Juni

Gegen Nachmittag klingelte das Telefon von Sven Kettler, mit dem Winter leider noch immer das Büro teilte. Das Gespräch war von Kettlers Seite aus einsilbig und rasch beendet. «Fock», erläuterte Kettler, als er aufgelegt hatte. Während er aufstand und seinen kleinen grünen Rucksack über die Schulter schwang, berichtete er, worum es gegangen war: «In der Uniklinik liegt eine Frau mit einer Pilzvergiftung. Ich soll pro forma checken, ob es Fremdverschulden sein kann. Irgendein blöder Arzt hat Anzeige gegen unbekannt erstattet. Dann werd ich mal losdüsen. Wir sehen uns morgen, hab später noch Tennis.»

Kaum war Kettler draußen, schwante Winter, dass Fock aus einem ganz bestimmten Grund Kettler und nicht ihn angerufen hatte: Fock konnte für das K 11 derzeit keinen größeren Fall gebrauchen. Eine Sonderkommission saß an einer Massenpanik mit Toten bei der diesjährigen Dippemess; es galt, um die zweitausend Zeugen zu befragen sowie Berge von Akten zu sichten. Wenn Fock nun Kettler entscheiden ließ, ob man in dem Vergiftungsfall ermitteln solle, dann war die Wahrscheinlichkeit hundert Prozent, dass die Antwort nein lauten würde. Denn wenn Kettler Arbeit vermeiden konnte, tat er es. Immerhin, redete sich Winter ein, zeigte dies, dass Fock allmählich begann, Kettler zu durchschauen.

In die zerstrittene Mordkommission 1 war ein halbes Jahr nach dem Doppelmord Vogel eine brüchige Ruhe zurückgekehrt. Kettler tat so, als wäre nie etwas gewesen. Winter hielt sich seinerseits mit Kritik an Kettlers Schlampereien zurück. Innerlich schäumte er oft, doch zum Glück hatten sie seit Januar nichts als Routine zu bearbeiten gehabt, keinen einzigen komplizierten Fall, in dem Kettlers Arbeitsweise größeren Schaden hätte anrichten können.

Ansonsten hoffte Winter auf den Prozess gegen den angeblichen Vogel-Mörder Wladimir Preiß, um sich vor Fock zu rehabilitieren und seine angekratzte Autorität in der MK zurückzugewinnen. Die Verteidigung Preißens war tatsächlich von Sonja Manteufel übernommen worden. Manteufel hatte Winter per Brief diskret wissen lassen, dass sie zuversichtlich sei, bei ihren Recherchen den wahren Täter eingegrenzt zu haben. Ihrer Meinung nach kam er aus den Kreisen von Sabrina Vogels Schulfreunden. Falls das Gericht dies auch so sah, würde es Wladimir Preiß freisprechen müssen. Das würde Fock hoffentlich zeigen, auf welchen seiner Beamten er sich in schwierigen Fällen verlassen konnte und auf welchen nicht.

***

Der Stationsarzt der Medizinischen Klinik holte Kettler an der Pforte ab. «Ich sag Ihnen mal, warum wir die Anzeige gemacht haben», verkündete er, während er Kettler in der vollverglasten Eingangshalle zum Fahrstuhl führte. «Die Patientin muss eine riesige Dosis Gift intus haben. Das war nicht nur ein einzelner falscher Pilz. Es geht ihr augenblicklich besser, deshalb können Sie auch mit ihr reden –»

«Das heißt, es geht bloß um Körperverletzung, nicht um Tötung?»

«Um versuchte Tötung geht es auf jeden Fall, und wahrscheinlich bleibt es nicht bei dem Versuch. Wir gehen davon aus, dass die Patientin sterben wird. Das haben wir ihr allerdings nicht gesagt.»

«Wieso soll sie sterben? Es geht ihr doch schon besser.»

«Das ist so bei Knollenblätterpilzvergiftungen. Das Erstsymptom ist akute Gastroenteritis, sprich Erbrechen und Durchfall. Dann tritt einen Tag lang eine vorübergehende Besserung ein, und dann erst entwickelt sich der Leberschaden, an dem man schließlich stirbt.»

«Wie, kann man denn da gar nichts machen?»

«Doch. Mit Infusionen kann man die Leber ganz gut stabilisieren. Die meisten erwachsenen Patienten mit Knollenblätterpilzvergiftung bekommen wir heutzutage durch. Aber unsere Frau Feldkamp hier hat einen Quick-Wert von gerade mal drei Prozent. Das ist ein prognostischer Faktor, der uns sagt, dass sie kaum eine Überlebenschance hat. Wir gehen davon aus, dass sämtliche Pilze, die sie bei der Mahlzeit gegessen hat, Knollenblätterpilze waren. Und das kommt uns doch etwas seltsam vor. Man müsste halt mal zu der Stelle gehen, wo sie gesammelt hat, nachsehen, was da so wächst.»

Sie waren an der Tür des Krankenzimmers angelangt. Der Arzt führte Kettler hinein. Es handelte sich um ein Vierbettzimmer. Kettler hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas Vorsintflutliches wie Vierbettzimmer heute noch gab. Bei seinem bisher einzigen Krankenhausaufenthalt, wegen eines Armbruchs, zugezogen durch einen Hechter beim Hallentennis, hatte er ein Zweitbettzimmer gehabt, und das zweite Bett war nicht einmal durchgehend belegt gewesen.

Die Kranke lag in einem der Betten am großen Fenster, zurückgelehnt auf einem weißen Kissen, mit endlos langen, lockigen roten Haaren, die ihren Oberkörper auf dem Kissen umgaben. Ihr junges Gesicht mit den grünen Augen war bleich und eingefallen. Kettler fühlte sich an irgendein bekanntes Gemälde erinnert, von einer jungen Frau mit roten Haaren, die dekorativ tot im Wasser lag. Ein ziemlich dummes Gemälde, wenn man wusste, wie Wasserleichen wirklich aussahen.

«So, Frau Feldkamp», sagte der Arzt, «hier hätten wir nun Ihren Kommissar. Geht es Ihnen denn so, dass Sie mit ihm sprechen können?»

«Klar», sagte sie lächelnd mit klarer, erstaunlich dunkler, schöner Stimme. «Mir geht es wirklich viel besser.»

«Gut, dann lasse ich Sie beide jetzt alleine.»

«Sven Kettler, Kriminalkommissar», stellte Kettler sich vor und streckte die Hand aus.

«Birthe Feldkamp», sagte die junge Frau.

Als er ihre kalte Hand losließ, fragte sich Kettler unwillkürlich, ob sie über die Haut Gifte ausschied. Hätte er sie überhaupt anfassen dürfen? Egal, er würde sich draußen die Hände waschen.

«Jetzt erzählen Sie mir mal, wie Sie sich diese Vergiftung geholt haben.»

***

Es war ein Rekord-Champignonjahr. Birthe hatte noch nie so viele auf einmal gesehen. Auf den Niddawiesen standen sie dicht an dicht, ein Prachtexemplar neben dem anderen.

«Sind die nicht giftig?», fragte Matthias, der schon deshalb mitgekommen war, weil ihm nach sechs Jahren Knast jeder Schritt in die Natur guttat.

«Unsinn», sagte sie und lachte, «das sind Champignons.»

«Ich weiß nicht. Champignons sehen doch anders aus.»

Birthe lachte wieder. «Du meinst die Zuchtchampignons, die man im Laden kauft. Aber das hier sind Wiesenchampignons. Glaub mir, ich bin seit der Kindheit Pilzexpertin. Außerdem habe ich letzte Woche hier schon mal eine Riesenportion geholt, und wie du siehst, lebe ich noch.» Sie kniete sich neben den Korb und begann, einen großen Pilz nach dem anderen abzuschneiden.

Matthias sah zweifelnd auf sie herab.

«Kann man die nicht mit Knollenblätterpilzen verwechseln?»

Sie lachte wieder. Sie war einfach nur glücklich, freute sich über jede Sekunde, die er bei ihr war. Sie hatte Matthias längst abgeschrieben gehabt, geglaubt, sie müsse sich ihre Erfüllung anderswo suchen. Doch dann war er zwei Wochen vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis ganz plötzlich umgeschwenkt: Er wolle doch bei ihr einziehen. Sein bereits gemietetes Zimmer im Studentenwohnheim gab er extra dafür auf. Damit hatte er sich für sie entschieden, und zwar in jeder Hinsicht. Jetzt war alles perfekt in ihrem Leben. Wirklich alles.

«Andere Leute verwechseln die vielleicht, ich nicht», erklärte Birthe. «Es ist ganz einfach: Knollenblätterpilze haben immer weiße Lamellen, Champignons nie.» Sie richtete sich auf, kam mit einem Pilz in der Hand ganz dicht an Matthias heran, sodass sie ihn berührte. «Hier, siehst du? Das sind die Lamellen. Bei reifen Champignons sind die braun bis dunkelgrau. Wäre das ein Knollenblätterpilz, wären sie weiß. Das kann man nicht verwechseln. Wenn du nach den Lamellen gehst, ist es idiotensicher. Außerdem wachsen Knollenblätterpilze nur unter Bäumen, nicht mitten auf der Wiese.»

Jetzt lachte er auch. Er küsste sie. Und dann ließ er sich tatsächlich dazu herab, mitzusammeln.

Seit vorgestern war er jetzt draußen, und gestern hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Seitdem schwebte Birthe auf einer Glückswolke. Er war so schön, einfach so schön, und so wunderbar. Das mit ihnen beiden war etwas ganz Besonderes.

Sie brauchten zu zweit bloß zehn Minuten, um einen Riesenkorb Pilze zusammenzubekommen. Weil Birthe das Zusammensein mit Matthias noch ein bisschen genießen wollte, schlug sie vor, sich auf eine Bank zu setzen. «Wann kochst du die?», fragte Matthias, während sie Händchen hielten wie Teenager. Es störte sie leicht, dass er seit seinem Einzug wie selbstverständlich annahm, dass sie den Haushalt inklusive Kochen voll übernahm, obwohl sie arbeitete, wenn auch jetzt nur noch mit halber Stelle. Okay, er kannte es nicht anders. Sie würde ihm schon nach und nach beibringen, dass man sich Hausarbeit auch teilen konnte.

«Ich habe doch heute Abend eine Sitzung bei Amnesty», erinnerte sie ihn. «Ich glaube, wir machen die Pilze morgen Mittag.» Absichtlich sagte sie «wir».

Als Birthe am nächsten Mittag zum Essen aus der Schule kam – die lag bloß fünf Minuten Fußweg entfernt –, roch es köstlich nach Pilzen. «Hey, du hast gekocht!», rief sie überglücklich. Sie kam ins Esszimmer und fand einen für zwei gedeckten Tisch vor, mit bereits aufgeschöpften Tellern. Er war doch wirklich perfekt. Mit Zwiebeln, stellte sie fest, und nach Butter roch es auch. Okay, die Küche sah chaotisch aus (sie sah es durch die Tür), aber das würde schon noch.

«Das Problem ist bloß, ich finde die Pilze irgendwie eklig», sagte Matthias. «Ich hab eben mal versucht … die sind so schleimig, und der Geschmack so streng.» Sie nahm sich eine Gabel und kostete von seinem Teller. «Die sind ganz wunderbar», dekretierte sie. «Hmm, sogar besonders gut. Nussig. Halt anders, als du es von diesen langweiligen Zuchtchampignons aus dem Supermarkt gewöhnt bist.»

«Nee, du, tut mir leid, ich kann das echt nicht essen. Willst du meinen Teller?»

Birthe seufzte. Auch ihre Kollegin Ann-Sophie und die Kinder hatten die selbst gesammelten Pilze letzte Woche verweigert. Diese Hasen hatten doch alle bloß Angst vor Knollenblätterpilzen, so ein Schwachsinn. Sie zog den Teller an ihren Platz und aß ihn auf. Und ihren eigenen noch dazu.

Gegen Abend merkte sie von einer Minute auf die andere, dass sich bei ihr ein schwerer Magen- und Darminfekt entwickelte. Eben noch alles in Ordnung, plötzlich eindeutig schwer krank im Bauch. Eine halbe Stunde später ging es ihr so elend wie noch nie in ihrem Leben. Sie kam aus dem Bad nicht mehr heraus, hielt aber ihre Krankheit noch bis in die frühen Morgenstunden für einen Norovirus, weil sie sich absolut sicher war, nur die richtigen Pilze gesammelt zu haben. Hatte sie nicht auch die von Matthias gesammelten überprüft, jeden einzeln?

Gegen vier Uhr nachts erlitt sie im Bad einen Kreislaufzusammenbruch. Nicht lange danach bekam sie mit, wie Sanitäter eintrafen und sie dahin transportierten, wo sie hingehörte: ins Krankenhaus.

***

Für Kettler war der Fall von dem Moment an erledigt, in dem der junge Arzt ihm gesagt hatte, die Kranke habe die Pilze selbst gesammelt. Als die Kranke nun noch erzählte, sie habe zwei Teller Pilze verspeist, da war Kettlers Ansicht nach auch geklärt, worüber der Arzt sich so gewundert hatte: die Höhe der Giftdosis.

«Ich weiß überhaupt nicht, wie es passiert ist», wiederholte unterdessen Birthe Feldkamp immer wieder. «Ich habe doch jeden Pilz einzeln überprüft.» Dazu dachte Kettler sich seinen Teil. Diese Pilzsammler, die irgendwelche giftverdächtigen Schwammerl in die Pfanne hauten, deren Genießbarkeit man erst mit einem Bestimmungsbuch überprüfen musste, die konnte er wirklich nicht verstehen. Wenn man von so einer Mahlzeit krank wurde, war man selber schuld und hatte nicht das Recht, von der Polizei zu erwarten, dass sie sinnlose Ermittlungen anstellte.

Kettler verzichtete auf weitere Nachfragen und verabschiedete sich, so schnell es ging. In der Tür kam ihm ein junger Mann mit kurzen dunklen Haaren entgegen. Ohne ein Wort schob Kettler sich an dem Fremden vorbei; er hörte noch, wie der etwas von schlechten Nachrichten erzählte. Draußen steuerte Kettler die nächste öffentliche Toilette an, um sich die Hände zu waschen.

Irgendwie war ihm der Spruch eines alten Biologielehrers in den Sinn gekommen: «Man sollte einen Knollenblätterpilz nicht einmal anfassen.»

***

Am folgenden Morgen lag Birthe Feldkamp mit gelbem, abwesendem, vor kaltem Schweiß glänzenden Gesicht auf der Intensivstation.

Sven Kettler traf um Viertel nach neun im Präsidium ein und wandelte erst einmal beschwingt zum Zimmer von Glocke und Ziering, um in der Tür stehend von seinem gestrigen Tennismatch gegen den Top-Sportler seines Vereins zu schwärmen. Unglaubliche Volleys habe er geliefert und nur knapp verloren.

«Was hast du denn betreffs der Pilzvergiftung gestern herausbekommen?», fragte Winter, als Kettler sich schließlich an seinen Schreibtisch setzte.

«Das ist nichts für uns», verkündete Kettler. «Ich schreib jetzt einen Zweizeiler, damit die Staatsanwaltschaft die Sache abschließen kann.» Nachdem er fertig getippt hatte, las Kettler, der nie lange still sein konnte, Winter launig vor, was er verfasst hatte: «‹Aufgrund der Tatsache, dass Frau Feldkamp die von ihr verzehrten Pilze nach eigener Aussage selbst gesammelt hat, ist die Schuldfrage bereits geklärt, und der Sachverhalt fällt nicht in den Aufgabenbereich der Polizei.› – Hab ich doch klasse formuliert, oder?»

Winter sah auf. «Wie, sagst du, heißt die Frau?»

«Ähm – Feldkamp, Birthe Feldkamp.»

«Mensch, Sven, das ist doch eine Zeugin im Fall Vogel. Eine Schulfreundin von Sabrina Vogel.»

«Ach, der alte Doppelmord. Ich wusste erst gar nicht, wovon du redest. Tja, Zufälle gibt’s …»

«Ich wäre mir nicht sicher, ob das wirklich ein Zufall ist.»

«Was soll das denn sonst sein als Zufall? Da gibt es doch überhaupt gar keinen Zusammenhang.»

Winter war der Meinung, dass man nach möglichen Zusammenhängen erst einmal forschen müsste. Wie jedoch zu erwarten, sah Kettler das anders. Ganz anders.

«Ich spreche mal mit Fock in der Sache», beschloss Winter, um Vorwürfen wegen Eigenmächtigkeit oder mangelnder Absprache zu entgehen.

«Bitte, tu das», sagte Kettler schnippisch.

In Focks Vorzimmer erfuhr Winter von Hildchen, dass Fock da sei, aber gerade telefoniere. Eine Minute später ging die Tür auf, und Fock erschien. «Ach, Winter, da sind Sie ja schon», waren seine Worte. Übles ahnend, folgte Winter seinem Chef in das große Büro, wo hinterm Schreibtisch repräsentativ ein abstraktes Ölbild prangte, so, dass es der Besucher sehen konnte, nicht aber Fock von seinem Arbeitsplatz aus. Fock setzte sich und schob sich die rote Fliege zurecht. «Also? Ich höre?»

Winter setzte sich ebenfalls. Da Fock offensichtlich von Kettler telefonisch vorinformiert war, sparte er sich lange Erklärungen. «Ich denke, dass wir in diesem Vergiftungsfall ermitteln sollten», sagte er rundheraus. «Die Geschädigte ist immerhin eine Bekannte der ermordeten Sabrina Vogel aus unserem Januarfall. Gerade bei jemandem, der häufig Pilze sammelt, ist es leicht möglich, dass ein anderer gezielt Giftpilze untermischt.»

«Lieber Herr Winter», begann Fock nach einer Kunstpause, die Hände theatralisch zusammengelegt. «Haben Sie schon mal von der Binsenweisheit gehört, dass über sechs Ecken jeder auf der Welt jeden kennt? Es ist doch gar nichts Ungewöhnliches, wenn eine Person zufällig mit dieser Sabrina Vogel bekannt ist. Die tote Frau Vogel kannte Tausende von Leuten. Die Staatsanwaltschaft kann doch nicht jedes Mal, wenn sich jemand von denen in den Finger schneidet, ein Ermittlungsverfahren beginnen!»

«Sabrina Vogel kannte mitnichten Tausende von Leuten. Im Gegenteil, die hatte einen sehr kleinen Bekanntenkreis. Und –»

«Winter, jetzt hören Sie doch auf! Sie haben sich da in was verrannt. Sie haben eine Obsession mit diesem Vogel-Fall, dabei ist der längst geklärt. Ich habe mich nur freundlicherweise bislang einer Abmahnung enthalten. Aber ich weiß sehr wohl, dass Sie an Ihrem Rechner immer wieder irgendwelche Suchanfragen machen, die mit dem Fall Vogel zusammenhängen, obwohl ich Ihnen jede weitere Ermittlung in dem Fall ausdrücklich verboten habe.»

Winter traf fast der Schlag. Kettler schnüffelte nicht nur an seinem Rechner herum, sondern trug das auch noch an Fock weiter?

«Ermittlungen hab ich keine mehr gemacht», verteidigte er sich. «Ich habe mir lediglich mal in einer freien Minute oder zum Essen einen Zeitungsartikel zu dem Doppelmord angesehen. Aber Entschuldigung, Herr Fock, woher wissen Sie denn das?»

«Ja, Gott, wenn Kollegen Ihren Rechner benutzen, sieht man das doch, da gibt es doch irgendwas, woran man erkennt, welche Internetseiten aufgerufen wurden.»

«Den Browser-Verlauf. Sie haben einem Kollegen aufgetragen, bei mir auf dem Rechner im Verlauf zu schnüffeln?»

«Also bitte, Herr Winter, jetzt haben Sie sich mal nicht so. Ich habe überhaupt niemandem was aufgetragen, das kam zufällig raus. Und Ihr Rechner ist nicht Ihrer, sondern gehört dem Präsidium, und nichts, was Sie darauf treiben, ist privat. So, und jetzt zum allerletzten Mal: Der Fall Vogel ist abgeschlossen, und wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, wie Sie versuchen, irgendwas herauszufinden, um der Staatsanwaltschaft den Prozess zu vermasseln, dann gibt es eine Abmahnung. Sie hängen da völlig irrealen Hirngespinsten nach, und das alles nur aus Eifersucht auf Sven Kettler. Glauben Sie nicht, dass ich nicht weiß, was Sie antreibt.»

Winter schwieg ein paar Sekunden, aufgewühlt und kurz vor einer Explosion, dann fiel ihm zum Glück eine akzeptable Replik ein:

«Nein, Chef. Mich treibt hauptsächlich der Wunsch nach Aufklärung von Verbrechen an. Ich dachte, das sei hier mein Job. Und den mache ich seit fünfzehn Jahren ziemlich gut.»

Dann verabschiedete er sich und ging.

Irgendwie schien er die richtigen Worte getroffen zu haben. Als er schon draußen auf dem Flur war, hörte er Fock mit unterdrückter Stimme rufen: «Winter! Herr Winter! Nun warten Sie doch mal.» Winter blieb stehen, gespannt, was da kommen mochte. Fock hatte einen merkwürdigen, verschmitzt-vertraulichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Als er Winter erreichte, legte er ihm gönnerhaft die Hand auf den Rücken. «Nun denken Sie bloß nicht, ich wüsste Ihre Qualitäten nicht zu schätzen. Ich weiß ja, dass Sie ein bewährter Mann sind, und will Sie auch nicht verlieren. Nun will ich Ihnen mal erzählen, was ich neulich so nebenbei für Sie getan habe, ohne es an die große Glocke zu hängen. Wir hatten ja im K 11 wieder eine Ermittlerstelle frei, und da hatte sich doch Ihre besondere Freundin, diese Türkin vom KDD, beworben. Ich hätte sie ja am liebsten nicht genommen, aber wie das so ist heutzutage, sie hatte durchgehend Eins-a-Evaluationen, mit wem auch immer sie dafür auf dem Sofa gelegen hat, und noch Bestnoten im Examen. Die Dame ist offensichtlich mit einem extrem unsympathischen Ehrgeiz ausgestattet. Jedenfalls, sie war nach Aktenlage besser als die Mitbewerber. Wenn ich dann jemand anderen vorziehe, da weiß man doch bei der, sie rennt zur Frauenbeauftragten und veranstaltet ein Riesengezänk wegen Diskriminierung. Als würde die Regelung nicht in Wirklichkeit Männer diskriminieren, schließlich heißt es doch: Bei gleicher Qualifikation sind Frauen bevorzugt einzustellen. Aber wem sage ich das. Jedenfalls, ich habe mich gezwungen gefühlt, diese Aksoy zu nehmen. Und dann sagt sie mir im Gespräch, sie will am liebsten zu Ihnen ins Team. Da hab ich mich aber auf die Hinterbeine gestellt und der Dame mitgeteilt: Das ist definitiv nicht drin. Hab ihr klipp und klar gesagt, Sie hätten im letzten Jahr schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht und ich würde meinem besten Mitarbeiter nicht jemanden ins Nest setzen, den er ausdrücklich nicht haben will. Habe ich Ihnen da nicht einen großen Gefallen getan, sagen Sie mal, Winter?»

Winter war entsetzt. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: «Chef, Sie müssen da irgendwann mal was missverstanden haben. Ich halte die Frau Aksoy nicht für inkompetent. – Wann war das denn, dass Sie mit ihr gesprochen haben?»

«Vor drei Wochen ungefähr. Ende Mai.»

Seit etwa einem Monat hatte Winter Hilal Aksoy nicht mehr gesehen. Er richtete es öfter so ein, dass er ging, wenn sie kam, sodass sie sich «zufällig» unten trafen. Allerdings nicht zu oft, es sollte nicht auffallen. Zuletzt hatte er den Eindruck gehabt, dass Aksoys Dienstzeiten sich verschoben hatten.

«Wann fängt sie denn im K 11 an?»

«Sie ist ja schon hier. Seit dem Ersten des Monats.»

Und hatte ihn gemieden wie die Pest. Winter wurde ganz flau im Magen.

Als er tief in Gedanken in sein Büro zurückkehrte, fragte Kettler fröhlich: «Na, was hat Fock gesagt?»

«Was du ihm gesagt hast, dass er sagen soll», brummte Winter.

Doch das war akut nicht einmal sein größtes Problem.

***

André Bründl traute Professor Grafton inzwischen alles zu. Zum Beispiel diese Ausgrabung am Rand des Rothaargebirges, ein angeblich über siebentausend Jahre altes Skelett, dem man einen goldenen Stab mit ins Jenseits gegeben hatte. Der Stab trug rätselhafte mythologische Motive, die an Altägypten erinnerten. Doch das Grab war zweitausend Jahre älter als die erste ägyptische Hochkultur. Wie, wenn das Skelett in Wahrheit viel jünger war? Oder der sensationelle Stab eine moderne Fälschung, hergestellt in einer diskreten Werkstatt in Osteuropa oder im Orient, und von Grafton in die Grabung geschmuggelt? Im Institut munkelte man, Grafton habe sich den goldenen Stab als bedeutenden Fund für 100000 Euro vom Land Hessen abkaufen lassen.

Doch als André seinen Bruder anrief und ihm von dem Verdacht berichtete, sagte der bloß: «Verrenn dich nicht.»

André fühlte sich mehr und mehr wie in einem kafkaesken Albtraum, in dem sich alle gegen ihn verschworen hatten.

***

Winter musste es jetzt tun. Aufschieben würde es nur schwieriger machen. Nachdem er nachgesehen hatte, in welchem Raum Aksoy ihren neuen Arbeitsplatz hatte, ging er geradewegs hin, klopfte, öffnete die Tür. Aksoy war da, sah ihn beinahe erschrocken an. Natürlich war sie nicht alleine: Jürgen Musso, ein festes Mitglied der MK 2, saß ihr am Doppelschreibtisch gegenüber. Winter hielt sich nicht lange mit Grußworten auf. «Hilal, kommst du mal? Ich müsste einen Moment mit dir alleine sprechen.»

Sie kam, wenn auch unwillig, lehnte sich draußen an die Wand, verschränkte die Arme wie schützend vor dem schwarzen Rolli und sah ihn kühl an.

«Ich habe eben mit Fock gesprochen, und dabei erzählte er mir, dass du dich hier beworben hattest und dass er dir gesagt hätte, dass er dich keinesfalls in mein Team setzen kann, weil ich das nicht wolle. Ich wollte dir nur sagen, dass das totaler Unsinn ist. Ich hätte dich sofort genommen, wenn ich gewusst hätte, dass du dich beworben hast. Warum hast du mir das eigentlich nicht gesagt? Dass du dich bei uns bewerben willst, meine ich?»

«Ich wollte da nichts Persönliches reinbringen», sagte sie, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. «Also, ich wollte nicht, dass du denkst, ich erwarte, dass du meine Bewerbung unterstützt, bloß weil wir … öfter miteinander reden. Aber da hätte ich mich ja auch geschnitten gehabt.» Sie lachte traurig.

«Was? Unsinn. Ich sagte doch, ich hätte dich gern im Team.»

Sie hob die Brauen, stand noch immer genauso defensiv da. «Ach, tatsächlich?», sagte sie trocken. «An meinen fachlichen Qualitäten kann es ja wohl kaum liegen. Du hast Fock gesagt, dass du mich für eine unfähige Polizistin hältst.»

Winter stöhnte. «Hilal, ich schwöre dir, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Sollte ich zu Fock wirklich was Negatives über dich gesagt haben, dann war das, bevor ich dich richtig kannte. Vielleicht letzten Sommer, als wir uns bei der Feier so in die Haare bekommen haben. Falls du dich daran noch erinnerst.»

«O ja, das tue ich», sagte sie mit einem leichten Grinsen.

Winter seufzte. «Ich brauch dir nicht zu sagen, dass mir mein Benehmen bei diesem Sommerfest heute verdammt peinlich ist. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich ziemlich betrunken war.»

«Wozu du auf Festen wohl neigst», sagte sie verschmitzt. «Doch wie man weiß, in vino veritas

Winter dachte an die letzte Weihnachtsfeier und versuchte, nicht rot zu werden. «Hattest du Latein in der Schule?», fragte er, um abzulenken.

«Ja», sagte sie, «hat mir übrigens Spaß gemacht. Ist so ähnlich wie Türkisch.»

«Was? Latein ist so ähnlich wie Türkisch?»

«Genau, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.» Ihr Ton wurde wieder feindselig. Sie nahm endlich die verschränkten Arme herunter, steckte die Hände in die Hosentaschen. «Okay, Andi. Beenden wir das jetzt. Ich war gerade drei Wochen sauer auf dich und hab mir gesagt, ich werde dir nie wieder vertrauen. Ich weiß nicht, ob ich davon so schnell wieder runterkomme.»

«Hilal …», sagte Winter und streckte unwillkürlich die Hand nach ihr aus.

«Stopp», sagte sie, schob seinen Arm zurück und verschwand flink und ohne ein weiteres Wort in ihrem Büro.

Winter stöhnte, lehnte sich gegen die Wand. Auf genau diese bittersüße Art unglücklich war er wahrscheinlich nicht mehr gewesen, seit er achtzehn war.

***

Bei der Webdesignerin Andrea Vogel klingelte das Telefon. «Vogel, Webbits-Internetagentur», meldete sie sich.

«Hallo», fiepte auf der anderen Seite eine Kinderstimme. «Ich bin die Merle. Bist du die Andrea?»

«Ja.» Andrea Vogel war verwirrt bis belustigt. Sie kannte kein kleines Mädchen namens Merle. «Warum hast du denn bei mir angerufen?», fragte sie freundlich.

«Du hörst dich lieb an», reagierte das Kind. Dann begann es zu flüstern: «Pssst! Das darf jetzt niemand hören. Ich hab der einen Lehrerin gesagt, ich ruf meine Mutter an, damit sie mich abholt. Bloß, das stimmt gar nicht. Ich hab einfach dich angerufen. Hast du Kinder?»

«Nein, leider nicht», lachte Andrea Vogel, die sehr gerne welche gehabt hätte.

«Wohnst du ganz alleine?», fragte das Mädchen weiter.

«Ja, tu ich.»

«Ich mag gern Bücher angucken und Blockflöte spielen und am Computer spielen, und bei Plätzchen mag ich Vanillekipferl am liebsten. Und du?»

Andrea lachte. «Ich mag das alles auch», sagte sie wahrheitsgemäß, obwohl sie die Blockflöte schon vor Jahrzehnten gegen eine Querflöte eingetauscht hatte.

«Oh, nein, sie kommt», flüsterte Merle heimlichtuerisch. «Tschüs, Andrea!»

Man ahnte, wie dem Mädchen der Hörer unsanft entrissen wurde. «Hallo?», sagte eine schroffe junge Frauenstimme. «Sind Sie die Mutter von der Merle?»

«Nein, ehrlich gesagt kenne ich das Mädchen gar nicht. Das ist ja eine ganz Süße.»

«Von wegen. Die hat es faustdick hinter den Ohren. Die hat mich eben angelogen. Tut so altklug, aber erzählt Lügengeschichten. Sie kennen die Merle wirklich überhaupt gar nicht? Merle Vogel? Jedenfalls behauptet sie, dass sie so heißt. Sie hat im Telefonbuch auf Ihren Namen gezeigt.»

«Nein, ich kenne sie leider nicht.»

«Verdammt, dann weiß ich jetzt nicht weiter. Ich bin Studentin und mach hier die Malstunde in einem Kinder-Ferienprogramm bei der Gemeinde. Um vier ist eigentlich Schluss, die anderen sind schon alle weg, und sie taucht plötzlich von irgendwoher auf und sagt mir, sie kennt den Weg nach Hause nicht, und ihre Mutter sei nicht gekommen, sie abzuholen, und angeblich weiß sie die Telefonnummer von ihrer Mutter nicht, und ich finde sie in keiner Kartei. Keine Ahnung, wie lange ich jetzt noch hierbleiben muss. Okay, Entschuldigung noch mal, und auf Wiederhören.»

Andrea war noch ganz in Gedanken über den seltsamen Vorfall, da klingelte es schon wieder. Sie hob ab. «Hallo, Andrea», flüsterte es vom anderen Ende. «Hallo, Merle», sagte Andrea und lachte.

«Psst, wir müssen ganz leise sein, sonst kommt sie gleich wieder. Du, Andrea? Willst du meine neue Mami werden? Kannst du mich abholen? Du musst nur sagen –»

In dem Moment war die gestresste Studentin wieder da und entriss dem Kind den Hörer. «Hallo, sind Sie das wieder? Dacht ich’s mir doch. Die nervt mich hier bis aufs Blut. Sorry, tschüs.»

Nun blieb das Telefon still. Andrea saß auch ganz still. Nach und nach reifte der Gedanke, dass hier etwas grundlegend nicht stimmte. Dieses Kind war kein fröhlicher Frechdachs. Sondern das Mädchen musste verzweifelt sein, um zu solchen Mitteln zu greifen. Wurde es von den wirklichen Eltern misshandelt?

Andrea wollte zurückrufen. Doch irgendwie musste sie sich verdrückt haben. Der Rückruf über die Taste funktionierte nicht. Und die Nummer war als unbekannt hereingekommen.