischen beiden war in mäßiges Tauwetter übergegangen, als sie Ende Oktober zwangsweise für zwei Wochen eng zusammenarbeiten mussten. Trotz aller Differenzen hatten sie sich am Ende halbwegs miteinander arrangiert. Auf der Weihnachtsfeier vor drei Wochen hatten sie dann schließlich in Erinnerungen betreffs des gemeinsam gelösten Falls geschwelgt, beschlossen, sich wieder zu duzen, und zu vorgerückter Stunde auch noch länger miteinander getanzt. Winter hatte sie irgendwann bei einem Blues definitiv zu eng und auf zu eindeutige Weise an sich gedrückt. Er hoffte bloß, dass sie es auf seinen Alkoholpegel geschoben und sich nichts weiter gedacht hatte.

Fock eröffnete wie üblich die Besprechung. Gebrieft von Winter, berichtete er von dem mysteriösen Mann mit dem Lastwagen, der möglicherweise ein Liebhaber Sabrina Vogels war, und von der zerschossenen Tür im Schuppen. In den Reihen kam Unruhe auf, besonders bei den Leuten von der Tatortsicherung, die sich wohl fragten, wer die Tür im Schuppen übersehen hatte.

«So weit, so gut», schloss Fock. «Herr Winter, bitte fassen Sie den Stand zusammen und verteilen Sie Aufgaben.»

Winter kam nach vorne zur Tafel. «Was wissen wir über den oder die Täter?», begann er. «Es gibt keine Anzeichen, dass etwas gestohlen wurde. Falls es dabei bleibt, muss das Motiv ein persönliches sein. Die Tat richtete sich höchstwahrscheinlich primär gegen Sabrina Vogel. Thomas Vogel wurde wohl nur außer Gefecht gesetzt, damit der Täter fliehen konnte. So lässt sich erklären, dass bei ihm auf den Bauch gezielt wurde statt auf Brust oder Kopf. Vogel würde noch leben, wenn nicht zufällig die Aorta getroffen worden wäre. Der Täter war demnach wahrscheinlich maskiert, oder aber im Schlafzimmer war es so dunkel, dass er hoffte, unerkannt zu bleiben.

Meiner Meinung nach haben wir es ziemlich sicher mit einem Einzeltäter zu tun. Dafür spricht nicht nur das persönliche Motiv, sondern auch das Motorrad, das die Nachbarn nachts gehört haben. Wenn man zu zweit kommt, würde man eher ein Auto wählen. Noch was: Der Täter war anscheinend mit den Örtlichkeiten vertraut. Ich denke, wenn er nicht gewusst hätte, wo das Schlafzimmer ist, dann hätte er mehrere Türen probiert oder Lichter angeschaltet und die Familie wohl schon vor den Schüssen aufgeschreckt. Fazit also: Wir suchen eine Person, die über ein Motorrad sowie einen Magnum-Revolver verfügt und mit beidem umgehen kann und die außerdem in einer wie auch immer gearteten Beziehung zu Sabrina Vogel stand. – Steffen, du siehst dir morgen die Datenbanken daraufhin an. Magnum-Waffen sind nicht so häufig.»

Steffen Leibold nickte. Er war mit Anfang dreißig der Jüngste in der MK, mittelgroß, braunhaarig und grundsätzlich von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet, was er damit begründete, dass er dann morgens nie überlegen müsse, welches Kleidungsstück zu welchem passe. Nach Überflieger-Examen an der FH war Leibold direkt zum K 11 gekommen, aber im Umgang mit Menschen war er mehr als ungeschickt. Die Bildschirmrecherche war seine große Stärke.

«Es ist übrigens nicht auszuschließen, dass die Waffe legal ist», ergänzte Winter. «Versuch also mal rauszubekommen, wie viele Motorradfahrer mit Waffenschein für einen Magnum-Revolver es in Hessen gibt und wie viele davon im Raum Frankfurt wohnen.»

«Im Frankfurter Raum genau acht», erklärte Leibold.

«Wie, hast du das schon gemacht?»

Leibold grinste linkisch. «Ja, heute. Anlässlich deiner Wiederkehr. Da ich dich kenne, war mir klar, was du von mir wissen willst.» Seine Augenlider flatterten. Leibold hatte unter starken Brauen einen Blinzeltick, der sich merkwürdigerweise nur gegen Abend bemerkbar machte. Deshalb war das Problem bei der Eignungsprüfung nicht aufgefallen.

«Ausgezeichnet», kommentierte Winter, «du zeigst mir das später. Bevor wir zur weiteren Aufgabenverteilung kommen: Gibt es noch Anmerkungen oder Fragen bis hierhin?»

Sven Kettler hatte während Winters Vortrag hinter seiner Hornbrille sehr missgelaunt dreingesehen und mit seinem Sitznachbarn Heinz Glocke getuschelt. Doch anders als erwartet hob er nicht den Arm.

«Okay, dann zur weiteren Aufgabenverteilung. Erstens, betreffs der Großmutter Renate Vogel aus Kelkheim. Die haben ja einige von uns im Verdacht, dass sie einen Auftragsmörder geheuert haben könnte. – Sven, besorg die Genehmigung zur Konteneinsicht bei Renate Vogel und sieh dir mal an, ob da in letzter Zeit größere Geldbeträge abgegangen sind.»

Kettler blickte sofort wieder geschmeichelt und fröhlich in die Welt. «Okay, klar, mach ich.»

«Heinz, du fragst beim Amtsgericht nach einem Testament von Thomas oder Sabrina Vogel. Arno, du versuchst, für Sabrina eine Liste von Klassenkameraden aus der Schulzeit zu bekommen. Vielleicht hatte sie mit einem von denen noch Kontakt. – Jetzt zu dieser zerschossenen Zimmertür.»

Aus dem Hintergrund meldete sich Freimann, der erfahrene Leiter des Erkennungsdienstes.

«Also, Andi, ich weiß nicht, wie wir diese Tür übersehen konnten. Vielleicht hat sie jemand nachträglich da hingestellt.»

«Sie ist auf einem der Tatortfotos am Rand mit drauf. Brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ihr hattet ein Haus und fünf Nebengebäude zu bearbeiten, alles rappelvoll mit Kram, der teils hundert Jahre alt ist, und dunkel war es auch. – Wir brauchen jetzt natürlich eine ballistische Untersuchung, ob es sich um dieselbe Waffe handelt. Bevor wir das nicht wissen, lohnt keine Spekulation.»

«Klar», nickte Freimann. «Das Ergebnis kriegst du spätestens morgen Abend.»

Vorne hob Steffen Leibold blinzelnd die Hand.

«Was diesen angeblichen Liebhaber mit dem Laster betrifft: Also, ich hatte die Kontoauszüge zur Bearbeitung. Die von Thomas Vogel, meine ich. Und da gingen einmal die Woche Lastschriften von einer Firma für Tiefkühlkost ab. Wenn ihr mich fragt, ist der Mann im Laster bloß ein Lieferant. Hat mit dem Fall wahrscheinlich nichts zu tun.»

«Danke für den Tipp», sagte Winter. Er spürte Enttäuschung. Womöglich hatte Leibold recht. «Werde ich überprüfen. Der Lieferant muss auf jeden Fall befragt werden.»

Nachdem die restlichen Aufgaben verteilt und die Konferenz beendet war, wühlte sich Winter im Büro durch die Akten, bis er die von Leibold erwähnten Kontoauszüge gefunden hatte. Gleich auf dem ersten Ausdruck fand er das Gesuchte: eine Lastschrift im Wert von 42,82 Euro der Firma Mister Frost.

So ähnlich wie «Herr Winter» habe der Mann geheißen, hatte die kleine Julia Höfling behauptet. Mister Frost. So viel zur Verlässlichkeit von Kinderzeugen. Die Auskunft war vollkommen richtig gewesen. Aber irreführend war sie trotzdem. Den Liebhaber gab es nicht.

Und Winter war eigentlich wieder am Anfang.

***

Merle lag im Dunkeln und musste an all die schrecklichen Sachen denken. Wie immer. Wolke war zu ihr ins Bett gekrochen und schlief tief und fest. Auch wie immer. Wolke wachte nicht einmal auf, wenn sie nachts Pipi machte.

Es war nicht schön hier im Heim. So viele Kinder, niemand interessierte sich für sie, alles war laut und hart und anders als zu Hause. Zwei von den großen Jungs ärgerten und hauten sie dauernd. Merle konnte überhaupt nicht verstehen, warum sie nicht nach Allmenrod zur Oma durften. Aber sie war selbst an allem schuld. Sie hätte schon lange mit jemandem reden müssen. Sie wusste doch eigentlich, dass etwas nicht ganz richtig war bei ihnen zu Hause. Oder zumindest hätte sie jemanden fragen müssen, was das alles zu bedeuten hatte. Bloß, wen fragen? Julias Oma war nicht nett. Und ihre eigene Oma konnte nicht mal die einfachsten Dinge beantworten, warum es Grenzen gibt oder warum die Blätter grün sind. Außerdem sagte die Oma selber manchmal so Sachen vom Teufel. Und Sabrina wäre sicherlich furchtbar böse gewesen, wenn Merle die Geheimnisse verraten hätte. Vielleicht hätte die Polizistin Hilal Rat gewusst. Die konnte bestimmt ein Geheimnis bewahren. Aber Merle hatte Hilal erst kennengelernt, als alles zu spät war.

Und jetzt war sie wieder ganz alleine. Nicht mal Julia war mehr da. Julia hatte einen Schutzengel. Wenn Julia bei ihr war, wusste Merle, es konnte nichts passieren.

Merle musste im Dunkeln immer an die letzten beiden furchtbaren Nächte zu Hause denken. Und an den Tag, als ihre Mami zum ersten Mal von dem dritten Dämon gesprochen hatte. Dabei waren die andern beiden Dämonen schon so schlimm. Der dritte Dämon hatte Merle aber die schlimmste Angst gemacht. Die Angst war groß und schwarz und wollte sie verschlucken. Und dann hatte Sabrina wieder das Orakel gelegt, und es sollte verraten, ob Merle und Wolke zu einem anderen Stern fliegen würden oder ob sie auf der Erde weiterleben müssten. Sabrina meinte, weil sie Himmelsnamen hätten, würden sie wahrscheinlich zu dem Stern fliegen. Doch als sie das letzte Stöckchen gelegt hatte und das Orakel fertig war, hatte sie gesagt: Ihr bleibt auf der Erde. Und sie hatte behauptet, sie wäre froh darüber. Aber das war gelogen, denn dann fing sie an zu weinen. Das war das erste Mal, dass Merle ihre Mami weinen sah. Und das letzte Mal. Denn jetzt konnte sie nicht mehr weinen. Außer sie weinte im Himmel.

***

So kurz nach dem urlaubsbedingten Hotelleben und nach einem harten Arbeitstag freute Winter sich auf seine warme, verwinkelte, gemütliche Altbauwohnung in der Glauburgstraße im Nordend und auf seine Familie. Die Kinder hatten sie während des Urlaubs ausnahmsweise zu Hause gelassen. Sara war sechzehn und Felix vierzehn, alt genug also. Winters Beziehung zu seiner Frau Carola hatten die zwei Wochen erzwungene Zweisamkeit auf Fuerteventura gutgetan. Carola war zwar etwas launisch gewesen. Aber immerhin hatte es Tage gegeben, die sie mit Strandspaziergängen, Schwimmen und leckerem Essen gemeinsam genießen konnten. Das war ein großer Fortschritt gegenüber den Monaten zuvor, als Winter von einer ewig gereizten oder beleidigten Carola nie etwas anderes als Kritik und an den Haaren herbeigezogene Vorwürfe zu hören bekam, hauptsächlich wegen seines angeblichen Erziehungsversagens bei Tochter Sara. Ein normales Gespräch schien unmöglich. Der auf die Schnelle gebuchte Urlaub war sein Versuch, die Dinge zwischen ihnen wieder ins Lot zu bringen, nachdem er nach Monaten des Erduldens kurz vor Weihnachten die Beherrschung verloren und Tacheles mit Carola geredet hatte. Nämlich dass sie ihre Ehe gefährde, wenn sie sich weiter so benehme.

Was er Carola dabei wohlweislich verschwieg, war, wie ihm auf der Weihnachtsfeier im Präsidium betreffs Kollegin Hilal Aksoy die Hormone derart durchgegangen waren, dass er kaum noch geradeaus schauen konnte. Ausgerechnet Aksoy, die überhaupt nicht sein Typ war und schwierig noch dazu. Wäre zu Hause mit Carola alles in Ordnung, wäre das garantiert nicht passiert, vermutete Winter. Jedenfalls war klar, wenn er das Ruder in seiner Ehe noch herumreißen wollte, dann war Eile geboten. Ansonsten würden sie sich nur weiter entfremden. Carola hatte der Reise freudig zugestimmt – damals die erste positive Äußerung seit Monaten. Nun waren die Verhältnisse zum Glück etwas stabilisiert.

«Hallo», rief Winter fröhlich, als er in den Flur trat. Von Sohn Felix kam ein entferntes Hallo zurück. Seine Frau fand Winter im Wohnzimmer. «Soll ich dir mal was zeigen?», begrüßte sie ihn in ominösem Ton.

«Na, dann zeig mal», sagte er resigniert. Carola führte ihn ins Bad, griff ein Bettlaken aus dem Wäschekorb, dessen schwarze Farbe Sara als Besitzerin auswies, und entfaltete es. In der Mitte prangten die weißlichen Ränder eines klassischen Spermaflecks.

«Aha», sagte Winter trocken.

«Du hast es gesehen?»

«Ja.»

Carola warf das Laken in den Wäschekorb. «Wie konntest du nur so verantwortungslos sein, deine Tochter zwei Wochen allein zu lassen? Du wusstest doch genau, dass sie ohne uns die ganze Zeit rumhurt!»

«Also Carola, bitte. Für die Reise haben wir uns gemeinsam entschieden.»

«Nein, das haben wir nicht. Es war deine Idee; du hast mir quasi die Pistole auf die Brust gesetzt.»

Winter versuchte, ruhig zu bleiben und das Gespräch auf eine konstruktivere Schiene zu bringen. «Wo ist denn Sara? Ich werde mit ihr mal über Verhütung reden.»

«Ach, tatsächlich? Damit kommst du etwas spät. Im Übrigen ist sie natürlich nicht da, sondern treibt sich wieder irgendwo rum.»

Wo wir sie auch nicht unter Kontrolle haben, dachte Winter, aber sagte es nicht.

«Wenn du es wieder nicht schaffst», erklärte Carola düster, «bei deiner Tochter mal richtig auf den Putz zu hauen, dann reicht es mir. Dann muss ich die Notbremse ziehen und zu härteren Maßnahmen greifen.» Damit ließ sie ihn allein zurück.

Winter setzte sich auf den Badewannenrand und stöhnte.

Kaum zu Hause, ging alles wieder von vorne los.

***

Der Fall Vogel wurde im Laufe der nächsten Tage nur noch rätselhafter. Der Tiefkühl-Lieferant, als Verdächtiger eilig vorgeladen, war ein hübscher junger Mann mit offenem, freundlichem Gesicht, der intime Beziehungen zu Sabrina Vogel entrüstet verneinte. «Also, die war nun echt nicht mein Typ.» Zwar wirkte er sehr nervös, aber das konnte an der Vernehmungssituation liegen, die viele verunsicherte. Die Indizien stützten seine Aussage. Im Wochenrhythmus fuhr er jeweils dieselbe Tour. Das Ehepaar, das er vor Sabrina Vogel belieferte, konnte bestätigen, dass er stets zur geplanten Uhrzeit bei ihnen eingetroffen war. Ebenso verhielt es sich bei dem Kunden danach. Für ein Schäferstündchen bei Vogels blieben nicht mehr als fünf Minuten, selbst für einen Quickie knapp. Für Winters Liebhabertheorie konnte der Mann nicht herhalten.

Dafür stellte sich heraus, dass auf die blaue Tür im Schuppen tatsächlich mit einem .44-Magnum-Kaliber geschossen worden war – demselben, mit dem Sabrina Vogel und ihr Mann getötet worden waren. Eine Patrone steckte sogar noch. Auf die Tür waren sechs Schuss abgegeben worden. Auch in der Mordnacht waren sechs Patronen verfeuert worden.

«Können wir also davon ausgehen, dass die Waffe sechsschüssig ist?», fragte Winter. Er saß mit dem Ballistik-Experten bei den Mordkommissions-Routiniers Arno Ziering und Heinz Glocke im Büro, um kurz die neue Lage durchzusprechen.

«Das weißt du wahrscheinlich so gut wie ich», meinte der Ballistiker. «Die meisten Magnum-Revolver sind sechsschüssig. Aber es gibt auch welche mit Achter-Magazinen. Dann gibt es noch Magnum-Pistolen mit großem Magazin. Sind aber extrem selten, die Dinger.»

«Okay», grübelte Winter. «Gehen wir mal davon aus, dass der Täter einen klassischen Magnum-Revolver mit Spannabzug benutzt und jeweils sein ganzes Magazin verschossen hat. Das wirkt auf mich sehr impulsiv. Vor allem bei der Tür. Die hätte er mit anderen Mitteln ohnehin besser aufbekommen. Da war ja nicht mal ein Sicherheitsschloss. Er entschließt sich aber, die Tür aufzuschießen. Und statt nach ein, zwei Schuss zu schauen, ob er das Schloss schon geknackt hat, feuert er, bis die Trommel leer ist. Nun hat er die Tür auf. Was macht er jetzt? Nachladen?»

«Nö», antwortete Ziering, den Winter direkt angesprochen hatte. «Er hat nicht nachgeladen. Soweit wir wissen, wurde bei dem Anlass jedenfalls auf niemanden geschossen.

«Stopp», sagte Winter und machte sich eine Notiz: Sie mussten bei den umliegenden Krankenhäusern nachfragen, ob jemand aus der Familie Vogel dort in den letzten Jahren mit irgendwelchen Verletzungen verarztet worden war.

«Okay, weiter», sagte er. «Entweder der Täter hat ohne Sinn und Verstand sein Magazin an der Tür verschossen und erst danach gemerkt, dass er nun seinen Tötungsvorsatz nicht mehr ausführen kann. Dann ist er geradewegs geflohen.»

«Wäre ein richtig blöder Täter», schnaubte Glocke.

«Eben. Deshalb müssen wir eher die andere Möglichkeit in Betracht ziehen: Der Täter wusste, er würde nach dem Öffnen der Tür die Waffe gar nicht mehr brauchen. Er wollte nicht in dieses Gästezimmer, um jemanden zu töten. Was für ein Motiv fällt euch dabei ein?»

«Na ja, Diebstahl», sagte Ziering sofort. «Die Person wusste, dass sich in dem Raum was Wertvolles befand. Die Familie Vogel war nicht da, zum Beispiel im Urlaub bei den Großeltern in Allmenrod. Da waren die doch jeden Sommer.» Die Familie Vogel verbrachte den Juli traditionell auf dem Land bei Sabrinas alten Eltern, die eine Einliegerwohnung in ihrem Haus hatten. Kollege Glocke hatte das in Erfahrung gebracht, als er das Ehepaar Pfister nach dem Mord in ihrem Dorf bei Lauterbach aufgesucht und vernommen hatte.

«Plausibel», nickte Winter. Jeder Bekannte und manche Kunden von Thomas Vogel und auch die Nachbarn mussten gewusst haben, dass die Vogels im Juli immer wochenlang weg waren. Eine günstige Zeit für einen Einbruch.

«Braucht ihr mich noch?», fragte der Ballistiker mit einem Blick auf die Uhr.

«Ist okay», sagte Winter, «kannst gehen, bloß noch schnell eine Frage: Was denkst du, wie alt diese Schussspuren an der Tür sind?»

«Schwer zu sagen. Das müsste sich jemand ansehen, der sich mit Holz auskennt. Ich kann bloß sagen, es ist nicht taufrisch, nicht von gestern oder so.»

Das wäre auch verwunderlich gewesen, da Sabrina und Thomas Vogel seit gut zwei Wochen tot waren. «Okay, dank dir.» Winter notierte, dass er beim LKA und den hiesigen Unis nach jemandem fragen musste, der sich eine Altersbestimmung von Holzoberflächen zutraute.

«Zurück zu unserem Täter», nahm Winter den Faden wieder auf. «Hypothese Diebstahl. Also, wir gehen davon aus, der Täter ist bekannt oder verwandt mit den Vogels. Irgendein Familienmitglied hat ihm mal erzählt, dass im Gästezimmer etwas Wertvolles versteckt ist. Moment, da fällt mir was ein, ich hole schnell Steffen rüber.»

Er telefonierte mit dem Kollegen Leibold, der eine Minute später in der Tür auftauchte.

«Sag mal, Steffen, du meintest doch, es gab Anzeichen für Schwarzarbeit bei Thomas Vogel?»

«Aber holla. Die regulären Kundenüberweisungen gingen auf das Firmenkonto. Dazu gab’s aber alle paar Tage Bareinzahlungen auf das Privatkonto.»

«Wie viel kam da in bar zusammen?»

«Im letzten Jahr waren es so an die fünfzehntausend. So viel hat er eingezahlt. Was er bar behalten und direkt ausgegeben hat, wissen wir ja nicht. Beim Finanzamt angegeben hat er nur die Einnahmen von dem Betriebskonto, das waren bloß achttausend. Alles unterschrieben vom Steuerberater. Natürlich haben die Vogels null Steuern gezahlt.»

Damit hätten wir die nächste verdächtige Kontaktperson, dachte Winter und notierte: Steuerberater überprüfen. «Kann es sein», fragte er weiter, «dass Thomas Vogel einen Teil seiner Einnahmen schwarz angelegt hat? In irgendwas Transportablem? Goldbarren oder so?»

«Weiß nicht. Ich müsste noch mal über die Konten drübergehen, ob mir irgendwas auffällt. Goldbarrenkauf kann auch in bar oder über das Konto von ’nem Vermögensberater laufen.»

«Diamanten», murmelte Kollege Ziering plötzlich. Arno Ziering war klein, übergewichtig, rotbackig, knollennasig, rundschädelig und sechsundfünfzig. Man unterschätzte ihn leicht. Im Gegensatz zum würdevoll gealterten, grau melierten Heinz Glocke, bei dem es genau umgekehrt war. Zum dunkelbraun gefärbten Haarkranz trug Ziering einen ebensolchen Schnauz. Er und Winter tauschten einen Blick. Ein einzelner geschliffener Diamant konnte dreißig-, vierzigtausend Euro oder mehr wert sein. Eine Handvoll solcher Steine ergaben ein Millionenvermögen. Anders als Goldbarren waren Diamanten leicht und ließen sich perfekt verstecken und sehr unauffällig transportieren. Ideal für Schwarzvermögen.

«Okay, Steffen», wandte Winter sich an Leibold. «Sieh dir die Konten und die ganzen Unterlagen noch einmal an. Vielleicht gibt es Kartenabhebungen oder Hotelbelege aus dem benachbarten Ausland, wo man Geschäfte mit Gold oder Diamanten gut tätigen kann. Belgien, Schweiz, Luxemburg oder so.»

«Gut.» Leibold verschwand. Die ganze Zeit hatte er auf dem Sprung an der Tür gestanden. Steffen Leibold hasste Gruppensitzungen jeder Art und hielt damit auch nicht hinterm Berg. «Kostet bloß Zeit und Kraft und bringt nichts außer Kopfschmerzen», pflegte er zu sagen.

«Also, spekulieren wir weiter», griff Winter den Faden wieder auf. «Unser Mann oder unsere Frau dringt in das abgeschlossene Gästezimmer der Vogels ein und sucht nach etwas, das dort versteckt sein soll. Zum Beispiel einen Anlagediamanten. Er findet den Schatz aber nicht. Kann sein, dass Thomas Vogel seine Preziosen vorsichtshalber in den Urlaub mitgenommen hat. Möglicherweise stellt der Einbrecher danach noch das halbe Haus auf den Kopf, wovon wir aber keine Spuren mehr gefunden haben. Tage oder Wochen später kommt die Familie nach Hause. Sie sehen die kaputte Tür und andere Spuren des Einbruchs, melden die Sache aber nicht der Polizei. Warum nicht?»

«Das ist doch klar, das sieht ein jedä», rief Glocke in seinem charakteristischen, altertümlichen Frankfurter Dialekt. «Weil der Vogel der Polizei net sagen kann, ich hab da ein paar teure Klunker liegen, dadrin hab ich mein Schwarzgeld angelegt.»

«Könnte sein. Oder Vogel weiß sogar, wer der Einbrecher war, weil nur eine bestimmte Person von den Diamanten weiß. Und er fürchtet, dass die Person ihn beim Finanzamt verpfeifen wird, falls er ihr die Polizei auf den Hals hetzt.» Während Winter sprach, unterstrich er Steuerberater überprüfen zweimal.

«Vogel rechnet wahrscheinlich nicht damit, dass der Täter gewalttätig werden könnte», spann Ziering die Geschichte weiter. «Dummerweise kommt der Täter im Dezember aber in eine Situation, wo er wirklich ganz dringend Geld braucht oder wo er denkt, sich an Vogel für irgendwas rächen zu müssen. Jedenfalls dringt er in der Nacht zum zweiten Weihnachtstag in das Haus ein, obwohl er weiß, dass die Vogels da sind. Er geht direkt zum Schlafzimmer, betritt es leise, wahrscheinlich mit einer Taschenlampe, und erschießt kaltblütig Frau Vogel, damit er nicht zwei Personen unter Kontrolle halten muss. Davon wacht Vogel auf. Der Täter befiehlt Vogel, ihn zu dem Versteck zu führen. Vogel weigert sich, macht Anstalten zu fliehen oder den Täter anzugreifen, oder womöglich erzählt er, die Diamanten seien gar nicht mehr da. Jedenfalls gerät der Täter in Panik oder Wut und schießt unkontrolliert auf Vogel los.»

«Wie gesagt, mir kommen diese Bauchschüsse auch sehr impulsiv vor», bestätigte Winter. «Dein Szenario gefällt mir. Jedenfalls macht das alles hinten und vorne nicht den Eindruck, als hätte es sich um einen Profi gehandelt.»

Genau in diesem Moment betrat Sven Kettler den Raum. «Hallo, hallo, hallo», rief er. «Da seid ihr ja alle! Fall gelöst. Die Omma aus Kelkheim hat einen Profi-Killer geheuert. Hier ist der Beweis.»

Es wurde schlagartig still. Die Blicke waren betreten. Kettler merkte davon nichts.

Triumphierend legte er einen Kontoauszug auf den Tisch. Das Papier ging von Hand zu Hand. Daraus ging hervor, dass Frau Renate Vogel aus Kelkheim eine Woche vor dem Tod des Ehepaars Vogel eine Summe von 5000 Euro von ihrem Sparkonto abgehoben hatte. In bar.

«Und es kommt noch besser», sagte Kettler. «Ich hab auch die Unterlagen vom Finanzamt. Die Dame hat in ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung ein Zimmer vermietet. Der Mieter heißt Wladimir Preiß, fünfundzwanzig Jahre alt. Der Preiß ist vorbestraft wegen Körperverletzung, Motorraddiebstahl und illegalem Waffenbesitz.»

«Alle Achtung, jungä Mann», sagte Glocke, lehnte sich zurück und applaudierte.

***

Der Knall ließ Gunhild Pfister zusammenzucken, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Es war aber gewiss nur die Wohnzimmertür. Zugluft, weil sie den Flur lüftete. Oder war etwa jemand von der Straße hereingekommen? Gunhild stand ganz still und horchte. Aber da war kein Geräusch. Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken und die Arme kroch. Eine unbestimmte Angst trieb sie, den Schlüssel in der Küchentür umzudrehen.

Vielleicht war es das schlechte Gewissen, das sie so schreckhaft machte. Heute war der Tag, an dem Sabrina eingeäschert wurde. Und heute schmerzte sie, was sie getan hatte: sich für eine unzeremonielle Einäscherung ihrer Tochter in Frankfurt zu entscheiden, telefonisch arrangiert. Sie fuhren nicht einmal hin. Doch es ging ja gar nicht. Sie konnte ihren Mann Reinhard, der im Rollstuhl saß, weder allein lassen noch nach Frankfurt mitnehmen.

Gunhild hatte eine große Dorfbeerdigung und das ganze Gesumse drum herum vermeiden wollen. Sie hatte nicht gewusst, wie sie das durchstehen sollte. Den Sarg, den Leichenschmaus, die Leute, das Gerede und Getuschel, dazu noch Reinhard und die furchtbare Ahnung, die sie umtrieb. Und dann die Kinder. Sie wollte vor allem ihre beiden Enkelchen nicht sehen müssen. Was sollte sie ihnen sagen? Im Moment war alles noch zu nahe.

Mühsam raffte Gunhild sich auf, füllte das pürierte Essen in eine Plastikschüssel. Als sie die Küchentür wieder öffnete, hörte sie aus dem Wohnzimmer schon klagende Laute. Oder anklagende, wie man’s nahm. In der tiefsten Tiefe ihres Herzens wünschte sich Gunhild, dass ihr Mann sterben möge. Stattdessen war jetzt Sabrina tot.

Sie trug die Schüssel durch den eiskalten, trotz Lüften muffigen Flur, öffnete die Wohnzimmertür, was sofort wieder einen Zug auslöste. Gleich hinter der Tür befand sich der Kachelofen und strahlte Gluthitze ab. Das Haus war vierhundert Jahre alt und nur teilweise renoviert. An der Wand frontal gegenüber sahen drei ausgestopfte Hirschköpfe Gunhild mit gefühllosen dunklen Glasaugen unter mächtigen Geweihen an. Die beiden Jagdgewehre, die gekreuzt unter den Hirschen hingen, waren die Lieblingsflinten von Reinhards Vater. Jene, denen er Frauennamen gegeben hatte.

Reinhard selbst saß schief in seinem Rollstuhl. Der Mund stand offen, Speichel troff aufs Lätzchen. Gunhilds Mann war fünfundachtzig und damit fünfzehn Jahre älter als sie selbst. Doch in diesem beklagenswerten Zustand befand er sich erst seit wenigen Wochen. Ein nächtlicher Schlaganfall.

Während Gunhild ihren Mann fütterte, fiel ihr Blick auf das Hundekörbchen in der Ecke. Darin lag, lebensecht präpariert, Schnüffel, Reinhards Lieblingsdackel. Von seiner eigenen Hand erschossen.

Gunhild musste mit einem Mal an Sabrina denken, und wie sie ausgestopft hier im Zimmer säße. Ihr wurde kurzzeitig so übel davon, dass sie kaum weiterfüttern konnte. Vielleicht war es doch gut, dass Sabrina nun Asche war.

***

Winter saß gemeinsam mit dem Staatsanwalt bei Fock. Er hatte seinen Plan für weitere Ermittlungen vorgelegt. Fock schien wenig begeistert. «Ach, Winter, zwei Drittel davon können wir uns doch sparen!», rief er, während sein Blick über die Liste wanderte. «Es war doch sicher dieser Russe, wie heißt er, Preiß, beauftragt von der Mutter. Da passt alles. Nehmen Sie den doch erst mal in die Mangel, bevor Sie weitere Pläne schmieden. Was wollen Sie denn mit dem Steuerberater? Und mit dieser Kanadierin? Wieso zig legale Besitzer von Magnum-Waffen befragen, die mit dem Fall garantiert nichts zu tun haben? Und was um Himmels willen versprechen Sie sich davon, die Vogel-Kinder vorzuladen? Die wurden doch schon vernommen. Die haben den Täter nicht gesehen. Das bringt doch alles nichts. – Herr Nötzel, wie schätzen Sie das ein?»

Der Staatsanwalt schielte auf Winters Ausdruck, der einsam auf der Tischplatte aus Ahornholz lag. Cheftischqualität. In anderen Büros musste laminierte Spanplatte herhalten.

«Das kommt darauf an, wie viel Personal Sie übrig haben», urteilte Nötzel. «Ansonsten würde ich erst mal abwarten, was die beiden Verdächtigen sagen, diese Renate Vogel und ihr Mieter, der Herr Preiß. Falls die Herrschaften überhaupt zur Vorladung erscheinen. Für eine Verhaftung haben wir noch nicht genug in der Hand. – Was soll noch gleich das Motiv sein? Rache? Weil Thomas Vogel seine Mutter um ihr Erbe gebracht hat?»

«Gerade wegen des Motivs würde ich ja gerne die Kinder und die kanadische Freundin nochmals befragen», mischte Winter sich ein. «Vielleicht hat es irgendeinen aktuellen Anlass gegeben. Einen neuerlichen Streit. Oder dieser Preiß hatte den Auftrag, eine Wertsache aus dem Haus zu stehlen. Das würde auch zu der zerschossenen Tür passen. Jedenfalls haben wir bisher die Aussage von Renate Vogel, sie habe ihren Sohn seit acht Jahren nicht gesehen. Falls sie den Mord oder zumindest einen Raub in Auftrag gegeben hat, muss man sehr bezweifeln, dass ihre Angabe stimmt. Das können uns aber im Moment am ehesten die Kinder oder die Kanadierin sagen oder höchstens noch die Nachbarn der Vogels.»

«Einleuchtend», erklärte Nötzel nickend. «Also, aus Sicht der Staatsanwaltschaft würde ich diese drei Vernehmungen sehr befürworten. Machen Sie die zuerst, bevor Sie sich die Verdächtigen holen. Sie beide melden sich bei mir, wenn Sie denken, das ausermittelt ist oder etwas Unerwartetes geschieht.»

Während Nötzel zu einem anderen Präsidiumstermin entschwand, grummelte Fock Winter an: «Aber auf die überflüssigen Interviews mit haufenweise legalen Waffenbesitzern und dem Steuerberater verzichten Sie dann bitte. Ich kann nicht noch mehr Leute abstellen.» Er zupfte die rote Fliege zurecht und blätterte kritischen Blicks in der Akte. «Ach, was sehe ich denn hier. Das Gespräch mit den Vogel-Kindern hat diese Türkin vom KDD geführt, diese Aksoy. Ich weiß ja, dass Sie von deren Arbeit nichts halten. Verstehe, Sie wollen das mit einer kompetenteren Kraft wiederholen.»

Winter war das etwas peinlich. Zumal seine ehemalige Antipathie gegen Hilal Aksoy mit der Qualität ihrer Arbeit weniger zu tun gehabt hatte als mit ihrem penetrant politisch korrekten Gehabe.

«Also, ob die Vernehmung so schlecht geführt war, weiß ich nicht. Es ist nur so, wir haben eben jetzt Fragen, von deren Relevanz die Kollegin damals nichts wissen konnte.»

«Ja, ja. Besorgen Sie sich die Genehmigung. Wo sind denn die Kinder jetzt überhaupt?»

Das hatte Winter eben übers Vormundschaftsgericht herausbekommen: in einem Heim. Sonnenhof nannte es sich.

***

Wer kam ihm auf dem Weg zur Tiefgarage im verglasten Gang entgegen? Hilal Aksoys kleine, schlanke Gestalt, wie üblich im schwarzen Rolli, die dunklen Haare wie immer streng zurückgebunden. Winter sah sie von weitem kommen und spürte sofort, wie er nervös wurde, was sich erst besserte, als er sie schelmisch grinsen sah. Wenn sie seine erotische Entgleisung auf der Weihnachtsfeier humorvoll nahm, konnte er damit leben. Er grinste ebenfalls.

«Hallo», rief sie. «Wie man an deiner Farbe sieht, gab es auf Fuerteventura viel Sonne.»

War er rot geworden, oder spielte sie nur auf seine Bräune an? Immerhin hatte sie beschlossen, beim Du zu bleiben. Es hätte ja auch sein können, dass Aksoy ihrer beider alkoholische Verbrüderung auf der Feier längst bereute.

«Woher weißt du überhaupt, dass ich weg war?», fragte er.

Sie blieben mitten im Gang stehen.

«Hat mir Sven Kettler erzählt», sagte sie. «Den hab ich in Kalbach anlässlich dieses Doppelmords gesehen. Habt ihr schon rausbekommen, wer das war?»

«Angeblich war es die Mutter des Geschädigten in Gemeinschaft mit einem jungen Gehilfen.»

«Was? Ehrlich? Das ist ja unglaublich.»

«Es war Svens Idee, und einiges spricht dafür. Aber wir müssen noch eine Menge klären, bis das an die Staatsanwaltschaft geht. – Du, Hilal …»

«Ja?» Sie sah ihn an, Hände in den Taschen. Ihm fielen ihre cremefarbenen Augenlider auf, die ihn zusammen mit den dunklen, leicht vorgewölbten Augen an eine Schokoladensorte denken ließen, die er als Kind gerne gegessen hatte. Café-Crème. Hatte sie so geheißen?

«Du hast doch die Kinder befragt?», brachte er schließlich heraus.

«Ja. Die waren sogar eine Nacht und einen halben Tag bei mir zu Hause, bis das Jugendamt sie übernommen hat. Als ich da hinkam und die Kinder sah – du weißt, dass die sich zu der toten Mutter ins Bett verkrochen hatten?»

«Ja. Entsetzlich für die Kinder, das alles.»

Sie nickte. «In dem Alter muss es das Schlimmste sein, was passieren kann. Die eigenen Eltern tot und blutüberströmt zu finden. Weißt du, wo die Mädchen jetzt sind?»

«In einem Heim, leider. Also, Hilal, ich hätte ein paar zusätzliche Fragen an die beiden. Denkst du, es wäre klug, wenn du das machst? Weil sie dich schon kennen?»

Aksoy überlegte. «Vor allem wäre es bestimmt gut, wenn ich sie für die Vernehmung abhole. Damit sie nicht mit einem Fremden mitmüssen. Die Befragung kann dann auch die Spezialistin machen oder du, aber es würde die beiden sicher beruhigen, wenn ich mit dabei wäre. Die waren damals derart verstört … die Kleine hielt sich dauernd an der Großen fest. Sie wollten bei mir dann unbedingt in einem Bett schlafen. Und alle beide haben in der Nacht in die Hosen gemacht.»

«Schlimm. Also, ich organisiere das.»

«Okay. Dann bis bald.»

«Bis bald.»

Winter hatte das dringende Bedürfnis, Aksoy zum Abschied zu berühren, und sei es mit Handschlag. Aber er beherrschte sich.

***