Drei Tage später saß Winter auf der Treppe vorm «Casino», dem Mensagebäude der neuen Uni, sah auf den Teich und aß ein Stück Kuchen, das er sich aus der Cafeteria geholt hatte. Der neue Unicampus im Grüneburgpark war schön, keine Frage. Die Kombination aus Natursteinfassaden und alten Parkbäumen schuf eine gute Atmosphäre. Andererseits fand Winter die Architektur hier zu bombastisch, zu monumental, zu hart, zu dicht am Nürnberger Reichsparteitagsgelände.
Ein wenig beneidete er die jungen Leute, die auf der Treppe diskutierend an ihm vorüberzogen oder auf der Wiese unter Bäumen lagen und versunken in Büchern blätterten. Ein Studium in einem Fach wie Geschichte oder Archäologie hätte ihn auch interessiert. Das war etwas anderes als die nüchterne Ausbildung an der Polizeifachhochschule. Doch ein Studium aus reinem Interesse am Fach hatte für ihn damals nicht zur Debatte gestanden. Eine Ausbildung mit sicherer Berufsperspektive war gefragt. Winters Vater war Baggerführer und gelegentlich arbeitslos gewesen, seine Mutter war putzen gegangen. Wenn man aus so kleinen Verhältnissen kommt, hängt man seine Träume nicht hoch. Schon das gute Abitur war ein unerwarteter Erfolg gewesen, der seine Eltern neben Stolz auch einen gewissen Argwohn einflößte, weil sie befürchteten, er könne ihrem Sohn «Flausen in den Kopf setzen», wie etwa ein langes, zielloses Studium. Winter fragte sich plötzlich, was aus ihm geworden wäre, wenn er im Bewerbungsverfahren beim Sporttest durchgerasselt wäre. Knapp war es gewesen, das wusste er noch. Vielleicht hätte er dann doch Geschichte studiert. Sein Leben wäre völlig anders verlaufen. Er hätte Carola, die Wiesbadenerin, niemals kennengelernt, hätte andere Kinder oder keine. Seltsam, dass Glück oder Pech bei einer Bewerbung über ein ganzes Leben entschied.
Die Ermittlungen konzentrierten sich im Moment auf Grafton, der nach Winters Verdacht mindestens auf eines, aber vielleicht sogar auf beide Opfer geschossen hatte. Graftons verschleierndes, betrügerisches Verhalten betreffs Bründls Tasche sprach gegen ihn. Die blaue Sporttasche war inzwischen von Mark eindeutig als Andrés identifiziert. In dieser Tasche, die ursprünglich neben dem verletzten Bründl auf der Treppe gelegen hatte, mussten sich nach ihrer Rekonstruktion der Kinder- und der Ziegenschädel befunden haben, die Bründl stehlen wollte. Grafton hatte die Tasche später versteckt, und getrennt davon den darin enthaltenen Bohrer und andere Utensilien. Die beiden Schädel hatte er an ihren Platz im Schrank zurückgestellt. Höchstwahrscheinlich weil er nicht wollte, dass die Ermittler die wahren Hintergründe von Bründls Aktivitäten im Haus erkannten. Deshalb hatte Grafton zunächst sogar behauptet, den Schrank selbst angebohrt zu haben. Später hatte er sich eines Besseren besonnen und versucht, es so aussehen zu lassen, als sei aus dem Schrank ein wertvolles Goldobjekt verschwunden. Das sollte wohl Diebstahl aus Habgier vortäuschen, durch einen unbekannten Dritten, der nicht nur Frau Tamm, sondern auch seinen Diebeskompagnon versucht hatte zu beseitigen. Doch André Bründl hatte keinen Kompagnon gehabt, der für die Schüsse verantwortlich sein konnte. An seinen Händen waren definitiv keine Schmauchspuren gewesen, während der Befund bei Grafton «unklar» war. Irgendwie erschien es Winter zu viel des Zufalls, dass eine weitere unbekannte Person von außen gekommen sein sollte, ausgerechnet während André Bründl dabei war, Graftons Schrank auszuräumen.
Winter malte sich den möglichen Tathergang folgendermaßen aus: Bründl klingelt, stellt sich als Student vor, der etwas holen müsse. Frau Tamm lässt ihn ein, aber ruft bei Grafton in der Uni an, um zu fragen, ob der Besuch des Doktoranden seine Richtigkeit habe. Grafton ahnt Übles und macht sich eilig auf den Weg. Die Fahrtdauer vom Grüneburgpark zu Graftons Haus betrug unter fünf Minuten, das hatte Winter getestet. Um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, parkt Grafton in der Schumannstraße und klettert über die Mauer in den Garten. Die Waffe, einen Jagdrevolver, hat er entweder dabei, oder er bewahrt sie im Arbeitszimmer auf. Nachdem er Frau Tamm gefragt hat, ob Bründl noch da ist, er also überhaupt noch Gelegenheit hat, etwas gegen ihn zu unternehmen, beschließt er, erst die Putzfrau zu erschießen, um sie als Zeugin auszuschalten. Er lässt sie am Schreibtisch weiter ihre Arbeit machen und geht zum Schießen raus auf die Terrasse, um den Eindruck zu vermitteln, der Täter sei ein von dort gekommener Fremder. Nachdem Frau Tamm tot ist, begibt Grafton sich eilends in die Diele, wo ihm auf der Treppe Bründl entgegenkommt, der das Haus verlassen will. Grafton schießt auf Bründl, zielt nicht besonders gut, weil Bründl sich bewegt. Doch nachdem das Opfer gefallen ist und reglos liegen bleibt, glaubt Grafton, es tödlich verletzt zu haben. Um sich ein Alibi zu verschaffen, verschwindet er, so schnell er kann. Er beseitigt unterwegs die Waffe und möglicherweise auch Handschuhe und Oberbekleidung, die er während der Tat getragen hat. Dann begibt er sich wieder zur Uni, wo er hergekommen ist.
Die Voraussetzung dieses Szenarios war natürlich, dass an André Bründls Verdacht etwas dran war, Grafton habe Forschungsergebnisse gefälscht. Nur wenn Grafton etwas zu verbergen hatte, wenn Bründls Pläne ihm ernsthaft schaden konnten, hatte er ein plausibles Motiv für ein derart kaltschnäuziges Gewaltverbrechen.
Drei Tage hatte Winters Team nun auf dem Unicampus im Grüneburgpark Leute befragt. Grafton selbst gab als Alibi an, am Tattag um kurz nach elf wegen eines Forschungsprojekts bei einem Kollegen vorstellig geworden zu sein. Der Kollege konnte sich erinnern, dass Grafton da war, doch seine Zeitangabe lautete: «um die Mittagszeit, eher nach zwölf». Eine eingeschüchtert wirkende Sekretärin beteuerte, Grafton sei am Tattag von zehn bis vierzehn Uhr ununterbrochen im Institut gewesen. Das Sekretariat lag allerdings um mehrere Türen und eine Flurecke entfernt von Graftons Büro. Die Sekretärin konnte auf Nachfragen keine Angabe machen, woher sie wisse, dass ihr Chef die ganze Zeit über da gewesen sei. Ein- oder zweimal hatte sie ihn wohl während des Vormittags gesehen, aber wann dies genau gewesen war, wusste sie nicht mehr.
An Graftons Schuhen hatten sich Blut- bzw. Gewebespuren beider Opfer gefunden. Doch das sagte wenig, weil der Professor – klugerweise, falls er der Täter war – am Nachmittag nach Ankunft der Polizei im Erdgeschoss der Villa umhergelaufen war, quer durch die von den Rettungssanitätern überall verteilten Spuren.
Winter hatte also gegen Grafton keine stringenten Sachbeweise in der Hand. Der Einzige, der definitiv wusste, wer der Täter war, lag im Koma. Die Ärzte machten inzwischen wenig Hoffnung, dass sich das jemals ändern würde. Jetzt wankte leider auch das eine, was überhaupt ernsthaft gegen Grafton sprach: das Motiv. Eben hatte Winter in der Sache der Radiokarbondatierungen mit einem Archäologenkollegen von Grafton gesprochen, einem Experten für die römische und griechische Antike. Der Mann hieß Behrwald, war ein Pfeifenraucher mit langem Vollbart und dem Look eines Philosophen des 19. Jahrhunderts. «Zitieren Sie mich nicht!», hatte Behrwald begonnen. «Aber wenn Sie meine Privatmeinung hören wollen: Grafton wird überschätzt, der produziert mehr heiße Luft als ernsthafte Forschung. Er hatte bloß Glück, dass er mit einem außergewöhnlichen Fund und einer Sensationsdatierung bekanntgeworden ist.»
«Wäre es denn möglich, dass eben diese Sensationsdatierung falsch ist?», hatte Winter gefragt.
Professor Behrwald kaute an seiner kalten Pfeife. Im Haus herrschte Rauchverbot. «Ich kenne mich ehrlich gesagt mit der Radiokarbonmethode nicht besonders gut aus», begann er. «Wir brauchen das in der klassischen Antike selten. Oft haben wir nur Steine, und die lassen sich nicht datieren. Außerdem weiß man wegen Inschriften oder Münzen meistens schon, um welche Zeit es geht. Natürlich gibt es auch bei uns Datierungsunsicherheiten, nehmen Sie den Trojanischen Krieg …» Der Professor geriet ins Dozieren über die zahllosen archäologischen Schichten in dem türkischen Burghügel, unter dem Schliemann Troja vermutete, und die heiß debattierte Frage, bei welcher dieser Schichten es sich tatsächlich um das homerische Troja handelte und ob wiederum Homers Troja mit dem hethitischen Wilusa identisch war. Winter lauschte fasziniert. Archäologie war ähnlich wie Kriminalarbeit, man hatte Indizien über ein vergangenes Geschehen, man hatte mehr oder minder verlässliche Zeugenaussagen, man musste rekonstruieren. Nach fünf Minuten stoppte Winter den Redefluss des Professors. «Zurück zu Grafton. Halten Sie es grundsätzlich für denkbar, dass dessen Radiokarbondatierungen nicht in Ordnung sind? Wäre es technisch möglich, dass das niemandem auffällt?»
«Kann ich mir nicht vorstellen», murmelte der Professor. Grübelnd kaute er am Pfeifenstil. «Ich hatte allerdings vor einiger Zeit eine Doktorarbeit als Zweitgutachter, da hatte der Doktorand quasi eigenhändig datiert und sehr viel jüngere Daten für einen Fundort der Rautenkeramik herausbekommen als Grafton. Grafton sagte mir damals, das sei eine Pfuscharbeit, der Doktorand hatte das Gerät wohl ohne Aufsicht eines Experten und ohne Eichung benutzt. Um so eine C-14-Datierung durchzuführen, muss man hochspezialisiert sein. Das kann ein Doktorand nicht einfach im Alleingang Pi mal Daumen machen.»
«Hieß der Doktorand zufällig André Bründl?»
«Kann sein. Die Arbeit haben wir abgelehnt. Grafton sagt immer, wer nicht zeigt, dass er’s hundertprozentig draufhat, den lässt er nicht durchkommen. Es gebe genügend halbqualifizierte Pfuscher. In der Arbeit war außer der falschen Datierung noch eine Sache mit einem Brunnen, den der Doktorand fälschlich dem Fundensemble zugeordnet hatte.»
«Woher wissen Sie das? Haben Sie die Fundstelle selbst untersucht?»
«Nein, natürlich nicht. Aber Grafton …» Der bärtige Rom-Experte hielt inne, schaute zunehmend entsetzt drein. «Sie wollen doch nicht sagen, dieser Bründl lag richtig mit seiner Datierung, und Grafton wollte ihn deshalb weg vom Fenster haben?»
«Ob das möglich ist, will ich von Ihnen wissen.»
Der Professor stand auf, stellte sich tief in Gedanken vor sein Bücherregal und kehrte Winter den Rücken zu. Schließlich wandte er sich kopfschüttelnd um.
«Das kann eigentlich nicht sein. Es war damals eine solche Sensation, als Grafton behauptete, er hat die mit Abstand älteste Landwirtschaftskultur in Europa entdeckt, ausgerechnet in Norddeutschland. So etwas bleibt doch nicht ungeprüft. Ach, wissen Sie was? Ich weiß, wo ich das nachsehen kann.» Flink setzte Behrwald sich an den Rechner, legte die Pfeife beiseite. «Wir haben hier ein Fundinventar», sagte er. «Von Funden, die von Teams der Goethe-Uni ausgegraben wurden und im Besitz der Uni sind. Da steht immer dabei, ob ein Fund technisch datiert wurde und wann und wo. Ich sehe gerade mal nach, was wir an Rautenkeramik dahaben.»
Auf der langen Liste standen auch die beiden Schädel, die André Bründl hatte entwenden wollen. Sie waren es, mit deren Datierung Grafton 1989 erstmals in die Presse gekommen war. «Wusst ich’s doch», sagte der Professor erleichtert. «Die Datierungen sind in beiden Fällen von unabhängigen Laboren überprüft worden. Beim Kinderschädel war’s die Uni Los Angeles, der Ziegenschädel wurde in Oxford nachgetestet. – Also, die Datierungen von Grafton sind korrekt.»
Damit war Winters Theorie von Graftons Täterschaft gestorben. Er musste ab jetzt ernsthafter in die Richtung ermitteln, dass Grafton selbst das Ziel des Mordanschlags gewesen war, wie es die Kollegen von Anfang an vermutet hatten.
Winter hatte sein Stück Kuchen auf der Treppe vorm Casino fertig gegessen und warf den Pappteller in einen Mülleimer, als ihn eine Frau ansprach.
«Sie sind doch Polizist, oder?»
«Ja.» Er sah sie prüfend an, eine Frau um die vierzig im leuchtend roten Kapuzenshirt, die Haare halblang mit etwas Grau um die Schläfen, ein Gesicht mit vielen Lachfältchen.
«Ich hatte Sie gestern mit Herrn Kissling reden sehen. Sie wollten was über Ihre Lordschaft Grafton wissen, stimmt’s?»
«Richtig. Können Sie mir da weiterhelfen?»
«Das kommt drauf an, was Sie wissen wollen. Mir ist aufgefallen, dass Sie nur die älteren Professorenkollegen befragt haben. Es kann sein, dass die nicht die richtige Quelle sind. Die kennen den doch bloß aus der Fachbereichssitzung.»
«Ich kann es gerne mit Ihnen versuchen. Andreas Winter, Kripo Frankfurt. Wer sind Sie?»
«Ute Voss, ich bin Post-Doc und Dozentin für Paläobotanik im Studiengang Archäometrie. Zu unserem Studiengang sollte eigentlich auch eine Ausbildung an Graftons C-14-Apparat gehören. Das sagt Ihnen jetzt nichts, aber es ist ein ziemlich wichtiges technisches Hilfsmittel in der Archäologie und Paläoanthropologie.»
«Für Datierungen, richtig?»
«Genau. Jedenfalls, Grafton hat sich standhaft geweigert, jemanden außer seiner eingeschworenen Jüngerschaft an den Apparat zu lassen. Und die Unileitung hat ihm das durchgehen lassen. Wie so ziemlich alles andere auch.»
Winter ließ sich zum Gespräch mit Ute Voss auf der Wiese vor dem Hauptgebäude nieder, unter hängenden Weidenzweigen, die windbewegte Schatten auf ihr Gesicht warfen.
Sie habe selbst zwei Semester Ur- und Frühgeschichte bei Grafton studiert, erzählte sie, und das sei so furchtbar gewesen, dass sie danach zum Nebenfach Geologie gewechselt sei. «Bei Grafton gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man kriecht ihm in den Hintern und beklatscht jeden Rülpser, oder man wird rausgeekelt. Man muss den eigentlich nur eine Woche kennen, dann weiß man das schon. Um zu merken, dass er auch ein korrupter Betrüger ist, braucht es etwas länger.»
«Korrupter Betrüger? Können Sie das spezifizieren?»
«Zum Beispiel datiert er oft irgendwelche Heiligenknochen und Reliquien für die Kirche. Wie viel Geld da fließt, weiß keiner so genau, aber den Erlös steckt er jedenfalls in die eigene Tasche. Dabei ist das C-14-Labor vom Steuerzahler bezahlt und gehört der Uni. Für seine edle Villa aus ehemaligem Unibesitz hat Seine Lordschaft laut Gerüchten nur 300000 Euro bezahlt, wen auch immer er dafür bestochen hat.»
«Das waren jetzt Beispiele für Korruption. Können Sie mir auch welche für Betrug nennen?»
«Was er so alles als Doktorarbeit durchwinkt bei seinen Claqueuren grenzt schon an Betrug. Aber das meinte ich gar nicht. Der Mann wirkt einfach furchtbar unehrlich. In den Vorlesungen erzählt er ständig irgendwelche Heldengeschichten, was er alles könne und gemacht und erlebt habe und mit wem zusammen er jetzt wieder in New York essen war, und meine Tendenz ist, ich glaube ihm kein Wort. Der ist einfach ein pathologischer Wichtigtuer. Außerdem finde ich es sehr verdächtig, dass er nie jemanden außer seinen Lieblingen in dem C-14-Labor arbeiten lässt. Vielleicht ist er beim Datieren genauso inkompetent wie in tausend anderen Sachen. Alte Geschichte, Geologie, Vorderer Orient und so, da hat er in der Vorlesung immer wieder peinliche Fehler gebracht. Ich würde keiner einzigen Datierung trauen, die aus Graftons Labor stammt.»
Das war eigentlich Musik in Winters Ohren. Nur war es leider, wie er eben von dem bärtigen Behrwald erfahren hatte, eine falsche Verdächtigung, aus persönlicher Abneigung geboren. Immerhin schien André Bründl nicht der Einzige zu sein, der mit Grafton ein Problem gehabt hatte.
Was Winter wieder an die Möglichkeit erinnerte, dass Grafton selbst das Ziel des Mordanschlags gewesen war.
«Wissen Sie, ob Grafton regelrechte Feinde hat?», fragte er Ute Voss. «Leute, die sich möglicherweise an ihm rächen wollen?»
Die Paläobotanikerin schüttelte sich vor Lachen. «Sie stellen Fragen! Natürlich hat er Feinde. Es gibt zig begabte ehemalige Studenten und Doktoranden, die von Grafton rausgeekelt worden sind, weil sie ihm zu kritisch und zu selbständig und zu wenig unterwürfig waren. Denen hat er die Karriere verbaut. Wer einmal rausgekickt wurde aus dem System, kommt nicht so leicht wieder rein. Sie können ja hierzulande nicht mal was veröffentlichen, wenn Ihre Nase Grafton nicht passt. Der sitzt doch im Herausgeberzirkel von sämtlichen archäologischen Zeitschriften. Wann immer etwas über seine Spezialthemen eingereicht wird, Rautenkeramik zum Beispiel, wird vorher sowieso Grafton um ein Gutachten gebeten. Peer review nennt sich das neudeutsch. Das heißt, eine neue Forschungsarbeit muss erst mal von Experten auf dem Gebiet abgeklopft werden, ob sie korrekt argumentiert und der Veröffentlichung würdig ist. Das soll an sich nur dafür sorgen, dass kein totaler Mist in den Zeitschriften steht. Aber das System lässt sich natürlich durch einen böswilligen Reviewer missbrauchen. Wenn Grafton eine Arbeit über Rautenkeramik zerreißt, dann können Sie lange nach der Zeitschrift suchen, die die Arbeit trotzdem druckt. Wer will es sich schon mit dem großen Mann verderben? Im Geheimen über ihn lästern tun viele, aber ihm ins Gesicht wird geschleimt, dass es einem schlecht wird. Ich hab schon gestandene Wissenschaftler sich vor dem Mann verbeugen sehen wie Japaner vor dem Tenno.»
Winter spürte, wie sein Gesäß kalt wurde; seine Hüften und Knie schmerzten von der ungewohnten Sitzposition auf der Wiese. Vielleicht war es doch nicht so idyllisch, hier im Gras zu lesen, wie er vorhin gedacht hatte. Auf seiner Jeans entdeckte er eine Ameise.
«Okay, danke so weit, Frau Voss. Sie scheinen ja richtig froh zu sein, dass Sie Ihren Ärger über Grafton mal loswerden konnten. Seine Datierungen sind aber offenbar trotz allem in Ordnung. Ich habe eben nämlich erfahren, dass die wichtigsten Datierungen von unabhängigen Laboren überprüft und bestätigt wurden.» Er stand vorsichtig auf.
«Tatsächlich?», sagte Ute Voss und tat es ihm gleich. «Woher wissen Sie das?»
«Das steht im Fundkatalog der Universität.»
Sie lachte verächtlich. «Im Fundkatalog der Uni? Na, das ist ja eine Quelle! Wenn im Fundkatalog eine Kontrolldatierung steht, dann heißt das nur, dass Grafton sie da eingetragen hat. Ob die Kontrolle auch wirklich stattgefunden hat, das steht auf einem anderen Blatt.»
«Meinen Sie?»
Sie nickte emphatisch. «Glauben Sie mir, ich kenne den Mann. Der lügt sich fröhlich durchs Leben. Ich interessiere mich selbst zum Glück nicht für die Jungsteinzeit, wohlweislich nicht. Aber wenn mein Spezialgebiet die Ausbreitung der Landwirtschaft in Europa wäre, dann würde ich an dem juvenilen Ziegenschädel aus diesem berühmten Rautenkeramik-Grab mal heimlich eine Probe nehmen und sie datieren lassen.»
Sprach’s, verabschiedete sich und ging ihrer Wege.
Winter fiel ein, wo dieser Ziegenschädel sich derzeit befand. Man hatte ihn, in Unkenntnis seiner Bedeutung und unter Graftons heftigem Protest, gemeinsam mit sämtlichen anderen Stücken aus dem aufgebrochenen Metallschrank als Asservat eingesammelt, zur Untersuchung auf Täterspuren.
Vielleicht konnten sie eine Radiokarbondatierung in Auftrag geben. Das war zwar kriminaltechnisch ungewöhnlich. Aber in diesem Fall war es vom Ergebnis einer C-14-Datierung abhängig, ob Grafton ein Motiv hatte, Bründl und die Hausangestellte zu töten, oder nicht.
Winter rief Freimann an. Der wusste genau, was eine Radiokarbondatierung war. Es stellte sich heraus, dass sie die Methode schon gelegentlich genutzt hatten. «Zum Beispiel, als bei Bauarbeiten im Gutleut mal ein Massengrab mit an die zwanzig Skeletten freigelegt wurde. Da brauchten wir die Datierung, um sicherzugehen, dass das nicht die Spuren eines modernen Serienmörders waren, sondern ein historisches Grab. Es wurde dann auf irgendeine Kriegs- und Seuchenzeit um 1800 datiert, wenn ich mich recht entsinne.»
«Wo habt ihr das denn damals in Auftrag gegeben? Das habt ihr doch extern machen lassen, oder? Bei welchem Labor?»
«In Erlangen, glaube ich. Hier in Frankfurt an der Uni gibt’s wohl auch eine Möglichkeit, aber die haben keinen guten Ruf, hatte ich mir damals von Wiesbaden sagen lassen.»
Winter grinste. «Weißt du, wer der Leiter des Frankfurter C-14-Labors ist? Niemand anderer als unser Freund Grafton. Also, wir brauchen eine Datierung dieses Ziegenschädels aus dem Schrank. Aber nicht aus Frankfurt. Erledigst du das?»
«Klar, wird gemacht.»
Andrea Vogel war die kleine Merle nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ein Mädchen, das sich aus dem Telefonbuch die erstbeste Frau heraussucht, die zufällig denselben Nachnamen trägt, und diese dann bittet, sie abzuholen und ihre neue Mami zu werden – wie verzweifelt musste dieses Kind sein?
Andrea hatte ihrer Freundin Ulli von dem Vorfall erzählt. Ulli war zwei Stunden nach dem seltsamen Telefonat vorbeikommen, direkt von der Arbeit und ausgepowert, die dunklen Haare schweißverklebt an den Schläfen, wie immer, wenn sie stundenlang mit Schutzhaube bei Hoechst, neuerdings Aventis, im Labor gestanden hatte. Von Ulli kam zunächst kein Kommentar. «Gott, ich hab’s im Rücken», stöhnte sie mehr wohlig als gequält und legte sich über die Tischplatte, eine Aufforderung an Andrea, sie zu massieren. Auf dem Herd köchelte der Sugo vor sich hin. Derweil gab Andrea Ulli eine Streichelmassage, bei der sie sich nach und nach entspannte, schnurrend wie eine Katze. Nach fünf Minuten richtete Ulli sich plötzlich auf. «Erzählst du mir das noch mal, mit diesem Anruf und dem Kind? Ich glaub, ich hab da was nicht mitgekriegt.»
Andrea erzählte noch einmal. Ulli blickte nachdenklich. «Das können wir doch nicht auf sich beruhen lassen, oder?», sagte sie schließlich. «Wir müssen irgendwen informieren, die Polizei oder das Jugendamt. Auf jeden Fall war das ein Hilferuf. Und wir kennen ja den Namen des Mädchens. Merle Vogel. Lustiger Name übrigens. Merle heißt auf Französisch Amsel. Amsel Vogel.»
Es war Freitagabend. Andrea hielt es für klüger, bis zum folgenden Montag zu warten. Dann probierte sie es bei der Polizei. Dort erklärte man sich für nicht zuständig und verwies auf das Jugendamt. Nachdem Andrea im Jugendamt nach langen Warteschleifen endlich jemanden an der Strippe hatte, war die Gesprächspartnerin alles andere als hilfreich. Andrea hatte den Eindruck, dass sie abgewimmelt und ihr Hinweis nicht einmal notiert wurde. Sie besprach sich danach mit Ulli, und die sagte: «Mach’s schriftlich.»
Andrea folgte dem Rat. Schriftlich, auf Papier. Jetzt, drei Wochen später, bekam sie eine Antwort, ebenfalls per Schneckenpost. Andrea öffnete gespannt den Brief.
Sehr geehrte Frau Vogel,
vielen Dank für Ihren Hinweis. Wir können uns vorstellen, um welches Kind es sich handelt. Tatsächlich war wohl die Pflegefamilie, bei der sich das Mädchen zur Zeit Ihres Kontaktes befand, nicht geeignet. Hier haben wir bereits Konsequenzen gezogen.
Mit freundlichen Grüßen
Andrea staunte. Die kleine Merle war dem Jugendamt bekannt. Sie war ein Pflegekind. Es war einerseits beruhigend, dass sie aus der schlimmen Familie jetzt draußen war. Andererseits: Welche Garantie gab es, dass das Jugendamt nun bessere Leute auswählte? Eine Frau, die Merle die «Mami» sein konnte, nach der sich das Kind so sehnte?
Überhaupt: Was war mit der leiblichen Mutter? Warum ließ sie das Kind so im Stich?
Andrea machte sich noch immer Sorgen um Merle Vogel.
Nach dem Gespräch mit der Paläobotanikerin Ute Voss hatte Winter sich doch noch zu einer weiteren Recherche an der Uni entschlossen. Er stand im Prüfungsamt, neben dem verfallenden alten Uni-Turm gelegen, und wartete an einem Tresen, während eine junge Mitarbeiterin mit Feuereifer dabei war, ihm Daten zusammenzusuchen. Als sein Telefon klingelte, ging Winter ein paar Schritte zur Seite und nahm das Gespräch an.
«Winter.»
«Hallo Andi, Hilal hier. Wir haben gerade zwei Ergebnisse von der KT reinbekommen. Sitzt du?»
«Ja», log er. Was kam denn jetzt?
«Also, das Fasergutachten sagt, die Sporttasche gehört tatsächlich André Bründl, wie sein Bruder gesagt hat. So weit keine Überraschung. Jetzt kommt’s. Die Waffe, aus der die Schüsse auf Verena Tamm und André Bründl stammen, die hat irgendeinen Fehler im Lauf, der eine kleine Spur auf dem Geschoss hinterlässt. Mike sagt, das ist sehr selten, aber er hatte so was dieses Jahr schon mal. Er hat nachgesehen und er meint, es war bestimmt dieselbe Waffe wie im Doppelmord Vogel. Ich hab gedacht, du willst das sofort wissen.»
Winter hatte jetzt tatsächlich das Bedürfnis, sich zu setzen. Aber es war kein freier Stuhl zu sehen.
«Unglaublich. Okay, danke, wir reden später darüber.»
Die junge Prüfungsamtsmitarbeiterin warf ihm einen neugierigen Blick zu. Das Wort Kriminalhauptkommissar und ein nettes Lächeln hatten vorhin ihre Augen zum Leuchten gebracht. Sofort war sie voller Eifer gewesen, ihm zu helfen, bei einer Anfrage, die, schriftlich formuliert, wahrscheinlich gegen eine datenschutzrechtliche Wand gedonnert wäre. Informationen herauszurücken, die die Kriminalpolizei brauchte, war meistens legal. Aber Winter wusste, wie so etwas an großen Institutionen lief: Die Mitarbeiter waren unsicher, also befragten sie den Justiziar. Justiziare wiederum, so Winters Erfahrung, neigten zu übertriebener Vorsicht, weil sie Angst hatten, für spätere Regressforderungen verantwortlich gemacht zu werden. Die Auskunft von Justiziaren auf die Frage «Können wir das machen?» war daher zumeist: «Vorsichtshalber lieber nicht.»
Deshalb hatte es Winter hier unbürokratisch mündlich versucht und Glück gehabt. Was er wollte, war eine Liste mit Personen, die bei Grafton in den letzten fünf Jahren als Examenskandidat oder Doktorand geführt gewesen waren, die aber ihre Prüfung nicht bestanden oder abgebrochen hatten. Leute also, die Grund hatten, Groll gegen den Professor zu hegen.
Nach Aksoys Anruf fühlte sich Winter desorientiert. Gedankenversunken schaute er zu, wie die Prüfungsamtsmitarbeiterin weiter die Akten nach Grafton-Prüflingen durchforstete. Waren deren Namen nach der neuesten Entwicklung überhaupt noch relevant?
Endlich draußen, die gewünschte Liste als Ausdruck in der Tasche, kreuzte Winter die Senckenberganlage, ohne zu merken, dass die Ampel rot war. Auf dem Grünstreifen in der Mitte setzte er sich auf eine Bank mit Blick aufs Museum. Er musste das erst einmal sacken lassen.
Wie um Himmels willen konnten der Fall Vogel und der Fall Grafton zusammenhängen?
Es war alles falsch, dachte er nach ein paar Minuten. Sie hatten überhaupt nichts verstanden. Weder im Fall Vogel noch in diesem.
Hendriks Bank rückte kein frisches Geld mehr heraus. Die Zinsen für das überzogene Girokonto beliefen sich auf 300 Euro im Monat, hinzu kam der Gründungskredit mit 200 Euro Zinsen und Tilgung – alles noch Peanuts im Vergleich mit der Büromiete von 2100 Euro und dem Gehalt der Sekretärin. Hendrik von Sarnau musste entweder der Sekretärin kündigen oder den Mietvertrag für die Anwaltspraxis. Doch weder das eine noch das andere schien opportun, gerade jetzt, wo es allmählich aufwärtsging. Die beiden DomRep-Touristen im Januar hatten Hendrik auf eine Idee gebracht: Auf dem Schild an der Tür pries er sich neuerdings als «Rechtsanwalt Reiserecht» an, ideal für seine Location am Bahnhof, und seit drei Wochen hatte er auch eine entsprechende Google-Anzeige geschaltet. Seitdem hatte er jeden Tag ein, zwei neue Kunden dazubekommen. Er näherte sich dem Break-Even. Wenn nur die blöde Bank nicht zicken würde …
Aber es gab ja noch einen Ausweg. Aus Vorsicht hatte er bis nach dem Prozess gegen diesen Russen warten wollen. Jetzt musste es eben früher sein. Es würde schon klappen.
Er hatte in der Sache mit dem Pfister ganz unwahrscheinliches Glück gehabt. Das Glück des Tüchtigen. Wer wagt, gewinnt.
Winter trommelte die Leute seiner SoKo zusammen und erklärte die neue Lage.
«Es ist wohl so ein Fall», schloss er, «bei dem man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Lassen wir mal alles weg, was wir an Detailwissen haben. Betrachten wir die Sache ganz aus der Ferne: Im Fall Grafton haben wir eine Frau, eine Mutter, von Beruf Putzfrau, Mitte dreißig, durch Kopfschuss hingerichtet. Wir haben einen Mann, der sich im selben Haus aufhielt und nach dem Angriff auf die Frau mit Schüssen in den Rumpf lebensgefährlich verletzt wurde. Das sind doch klare Parallelen zum Fall Vogel: Da wurde ebenfalls eine Frau per Kopfschuss hingerichtet. Sabrina Vogel war nur circa fünf Jahre jünger als die Tamm, also grob gesprochen im selben Alter. Sie war eine Angestellte in einem Supermarkt, gehörte also derselben sozialen Schicht an, und auch sie war Mutter von kleinen Kindern. Im Fall Vogel gab es auch einen Mann, der nach dem Angriff auf die Frau durch Schüsse in den Rumpf tödlich verletzt wurde. Die männlichen Geschädigten in beiden Fällen sind möglicherweise Zufallsopfer, die nur aus dem Weg geräumt wurden, weil sie dem Täter in die Quere kamen. Ich hatte beim Fall Vogel schon den Eindruck, dass es eigentlich um die Frau ging.»
«Das hast du gut zusammengefasst», sagte Ziering nach einer Pause, in der alle Winters Worte auf sich wirken ließen. «Bloß, wenn wir davon ausgehen, dass die Fälle zusammenhängen: Was um Himmels willen ist das für ein Täter?»
«Ein Verrückter. Ein Psychopath», schlug Hilal Aksoy vor. «Einer, der es aus irgendeinem Grund, den nur er selbst versteht, auf verheiratete junge Frauen abgesehen hat.»
«Wieso muss denn da plötzlich ein Zusammenhang sein zwischen den Fällen?», fragte in mäkelndem Ton Glocke. «Das ist doch nur dieselbe Waffe. Das muss doch net derselbe Täter sein.»
«Nein, muss es nicht», stimmte Winter zu. «Es ist theoretisch möglich, dass der Täter im Fall Vogel die Waffe verkauft hat. Oder vielleicht hat er sie nach der Tat weggeworfen, und sie wurde von jemand anderem gefunden. Ich halte das bei den vielen Parallelen zwischen den Fällen zwar nicht für so wahrscheinlich. Aber die Möglichkeit muss geprüft werden. Ich schlage folgende Aufgabenteilung für die nächsten Tage vor: Arno und Jürgen, ihr kümmert euch um die Waffe. Fragt euch in den einschlägigen Kreisen und bei Waffenhändlern durch, ob jemand von einem .44er-Magnum-Revolver weiß, der in letzter Zeit den Besitzer gewechselt hat. Seht euch die Datenbanken an, ob im Frankfurter Raum im letzten halben Jahr jemand so eine Waffe neu eingetragen bekommen hat, und wenn das nichts bringt, geht zu legalen Besitzern, lasst euch die Kanone zeigen und fühlt denen ein bisschen auf den Zahn. Und ihr beide» – Winter wandte sich an Aksoy und Glocke – «ihr übernehmt die Opferseite der Ermittlung. Fragt den Mann von Verena Tamm aus, sucht ihre Eltern auf, wenn sie noch welche hat, und versucht, so viel wie möglich über diese Frau herauszufinden. Vielleicht entdecken wir noch weitere Parallelen zum Fall Vogel. Die könnten uns dann auf die Spur des Täters führen.»
«Des ist doch alles viel zu kompliziert», beschwerte sich Glocke. «Mer muss doch nur den Mörder von den Vogels befragen, diesen Russen da, Preiß oder wie er heißt. Der wird einem doch sagen können, ob er die Waffe verkauft hat.»
Winter tauschte einen Blick mit Aksoy. Er hatte guten Grund gehabt, Glocke nicht auf die Waffe anzusetzen: Er traute Glocke nicht mehr und ging davon aus, dass er sich mit Kettler absprechen würde. Womöglich würden die beiden dann mit Drohungen oder Versprechungen irgendeinen Unterwelttypen dazu bringen zu behaupten, die Waffe sei bei diesem oder jenem über den Tisch gegangen. Kettler war mehrere Jahre bei der OK gewesen, der kannte zweifellos Leute, die für eine kleine Gegenleistung zu einer Falschaussage bereit waren.
«Soweit ich aus der Presse weiß», erklärte Winter, «leugnet der Preiß derzeit wieder, den Doppelmord an dem Ehepaar Vogel überhaupt begangen zu haben. Also wird er uns wohl kaum erzählen, er habe die Tatwaffe verkauft. Aber versuchen könnt ihr es natürlich», sagte er in Richtung Ziering und Musso. «Vielleicht hat der Preiß sich das mit seiner Aussage inzwischen anders überlegt.»
«Und du, du machst die zentrale Sachbearbeitung?», fragte Ziering.
«Sicher. Außerdem habe ich vor, die Anwältin von Preiß vorzuladen. Vielleicht hat sie Zusatzinformationen im Fall Vogel, die sie bereit ist rauszugeben.» Wie sicher Winter sich darin war, konnten die anderen – außer Aksoy – nicht ahnen.
Er musste allerdings baldigst mit Fock sprechen. Was der wohl sagen würde?
Dummerweise war es Freitagnachmittag, und es stellte sich heraus, Fock war schon im Wochenende. Sie verschoben alles Weitere auf Montag.
Aksoy tat Carsten Tamm leid. Er war ein großer, nicht ganz unattraktiver Mann, dessen unrasiertes Gesicht, blutunterlaufene Augen und penetrante Alkoholfahne sie zunächst der Trauer um seine Frau zuschrieb. Die Wohnung in der Kuhwaldsiedlung zeigte Anzeichen, dass sie vor kurzem noch perfekt in Schuss gewesen war. Doch seit dem Tod seiner Frau vor einer Woche hatte der Hausherr keinen Handschlag getan. Es roch vermüllt und ungelüftet. Die Fliesen im Flur zierten Spuren einer heruntergetropften braunen Flüssigkeit, hoffentlich nur Kaffee, die von der Küche ins Wohnzimmer und ins Schlafzimmer führten. Die Wohnung war sehr groß, Aksoy zählte sieben Türen im langen Flur, also wohl fünf Zimmer. «Darf ich mich kurz umsehen?», fragte sie. «Ich würde gerne einen Eindruck gewinnen, wie Ihre Frau gelebt hat.»
Carsten Tamm zuckte nur die Schultern und verzog sich mit Glocke ins Wohnzimmer. Aksoy blickte kurz hinter jede Tür. Sie entdeckte zwei extrem ordentliche Kinderzimmer, ein blütenreines Esszimmer wie aus dem Katalog, das seit dem Tod der Frau sicher nicht benutzt worden war, sowie ein Schlafzimmer im Chaos, dessen schaler Geruch nach Alkohol, Essensresten, Aschenbecher und ungewaschenem Mann sie schnell vertrieb.
«Herr Tamm, wo sind denn die Kinder?», fragte sie, als sie das Wohnzimmer betrat. Tamm saß zusammengesunken auf dem Sofa, ein Bild des seelischen Verfalls, während Kollege Glocke seinen wie immer korrekt gekleideten Körper samt graumeliertem Kopf umso steifer und aufrechter hielt.
«Hat das Amt geholt», sagte Tamm auf die Frage. «War auch richtig so, ich hab denen gleich gesagt, ich kann das nicht alleine. Ich bin krank.» Mit einer Bewegung verwies er auf die Versammlung leerer Flaschen auf dem Wohnzimmertisch.
«Sie sind Alkoholiker?», fragte Aksoy und setzte sich ihrerseits in einen Sessel. Sie erinnerte sich jetzt, dass davon am Tattag schon die Rede gewesen war.
«Richtig. Und Diabetes hab ich auch. Ich war schon zweimal im Koma. Ich hatte sogar schon Delirium tremens letztes Jahr.»
Er hörte sich an wie ein alter Soldat, der Heldentaten berichtet.
«Wovon lebt Ihre Familie denn?»
«Von der Berufsunfähigkeitsversicherung. Hab ich abgeschlossen, als ich noch in der Ausbildung war. Das Beste, was ich je gemacht hab. Und die Verena hat ja was dazuverdient. Wir hatten genug.»
Genug sogar, um sich eine Fünfzimmerwohnung zu leisten.
«Welchen Beruf haben Sie denn gelernt?»
«Immobilienkaufmann. Hab ich auch fast zehn Jahre gemacht. Ich hab nicht schlecht verdient als Makler, das können Sie mir glauben.» Aha, so erklärte sich die große Wohnung. Als Makler kam man leichter als andere Leute an Schnäppchen.
«Herr Tamm, hatte denn Ihre Frau eine Lebensversicherung abgeschlossen?»
Zum ersten Mal wirkte er wach, sah Aksoy direkt in die Augen. «Was soll denn das jetzt? Wollen Sie mir anhängen, dass ich meine Frau …?»
«Ganz und gar nicht. Das sind alles Routinefragen, die müssen wir stellen. Aber ich kann Ihnen versichern, Sie gehören bis jetzt nicht zum Verdächtigenkreis.»
Er schwieg einen Moment, dann sagte er: «Meine Frau und ich haben eine Versicherung auf verbundene Leben. Aber die zahlt jetzt erst mal nicht, das hab ich schon gefragt. Weil, das könnt ja ich gewesen sein. Ich krieg das Geld erst, wenn Sie den verdammten Scheißkerl finden, der das getan hat.»
«Dafür tun wir unser Bestes, das verspreche ich Ihnen.»
Aksoy stellte die nächsten zwanzig Minuten eine weitere Routinefrage nach der anderen, während Glocke schwieg und widerwillig Notizen machte. Er war nicht einverstanden damit, dass Aksoy hier die Führung übernahm. Aus seiner Sicht war sie ein Greenhorn. Sie hatte sich aufgedrängt mitzukommen, angeblich weil sie von Tamm die Adresse der Eltern der Toten erfragen und dann gleich dorthin fahren wollte. Doch jetzt machte sie sich hier breit und drängte ihn in den Hintergrund.
«Herr Tamm», mischte Glocke sich bei der ersten kurzen Pause ein, «wir bräuchten von Ihnen die Adresse von den Eltern Ihrer Frau.»
«Vorher noch eine Frage», ging Aksoy dazwischen. «Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihrer Frau das angetan haben könnte?»
«Ich nicht. Aber die Eltern von der Verena schon. Bei denen auf dem Dorf wird viel gemunkelt. Es wundert mich, dass die das noch nicht der Polizei erzählt haben.»
«Okay, dann geben Sie mir jetzt bitte die Adresse. Um was für ein Dorf geht es denn?»
«Allmenrod bei Lauterbach im Vogelsberg. Da hab ich auch einige Häuser verkauft zu meiner Zeit. Meine Großeltern sind nämlich auch aus der Lauterbacher Gegend. Ich hatte viel im Vogelsberg zu tun. Da hab ich ja auch die Verena kennengelernt.»
Allmenrod. Den Namen kannte Aksoy irgendwoher. Sie hörte plötzlich im Geiste die kleine Merle Vogel: Warum können wir nicht nach Allmenrod zur Oma? Aksoy atmete tief durch.
«Hatten Sie oder Ihre Frau Kontakt zu Frau Sabrina Vogel, geborene Pfister?»
«Also, ich kenn die Pfister nur vom Namen her. Und meine Frau kannte die auch nicht gut. Die hatten nichts miteinander zu tun hier in Frankfurt. Aber die ist halt aus demselben Dorf.»
Winter erhielt die SMS, als er gerade Focks Büro verlassen wollte. Das Gespräch mit seinem Chef war höchst unerquicklich verlaufen: Fock wollte partout nicht einsehen, dass es sinnvoll war, mit der Anwältin im Fall Vogel zu sprechen. Er vertrat wie Glocke den Standpunkt, die Waffe sei inzwischen in anderen Händen und die beiden Fälle hätten nichts miteinander zu tun. Alles andere seien Hirngespinste, die Winters Rachsucht gegenüber Sven Kettler entsprängen.
In Hoffnung auf Argumentationshilfe schaute Winter hinter Focks Tür sofort auf sein vibrierendes Handy und fand, was er suchte. Er ging geradewegs zurück in Focks Büro.
«Also, Chef, die Kollegin Aksoy schreibt mir jetzt gerade, die erschossene Verena Tamm stammt aus dem gleichen Dorf wie Sabrina Vogel. Die beiden kannten sich. Wirft das nicht ein neues Licht auf die Sache?»
Fock gab einen Grunzlaut von sich, zog an seiner roten Fliege und sah einen Moment entnervt aus dem Fenster. Er war ein zu guter Polizist, um sich nicht von Fakten umstimmen zu lassen. «Tun Sie, was Sie nicht lassen können», sagte er schließlich. «Aber laufen Sie nicht irgendwelchen Phantasieszenarien hinterher. Im Fall Vogel haben wir den Täter. Und sprechen Sie sich um Gottes willen mit Sven Kettler ab. Binden Sie ihn ein.»
Wie das funktionieren sollte, wusste Winter nicht. Doch er verkniff sich einen Kommentar.
In der Tür stehend drehte er sich noch einmal um.
«Chef? Mir ist gerade was eingefallen.»
«Ja?»
«Da kam doch vor ein paar Wochen so ein Fall rein mit einer lebensgefährlichen Pilzvergiftung. Wir hatten entschieden, nicht zu ermitteln, weil es nach Unfall aussah und nicht nach Mordanschlag. Aber das Opfer war eine Schulkameradin von Sabrina Vogel. Mit dem heutigen Wissensstand würde ich da gerne noch mal nachforschen.»
«Pilzvergiftung? Wer hat das damals bearbeitet?»
«Sven Kettler.»
«Ach nein. Daher weht der Wind. Jetzt erinnere ich mich. Verdammt noch mal, Winter, hören Sie doch endlich auf, dem Kettler das Leben schwerzumachen. Ich verliere sonst allmählich das Vertrauen in Sie. Übrigens haben Sie sich in dem Fall Professorenvilla bislang nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Freitag früh noch haben Sie mir gesagt, Sie denken, der Professor war’s, weil er irgendwas vertuschen wollte. Die anderen Kollegen waren aber vielmehr der Meinung, der Anschlag hätte dem Professor selbst gegolten. Und jetzt erzählen Sie mir, es soll jemand aus dem Vogelsberg gewesen sein, der es auf die Putzfrau abgesehen hatte. Wirklich, Winter. Bekommen Sie mal Ordnung in den Fall!»
Hildchen, die Sekretärin, grinste Winter zu, als er Focks Zimmer verließ. Er grinste zurück. Das half. Fock durfte man einfach nicht so ernst nehmen.
Die kleine Merle ging Andrea Vogel einfach nicht mehr aus dem Kopf. Andrea bezweifelte, dass das Jugendamt genug tat. Das Mädchen hatte sie um Hilfe gebeten, sie trug denselben Nachnamen, und Andrea Vogel fühlte sich verantwortlich.
Aber sie konnte nichts tun.
Das alles hatte sie beim Essen ihrer Freundin Ulli geklagt, als die wie üblich am Freitag nach der Arbeit zu ihr nach Sachsenhausen gekommen war.
«Schreib dieser Merle doch einfach mal eine Karte», schlug Ulli vor. «Die freut sich garantiert. Dann kann sie dir auch sagen, wie’s ihr jetzt geht oder was sie bedrückt.»
«Aber ich habe ja gar keine Adresse», wandte Andrea ein, «das ist doch gerade das Problem.»
«Das Jugendamt kann einen Brief von dir weiterreichen. Das machen die bestimmt. Steck ihn in einen offenen Umschlag, dann können sie reinsehen und sich vergewissern, dass du keine böse Pädophile bist. Dann müsste es eigentlich klappen.»
Darauf hätte Andrea selbst kommen können. Aber manchmal, wenn ihr etwas besonders wichtig war, konnte sie nicht klar denken.
Sie schrieb übers Wochenende einen kindgerechten Brief an Merle, in dem sie geschickt ein paar Fragen unterbrachte, und legte einen frankierten und adressierten Rückumschlag bei. Sie hoffte, das Mädchen konnte damit etwas anfangen und würde sich melden. Montagmittag gab sie den Brief beim Jugendamt ab.
Glocke wollte mit nach Allmenrod. Da sie in dem Dorf wahrscheinlich mehr als eine Person zu befragen hatten, stimmte Aksoy gerne zu.
«Wer fährt?», fragte sie auf dem Parkplatz in der Kuhwaldsiedlung.
«Der erfahrenere Fahrer», dekretierte Glocke. Da er zweiundsechzig war, war klar, wer gemeint war. Aksoy nahm es als halben Witz, obwohl sie sich keineswegs sicher war, ob Glocke das nicht bierernst meinte. Im Wagen wollte sie vom Beifahrersitz aus das Navi einschalten. Heinz Glocke schob ihre Hand zur Seite.
«Ein guter Fahrer braucht das nicht. Das ganze Gebabbel von dem Gerät, das irritiert nur. Außerdem kenn ich den Weg. Ich war doch schon da. Im Januar, wegen der Vogel-Geschischt.»
Glocke war der Senior der MK 1, ein Polizeiobermeister. Aksoy erinnerte sich gut an das, was Winter ihr vor Monaten erzählt hatte: Glocke habe sich in dem MK-internen Konflikt auf Kettlers Seite geschlagen. Sie war gespannt, ihn näher kennenzulernen.
Heinz Glocke fädelte sich am Bad Homburger Kreuz nach Gießen ein. «Wie heißt die junge Kollegin noch gleich mit Vornamen?», fragte er. «Hilal», klärte Aksoy ihn auf, als ihr dämmerte, dass sie selbst gemeint war.
«Wie?»
«Hilal. Hi-lahl.»
«Komischer Name. Ist mir zu türkisch. Weißt du was, ich sag einfach Hillu zu dir, so wie die Exfrau vom Schröder. Ihr Türken müsst euch anpassen. Sonst könnt ihr euch nie integrieren.»
Aksoy zog eine Grimasse. «In der Schule bin ich Lali genannt worden. Wenn du Hilal nicht aussprechen kannst, dann sag Lali.»
«Lali? Haha! Oder Lalli, gell?» Heinz Glocke klopfte aufs Lenkrad, so amüsiert war er. Aksoy war die Lust auf eine lange Fahrt mit ihm schon jetzt eindeutig vergangen. Sie schwieg und knipste das Radio an.
Bei Lich bog Glocke von der A5 ab. «Lich, der Ort, wo das Bier herkommt», kommentierte er und ergänzte: «‹Licher Pilsener: Aus dem Herzen der Natur.›»
Aksoy entschloss sich, Glockes Versuch, das Gespräch wiederaufzunehmen, nicht durch einen Hinweis zu verderben, dass es über die Autobahn schneller gegangen wäre. «Ein hübsches Örtchen», sagte sie.
«Glaubst du das?», fragte er unvermittelt. «Dass der Putzfrau-Fall mit der Vogel-Geschichte zusammenhängt?»
«Das werden wir jetzt wahrscheinlich herausfinden», begann sie vorsichtig. «Ein bisschen viel Zufall wäre das ansonsten schon: dieselbe Waffe, derselbe Herkunftsort der Opfer.»
«Ja, ja», murmelte Glocke. Dann fügte er an: «Bloß, wenn die beide in Frankfurt geboren wären, würd keiner was sagen. Ist doch auch derselbe Herkunftsort.»
Aksoy öffnete den Mund, um Glocke zu erklären, dass zwei unabhängige Mordfälle aus einer Stadt von siebenhunderttausend Einwohnern einen weit weniger großen Zufall voraussetzten als zwei unabhängig Ermordete aus einem Dreihundert-Seelen-Dorf. Doch im letzten Moment entschied sie sich aus einem Impuls heraus anders und sagte: «Da hast du eigentlich recht.»
Damit hatte sie Glockes Herz geöffnet.
«Der ist so ein verbissener Kerl, der Winter», ließ er sie ohne jede Einleitung wissen. «Der kann net mal Fünfe gerade sein lassen. Ewig muss er alles ganz genau haben.»
«Ich kenn ihn noch nicht so gut», sagte Aksoy neutral. «Er wirkt jedenfalls sehr gewissenhaft.»
«Sag ich ja, verbissen. Der Winter will immer hundert Prozent Aufklärungsquote. Das ist so Tradition bei dem, da hat er sich reinverbissen. Dass er am Jahresende gut dasteht, und wir müssen dafür schuften. Es geht abbä auch anders. Im Januar war der Winter weg, da hat der Sven Kettler in der Vogel-Geschicht die Ermittlungen geleitet. Das ist ein lockerer Typ, net so verkrampft. Der Junge hat Spaß und frischen Wind reingebracht und uns net so gestriezt mit Bürokratie. Da musstest du nicht jeden Furz zwei Seiten protokollieren.»
«Ich hab auch den Eindruck, der Sven Kettler nimmt es nicht so genau», sagte Aksoy wahrheitsgemäß.
«Den Winter», raunte Glocke vertraulich, «den kenn ich schon von ganz früher, wie der noch grün hinter den Ohren war. Ich war sein Streifenführer, als er angefangen hat. Keine Ahnung vom Polizeiberuf, aber das Leben hat er einem schon damals schwergemacht. Ich hab da so eine Geschicht mit ihm erlebt – wir hatten einen schweren Einsatz, er sollte mir einen Gefallen tun unter Kollegen, da hat der sich geziert, zehn Minuten lang. Das hab ich ihm nicht verziehen. Der Winter ist dann auch bald weg von der Straße und zu den Schnöseln von der Kripo gegangen. Hat wohl eingesehen, dass das echte Polizistenleben nichts für ihn ist.»
«Du bist jetzt aber auch bei den ‹Schnöseln von der Kripo›», sagte Aksoy amüsiert. «Wie kommt’s?»
«Ei, das Alter. Ich hab’s am Knie, Meniskus und Arthrose. Da hab ich mich vor zehn Jahren in den Innendienst bewerben müssen.»
Für jemanden ohne Fachhochschulabschluss hatte er dabei einen ziemlich guten Job gelandet, fand Aksoy.
«Ich müsst ja eigentlich auch jetzt Kommissar sein», sinnierte Glocke weiter. «Jeder Grünschnabel von der Schul ist Kommissar heutzutage. Wenn der Winter mal ein gutes Wort für mich eingelegt hätt …»
Ach, daher kam sein Ärger auf Winter, dachte Aksoy. Die hessische Landesregierung hatte ihren Polizisten vor einigen Jahren eine indirekte Gehaltserhöhung geschenkt, indem sie den mittleren Dienst abschaffte. Den Polizeimeistern alten Rechts gab man großzügig Gelegenheit zur Beförderung zum Kommissar. Doch Winter schien Glocke den Aufstieg vermasselt zu haben.
«Hast du’s über Fortbildung versucht?», fragte sie. Eine Fortbildung hatte bei den meisten gereicht.
«Ach!», schimpfte Glocke. «Ich mach doch in meinem Alter keine Fortbildung mehr. So weit kommt’s noch, dass ich mir von irgendeinem, der nie aus der Fachschule rausgekommen ist, meinen Beruf lehren lass.»
Oder dass er sich vom Navigationsgerät den Weg zeigen lässt, dachte Aksoy. Glocke raste über schmale, verschlungene Bergsträßchen, dass ihr fast schlecht wurde.
Als sie nach zwei umwegreichen Stunden in Allmenrod eintrafen, schaltete sie dann doch gegen Glockes nunmehr nur mäßigen Protest das Navi ein, um sich zur korrekten Adresse führen zu lassen. Die Eltern von Verena Tamm wohnten in einem typischen westmitteldeutschen Bauernhaus mit einem Haupttrakt aus den sechziger Jahren und rundherum Stall- und Scheunenanbauten, die viel älter waren. Der Name auf dem Klingelschild lautete Krombach.
Man musste die Frau, die öffnete, nicht fragen, ob sie die Mutter der getöteten Verena Tamm war. Man sah es ihr an. Brigitte Krombach war eine Frau von Ende fünfzig mit Vollmondgesicht, von der die Tochter vor allem die grobknochige, große Statur und die lockigen Haare geerbt hatte. Ihr rundes Gesicht war nicht nur vom Alter gezeichnet. Sie sah regelrecht krank aus. Die verfärbte Haut unter den Augen ließ an Schläge denken, aber die exakte Gleichmäßigkeit der Spuren an beiden Augen verriet, dass es sich hier um die Folgen von vielen Tränen und wenig Schlaf handelte.
«Guten Tag, mein Name ist Glocke, Kriminalpolizei», begann dieser. «Wir sind hier in der Angelegenheit Ihrer verstorbenen Tochter. Dürften wir wohl reinkommen?»
«Ja, sicher, bitte.»
Frau Krombach hielt einladend die Tür auf. Aksoy musste zugeben, dass Glockes bebrillte, graumelierte Gestalt ungemein seriös wirkte, ein perfekter Türöffner. Sie selbst hatte oft gegen Misstrauen zu kämpfen, wenn sie bei Zeugen oder Angehörigen klingelte. Das kam bei Glocke sicher weitaus seltener vor.
Brigitte Krombach bat sie auf eine Terrasse, die nach hinten auf die Felder ging. Hier stand ein frisch gedeckter Kaffeetisch für zwei, in der Mitte eine Edelstahlplatte mit Himbeerkuchen, der selbstgemacht und köstlich aussah. «Einen Moment, ich hole meinen Mann aus dem Stall», erklärte die Frau. Dieter Krombach erschien kurz darauf, im verdreckten Arbeitsanzug und umhüllt von einer Wolke Stallgeruch, ein stark dialektgefärbt sprechender sechzigjähriger Mann mit buschigen grauen Augenbrauen und abgearbeiteten Händen, von denen Aksoy bezweifelte, dass er sie vor der Begrüßung gewaschen hatte. Das wäre wahrscheinlich auch zu viel verlangt: Der Mann hatte vor einer Woche seine Tochter verloren. Er hatte andere Prioritäten, als Polizisten die Hände nicht schmutzig zu machen.
So bieder und kooperativ, wie Verena Tamms Eltern auf den ersten Blick wirkten, so wenig rückten sie tatsächlich an Informationen heraus. Die Befragung stieß an allen wichtigen Stellen gegen eine Mauer des Schweigens.
«Hatte Ihre Tochter Feinde?» – «Nein.»
«Können Sie mir Freunde oder Bekannte Ihrer Tochter nennen?» – «Nein.»
«Gab es jemanden, der ihr oder ihrer Familie Böses wollte?» – «Nein.»
«Gibt es irgendeinen Verdacht im Dorf, wer der Täter sein könnte?» – «Nein.»
«Können Sie sich einen Zusammenhang mit dem Tod Sabrina Vogels vorstellen?»
Nein, das könne man nicht, und im Übrigen kenne man die Familie Pfister kaum. Man habe keinerlei Beziehungen zu denen. Gar nicht. Die Mordtaten könnten nichts mit dem Dorf zu tun haben, das sei eine Frankfurter Angelegenheit, in Frankfurt gebe es doch so viel Kriminalität, Frankfurt sei doch die Verbrechenshauptstadt Deutschlands.
Während Herr Krombach redete, stieg am Ende des langen Gartens ein großer Mann in rotem T-Shirt und Jeans über den mickrigen Zaun und kam beinahe drohend auf Haus und Terrasse zu. «Dieter, Dieter, guckemol», flüsterte Frau Krombach und zupfte ihren Mann am Ärmel, der mit dem Rücken zum Garten saß. Ein Blick in die von seiner Frau gewiesene Richtung reichte, und Dieter Krombach war auf den Beinen. Rasch ging er auf den grimmig dreinblickenden Besucher zu. «Wer ist denn das?», fragte Aksoy leise.
«Ach, niemand, ein Nachbar», behauptete Brigitte Krombach, deren ängstlich aufgeregter Blick zu der banalen Auskunft nicht passen wollte. Am Ende des großen Gartengrundstücks gab es nun ein stimmlich halb unterdrücktes Streitgespräch, ja eine Handgreiflichkeit: Der Fremde im roten T-Shirt strebte auf die Terrasse zu, und Dieter Krombach, einen Kopf kleiner und gut zehn Jahre älter, hielt ihn mit beiden Armen fest und stemmte sich dagegen, um ihn daran zu hindern. Aksoy erhob sich, gleichzeitig auch Frau Krombach, die sie mit «Ach, bleiben Sie doch sitzen» aufhalten wollte und sich dann selbst bemühte, schneller zu sein. Aksoy ging betont langsam hinterher, um die brenzlige Situation nicht durch schnelle Bewegungen zu verschärfen. Als sie die Gruppe erreichte, hörte sie, wie Brigitte Krombach dem Fremden zuraunte: «Es ist doch nur zu deinem Besten.»
Aksoy stellte sich mit Dienstausweis vor und fragte den Fremden, wer er sei und was er von den Krombachs wolle. Derweil hielt Herr Krombach den Eindringling noch immer an einem Arm, und Frau Krombach hatte einen Zipfel seines T-Shirts in der Hand. Das Gesicht des Mannes war völlig ausdruckslos. «Gell, Jörg, wir haben das doch alles besprochen», redete Frau Krombach auf ihn ein, bevor er antworten konnte. Die Situation war absurd.
«Worum geht es hier eigentlich?», fragte Aksoy in die Runde.
«Ach, leckt mich doch alle am Arsch», brummte der Fremde, riss sich im Umdrehen von den beiden Krombachs los und zog ohne weitere Erklärungen ab.
«Moment», sagte Aksoy, sprintete hinterher und stellte sich dem Mann in den Weg. Zwei Köpfe größer als sie, kräftig, mit einem Bauch, der sich unterm T-Shirt wölbte, und rotem, unrasiertem Gesicht stand er schwer atmend vor ihr. Sein emotionsloser, unbewegter Gesichtsausdruck war ihr unheimlich. «Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen?», versuchte Aksoy einen möglichst unverfänglichen Anfang. Da streckte der Mann seinen Arm aus, schob sie zur Seite wie störendes Gebüsch und stieg über den Zaun. Sie gab auf. «Also naa, wirklich», rief im Hintergrund kopfschüttelnd Glocke, der sich inzwischen aufgemacht hatte, um Aksoy zur Seite zu stehen. «Junge Frau, was sollte denn das? Du kannst doch net alleine einen großen Mann stellen. Davon ab, die Leutchen haben sich doch selber geholfen.»
Das war ja gerade das Problem: Die Krombachs hatten den bulligen «Jörg» abgewimmelt, bevor er sagen konnte, was er sagen wollte. Aksoy spekulierte, dass es mit dem Fall zu tun hatte.
Herrn Dieter Krombach standen nach dem Zwischenfall Schweißperlen auf der Stirn. Weder aus ihm noch aus seiner Frau war etwas Glaubhaftes herauszubekommen. Brigitte Krombach, offenbar mit mehr Phantasie gesegnet als ihr sich auf «Ja» und «Nein» beschränkender Mann, behauptete schließlich, es gehe um eine Nachbarschaftsstreitigkeit, irgendwas mit Brennholz. Dabei verstrickte sie sich in Widersprüche, sodass Aksoy die Geschichte für entweder falsch berichtet oder ganz erfunden hielt. Nur den Namen des Streithahnes gaben die beiden Krombachs preis, aber erst, nachdem Aksoy ihnen klargemacht hatte, dass sie ihn sowieso herauskriegen würde: Jörg Krombach hieß der Eindringling. Es handele sich um einen jüngeren Bruder von Dieter Krombach, also den Onkel der verstorbenen Verena Tamm. Und ja, er wohne tatsächlich zwei Häuser weiter.
Nicht lange danach verabschiedete sich Aksoy. Sie gab Glocke ein Signal, dass er selbst noch bleiben solle, doch das Signal kam nicht an: Glocke verabschiedete sich ebenfalls.
«Uff», sagte Aksoy, als sie draußen waren und ein paar Meter Abstand vom Haus gewonnen hatten. «Was jetzt? Ich schlage vor, wir gehen als Erstes zu den direkten Nachbarn. Zusammen, oder teilen wir uns auf?»
Glocke sah sie erstaunt an, dann blickte er auf seine Armbanduhr. «Es ist schon vier», verkündete er. «Und wir haben noch eine lange Fahrt. Für heute reicht’s. Außerdem, des bringt doch nichts mehr, wir haben doch schon gehört, was wir wissen wollten.»
Nun war es an Aksoy, erstaunt zu gucken. «Was haben wir denn gehört?», fragte sie, an den Mercedes gelehnt.
«Ja, dass der Mord an der Tamm mit der Vogel-Geschicht nichts zu tun hat. Wie wir vermutet haben.»
«Oh.» Aksoy brauchte einen Moment, um sich zu fangen. «Ja, weißt du, Heinz», sagte sie schließlich, «ich fand diese Aussage von Herrn und Frau Krombach nicht gerade überzeugend.»
«Wieso?», fragte Glocke irritiert und setzte sich auf der Fahrerseite in den Wagen. «Was war dadran net überzeugend?»
Aksoy setzte sich nolens volens auf die Beifahrerseite, obwohl ihr gar nicht recht war, dass Glocke schon wieder das Steuer übernahm. «Krombachs haben uns doch überhaupt keine Informationen gegeben», erklärte sie. «Der Herr Tamm sagte aber, seine Schwiegereltern hätten einen Verdacht, und es soll Gerüchte im Dorf geben, wer der Täter ist. Außerdem haben Krombachs für meinen Geschmack viel zu heftig bestritten, dass die beiden Fälle zusammenhängen könnten.»
«Ja, wenn sie es bestreiten, dann muss es wahr sein, oder was? Das ist aber eine komische Logik. Lernt man des auf der Fachhochschule? Mer darf net zu viel nachdenken, hat mein alter Dienststellenleiter immer gesagt.»
Gegen solche Überzeugungen war nicht anzukommen. Aksoy streckte die Segel. Sie wollte jetzt vor allem nach Hause und Glockes Gesellschaft los sein. Das nächste Mal würde sie alleine fahren. Oder gleich halb Allmenrod vorladen. Das wäre wahrscheinlich das Beste.
Später, sie war schon zu Hause, entschloss sich Aksoy noch zu einer letzten Recherche. Sie rief Herrn Tamm an, den bekennenden Alkoholiker und Diabetiker, und fragte ihn, was genau denn seine Schwiegereltern ihm gegenüber angedeutet hätten.
Carsten Tamms Zunge war schwer und seine Stimmung so, dass er Aksoys Anruf in erster Linie als Gelegenheit sah, sich über sein schlimmes Schicksal trösten zu lassen. Aksoy tat ihm zunächst den Gefallen. Doch seltsamerweise wurde er ihr mit jedem Satz, den er sagte, unsympathischer. Zwar war der Mann tatsächlich schwer gestraft. Doch als er begann, sie zu duzen und ihr Komplimente zu machen («du bist ja auch eine attraktive Frau»), reichte es ihr.
«Herr Tamm», sagte sie, «es tut mir leid, dass ich Ihnen so wenig helfen kann, aber ich habe eigentlich nur eine Frage. Was haben Ihre Schwiegereltern denn genau zu Ihnen gesagt betreffs dieses Verdachts, den sie haben?»
Sie hörte ihn am anderen Ende schwer atmen. «Rache», sagte er schließlich. «Es wär aus Rache geschehen. Rache wegen dem Tod von der Sabrina Pfister oder Vogel oder wie sie heißt.»
«Fiel ein Name?»
«Ein Name, wer das getan haben soll? Nein. Aber einer aus dem Dorf, so viel war klar.»
Hilal Aksoy saß eine Weile still, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihr kam eine neue Idee.
Was, wenn die Krombachs mit ihrem Verdacht ganz falsch lagen? Oder wenn sie gar keinen Verdacht hatten und Carsten Tamm diesbezüglich log?
Herr Tamm hatte zugegeben, dass es eine Lebensversicherung gab. Als Makler war er bestimmt in trickreichen Vorgehensweisen geübt.
Hatte er, der die Allmenröder Verhältnisse kannte, womöglich Weihnachten Sabrina Vogel samt Mann erschossen, nur um vom wahren Täter und Motiv abzulenken, wenn er Monate später seine Frau tötete?
Die Idee war verrückt. Aber sie verfolgte Aksoy noch die halbe Nacht.
Winter grinste, als sie ihm Dienstagmorgen um acht bleich mit einer Tasse Kaffee in der Hand erzählte, was sie vermutete. «Hilal! Mensch, du hast echt Phantasie. Weißt du noch, als du in dem Mainmädchenfall auf die Idee kamst, das Mädchen hätte sich selbst zwanzigmal in den Bauch gestochen und danach ins Wasser gestürzt? Klar, wir dürfen nichts ausschließen. Aber ich würde sagen, die wahrscheinlichste Möglichkeit ist das nicht.»
Sie lachte. «Okay, es klingt abenteuerlich. Aber es würde doch zumindest einige Rätsel lösen.»
«Einige. Aber nicht alle. Nicht dass ich jetzt eine Lösung parat hätte, die alles erklärt. Okay, wir behalten deine Eingebung im Hinterkopf. – Übrigens kommt hier in zehn Minuten ein Hanno Krombach vorbei.»
«Hanno Krombach? Noch ein Verwandter der Frau Tamm? Ich habe gestern in Allmenrod zusätzlich zu den Eltern noch einen wunderlichen Onkel namens Jörg Krombach kennengelernt. Das Protokoll bekommst du noch.»
«Die scheinen eine große Sippschaft zu haben, die Krombachs. Dieser Hanno Krombach jedenfalls ist nur ein weitläufiger Verwandter der Ermordeten, und er wohnt hier in Frankfurt. Zufällig oder auch nicht ist er zugleich ein Klassenkamerad von Sabrina Vogel.»
«Ah! Klingt höchst interessant.»
«Willst du dabei sein, wenn ich mit ihm spreche? Die Einladung ist nicht ganz uneigennützig, ich würde dir gerne das Protokoll überlassen. Ich habe gleich danach noch einen Termin bei der Staatsanwaltschaft.»
«Okay, geht klar.»
Aksoy erzählte kurz von gestern, Winter seinerseits briefte Aksoy. Gestern hatte er mit Sonja Manteufel gesprochen, die bekanntlich den Tatverdächtigen Preiß vertrat, und sich ganz offiziell über ihre Recherchen im Fall Vogel informiert. Manteufel hatte zwei Leute im Verdacht, hinter Sabrina Vogels mysteriösem Internet-Kontakt Sumathi zu stecken: Entweder Hendrik von Sarnau, der Schulkamerad, in den Sabrina einmal verliebt gewesen war. Oder aber den besagten Hanno Krombach, ebenfalls ein Schulkamerad und sogar mit familiären Wurzeln in Allmenrod. Beide hatten Jura studiert und lebten heute in Frankfurt. Von dem Verdacht gegen sich ahnte Hanno Krombach noch nichts. Winter hatte ihn per Fax bloß als Zeugen im Fall Verena Tamm vorgeladen, mit Hinweis auf die entfernte Verwandtschaft. Krombach war nicht überrascht gewesen. Sofort nach Erhalt des Faxes hatte er angerufen und sich freundlich bereit erklärt, zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu kommen.
Hanno Krombach war dreißig Jahre alt und trug im Nacken geknotetes langes braunes Haar zu streng konservativer Bekleidung. Sein Beruf: Gerichtsassessor, also Richter auf Probe, am Offenbacher Amtsgericht. Das hieß, er hatte beste Berufsaussichten. Nicht gerade die typischen Voraussetzungen für ein Kapitalverbrechen aus Habgier. Aber da hatte es in Frankfurt schon andere Beispiele gegeben.
«Herr Krombach», begann Winter, «können Sie uns kurz sagen, in welchem Verwandtschaftsverhältnis genau Sie zu der ermordeten Verena Tamm stehen?»
Krombach nickte. «Ihr Opa war der Bruder meines Opas. Unsere Väter sind Cousins.»
Aksoy hakte nach: «Können Sie uns außerdem noch sagen, ob und wie Sie mit einem Herrn Jörg Krombach aus Allmenrod verwandt sind?»
«Oh. Da muss ich kurz nachdenken. Jörg ist Dieters Bruder und Heiners Sohn … okay, er ist auch ein Cousin meines Vaters. Bloß jünger. Und er ist wohl der Onkel von Verena.»
«Gut», sagte Winter. «Damit wir das vom Tisch haben, frage ich Sie jetzt pro forma, was Sie am letzten Dienstag, dem Todestag von Verena Tamm, von morgens an bis um zwei Uhr nachmittags gemacht haben.»
Krombach lächelte milde. «Darauf bin ich natürlich vorbereitet. Ich habe Ihnen hier einen Ausdruck aus meinem Terminkalender mitgebracht. Die Namen und Adressen der Schöffen, die an dem Tag dran waren, hab ich auch gleich beigefügt. Die können meine Anwesenheit bezeugen. Wie auch zahlreiche andere Personen.»
Winter warf einen Blick auf den Zettel. Er dokumentierte einen vollen Tag am Offenbacher Amtsgericht. Von dort bis ins Frankfurter Westend waren es bei optimalen Verkehrsverhältnissen gute zwanzig Minuten Fahrt. Wenn die Angaben aus dem Kalender stimmten, konnte Krombach Verena Tamm nicht persönlich erschossen haben. Was nicht ausschloss, dass er einen Killer geheuert hatte.
«Hatten Sie in den letzten zwei Jahren Kontakt zu Verena Tamm? Direkt, telefonisch, übers Internet?»
Hanno Krombach schüttelte den Kopf. «Verena und ich haben uns, glaube ich, zuletzt bei der Beerdigung von meinem Großonkel Heiner gesehen, also Verenas Opa. Das ist mindestens fünf Jahre her. In ihrer Frankfurter Wohnung war ich noch nie und sie nicht in meiner.»
«Waren Sie zusammen auf der Schule?»
«Jein. Wir waren schon auf derselben Schule. Aber Verena ist vier oder fünf Jahre älter als ich. Da sagt man sich auf dem Schulhof allerhöchstens mal aus der Ferne Hallo. Außerdem, vom Gymnasium ist Verena nach der Zehnten abgegangen. Sie war eine schlechte Schülerin. Ihr Teil der Familie ist nicht so wahnsinnig helle.»
«Aha. Herr Krombach, was haben Sie eigentlich damit bezweckt, sich als Botschafter eines fremden Planeten auszugeben?»
Hanno Krombach sah Winter an, als sei er verrückt geworden. «Was ist denn das für ein Bullshit? Entschuldigung, können Sie die Frage wiederholen?» Die Überraschung wirkte echt.
«Sie treten doch in einem Esoterikforum unter dem Alias Sumathi auf», spezifizierte Winter.
Hanno Krombach lachte. «Esoterik? Ich? Ein Esoterikforum ist so ziemlich der letzte Ort, wohin ich mich verirren würde. Wie kommen Sie denn darauf? Hat sich da jemand angemeldet und meinen Namen benutzt?»
«Wir überprüfen das noch. Welchen Internetprovider nutzen sie?»
Krombach nannte den Namen, doch unter Protest. Was denn das mit dem Tod von Verena zu tun habe?
«Wahrscheinlich gar nichts», beschied ihn Winter, «wir versuchen nur, Ungereimtheiten zu klären. Haben Sie Kontakt zu Hendrik von Sarnau?»
Krombach wirkte immer verunsicherter.
«Hendrik? Wie kommen Sie denn jetzt auf den?»
«Herr Krombach, wir können Ihnen aus ermittlungstechnischen Gründen nicht sagen, warum wir diese Fragen stellen. Würden Sie sie bitte trotzdem beantworten?»
Hanno Krombach atmete durch, lehnte sich zurück. «Klar. Natürlich. Tut mir leid, dass ich so unprofessionell bin. Es ist schon lehrreich für mich, ein Ermittlungsverfahren mal von dieser Warte zu erleben. Okay. Hendrik also. Mit dem war ich früher befreundet, aber ich habe mich glücklicherweise aus diesen Kreisen losgeeist, als es aufs erste Staatsexamen zuging. Ab dem Referendariat habe ich ihn dann gar nicht mehr gesehen. Er ist jetzt wohl Anwalt. Ich hab aber keine aktuelle Adresse von ihm.»
«Was heißt glücklicherweise?»
«Wie?»
«Sie haben gesagt, Sie hätten sich glücklicherweise aus Hendrik von Sarnaus Kreisen losgeeist.»
«Oh. Also, Hendrik war nicht der beste Einfluss auf mich. Leben auf großem Fuß, die arrogante Grundhaltung, ich weiß nicht richtig, wie ich das erklären soll.»
«Haben Sie Schulden? Wenn Sie von Leben auf großem Fuß sprechen?»
«Sie sind verdammt aufmerksam. Nein, nicht mehr. Aber kurz vor dem ersten Staatsexamen hatte ich meine ganze Ausbildungsversicherung auf den Kopf gehauen, und das Konto war mit fast zehntausend in den Miesen. Das habe ich durch Jobben selbst wieder reingeholt. Keine Verbraucherinsolvenz oder so. Hat mich ein Jahr gekostet.»
«Kannte Hendrik von Sarnau Verena Tamm?»
«Wahrscheinlich nicht. Wir haben nie über sie geredet. Als er damals auf unsere Schule kam, war sie schon abgegangen.»
«Aber Sabrina Vogel kannte er?»
«Sie meinen Sabrina Pfister? Ja, natürlich. Wir waren ja in derselben Stufe. Ich war mit Sabrina sogar in derselben Klasse. Hendrik allerdings nicht, der kam erst in der Oberstufe auf unsere Schule. Sabrina war verknallt in ihn und ist, glaube ich, wegen ihm nach Frankfurt gegangen. Im ersten Studienjahr erzählte Hendrik immer noch, sie würde ihn belästigen. Aber so ab dem dritten Semester war Funkstille. Und irgendwann schickte sie ihm eine Hochzeitsanzeige.»
Jetzt mischte sich Aksoy ein.
«In Allmenrod», begann sie, «gibt es eine Menge Gerüchte über den Tod von Verena Tamm. Unter anderem wird gemunkelt, dass der Mord an Frau Tamm mit dem Tod von Sabrina Vogel oder Pfister im Januar zusammenhängen soll. Von Rache wird geredet. Können Sie uns dazu was sagen?»
Der angehende Richter seufzte, zog eine Grimasse und nahm kurz die Hände zum Kopf, als wolle er sich die Haare raufen. «Also wissen Sie, ich bin in Lauterbach aufgewachsen, wie übrigens auch schon mein Vater, und ich hab eigentlich mit der buckligen Verwandtschaft in Allmenrod nichts zu tun. Ich finde das alles befremdlich, diese Dorffehden, um die es da wohl geht. Aber ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass das irgendetwas mit diesen schrecklichen Morden zu tun hat. Dafür reicht meine Phantasie nicht aus.»
«Dann erzählen Sie uns doch einfach, was Sie über diese alten Familienfehden und die Gerüchte wissen», forderte Aksoy ihn auf. «Wir würden es interessant finden, mal eine Außenperspektive zu hören.»
Winter warf einen erstaunten Seitenblick auf Aksoy. Das war schon wieder eine trickreichere Formulierung, als er ihr zugetraut hätte. Sie suggerierte Hanno Krombach, der Rest der Familie habe schon geredet. Dabei hatten die Allmenröder Krombachs gestern kollektiv geschwiegen wie ein ganzes Mausoleum.
Der Jungrichter lehnte sich zurück und rieb sich kurz die Augen, dann begann er zu erzählen. «Die ganze Geschichte fing wohl damit an, dass sich mein Großonkel Heiner mit dem alten Pfister, sprich mit dem Vater der Sabrina, in der Jugend auf irgendeinem Schützenfest zerstritten hat. Angeblich hat der Pfister ihm mit Tricksereien den Titel als Schützenkönig weggeschnappt, fragen Sie mich nicht nach Details, ich hab das nie verstanden. Der Heiner hatte dann später dank seinem gutgehenden großen Hof die feschste Frau aus dem Nachbardorf abbekommen. Die Tante Rosemarie war aber kein Kind von Traurigkeit, und der Heiner war ihr wohl zu dröge. Jedenfalls hat sie sich irgendwann, als sie schon ihre Kinder hatte und im gesetzten Alter war, mit dem unverheirateten Pfister eingelassen und jahrelang mit dem die Sause gemacht. Der Heiner hat es hingenommen, weil die Alternative eine Scheidung gewesen wäre, und ihm war wohl eine halbe Rosemarie lieber als gar keine. Eines Tages hat dann der Pfister die Rosemarie mit dem Motorrad irgendwohin mitgenommen und einen Unfall gebaut. Er hat überlebt, aber sie war tot. Und dann hat er es auch noch gewagt, ihr Andenken nicht zu ehren und eine andere zu heiraten, kaum dass Rosemarie unter der Erde war. Seitdem gilt der Pfister in der Familie als das personifizierte Böse. Diejenige, die er dann geheiratet hat, war die Mutter von Sabrina Pfister, namens Gunhild. Die Gunhild war da so um die vierzig, sprich zehn Jahre jünger als Rosemarie, und das erste Kind kam angeblich auch noch weniger als neun Monate nach der Hochzeit. Phasenweise ging dann das Gerücht, die Gunhild hätte auf dem Weg irgendwo einen Draht gespannt und absichtlich den Motorradunfall herbeigeführt. Oder der Pfister habe die Rosemarie umgebracht und den Unfall nur vorgetäuscht, weil er die Rosemarie aus dem Weg haben wollte, um die Gunhild zu heiraten. Totaler Bullshit alles, wenn Sie mich fragen. Die Familie Pfister wurde dann im Dorf jahrelang richtiggehend gemobbt. Halb Allmenrod ist doch mit Krombachs verwandt. Und der Pfister ist ein Zugezogener und hatte keine richtige Seilschaft.
Der Sabrina Pfister hat das Mobbing echt nicht gutgetan. Als die aufs Gymnasium kam, hatte sie schon irgendwie eine richtige Opfermentalität. Ich hoffe mal für sie, dass sie sich später von alledem irgendwie hat lösen können. Aber viel Zeit hatte sie ja nicht, wenn sie jetzt tot ist. – Ich nehme an, dass im Dorf jetzt getratscht wird, es könnte ein Krombach gewesen sein, der die Sabrina umgebracht hat. Späte Rache für die Rosemarie. Ich glaub das aber nicht. Deshalb will ich jetzt auch keinen Namen nennen.»
«Wäre der Name, den Sie nicht nennen wollen, möglicherweise Jörg Krombach?»
Hanno Krombachs Augen huschten zur Seite, dann wieder nach vorn. «Ich kann mir gut vorstellen, dass behauptet wird, der Jörg wär’s gewesen. Der ist halt so ein kleines bisschen instabil, depressiv oder irgendwas. Aber das ist sicher auch totaler Bullshit.»
«Und wer soll dann Verena Tamm umgebracht haben? Jemand aus der Familie Pfister, aus Rache für die tote Sabrina?»
«Genau das wird wohl gemunkelt. Dieter, also Verenas Vater, hat jedenfalls meinem Vater erzählt, er würde das vermuten. Aber wir sind doch hier nicht in Albanien. Hier gibt es keine Blutrachefehden. Diese ganzen Gerüchte sind –»
«Totaler Bullshit», ergänzte Aksoy lächelnd. «Wir können daran auch nicht richtig glauben. Es gibt nämlich Indizien, dass Sabrina Pfister und Verena Tamm vom gleichen Täter umgebracht wurden.»
Hanno Krombach entfärbte sich leicht. «Nee. Tatsächlich? Das ist ja der Hammer.»
«Bitte, behalten Sie das vorläufig für sich», ergänzte Aksoy. «Wir haben das noch nicht an die Presse gegeben.»
Winter vermutete, dass sie Hanno Krombach mit dieser scheinbaren Vertraulichkeit unvorsichtig machen wollte. An die Presse würde das heute oder morgen sowieso gehen, schon deshalb, weil sie auf Hinweise hofften.
«Übrigens», mischte Winter sich wieder ein, «es hat in diesem Jahr in Frankfurt noch einen weiteren mysteriösen Todesfall einer ehemaligen Lauterbacher Gymnasiastin gegeben. Sagt Ihnen der Name Birthe Feldkamp was?»
Winter hatte heute früh Feldkamps Nummer gewählt. Von dem Anrufbeantworter hatte er erfahren, dass Birthe Feldkamp seit dem 27. Juni nicht mehr am Leben sei und man sich in dringenden Fällen unter der Nummer soundso mit ihrer Mutter in Verbindung setzen könne. Die Vergiftung war am Ende also tödlich gewesen.
Hanno Krombach wurde jetzt wirklich blass. «Die Birthe war in meiner Klasse. In meiner und Sabrinas Klasse. Das ist doch jetzt nicht wahr. Sabrina, Birthe und Verena, alle in den letzten Monaten umgebracht? Das muss ein Verrückter sein. Da frag ich mich doch, wer von uns ist als Nächstes dran?»
«Genau das frage ich mich auch», sagte Winter ernst. «Und deshalb bitte ich Sie, sehr gut zu überlegen, ob Sie uns helfen können und ob Ihnen irgendeine Idee kommt, was hier vorgeht. Wer könnte denn die Nächste sein? Wen müssen wir schützen?»
Hanno Krombach schwieg grüblerisch.
«Wenn Sie mich fragen», sagte er schließlich, «dann sind alle Frauen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig in Gefahr, die in Lauterbach aufs Gymnasium gegangen sind und die jetzt in Frankfurt wohnen. Der Täter war wahrscheinlich auch auf unserer Schule und lebt ebenfalls in Frankfurt. Ich werde mich heute Abend mit ehemaligen Mitschülern kurzschließen. Dann machen wir eine Liste, wer in Gefahr sein könnte.»
Winter lehnte sich nach vorn, kam Krombach näher.
«Und wer könnte der Täter sein? Hendrik von Sarnau?»
«Hendrik? Never. Man kann von ihm halten, was man will, aber verrückt ist er nicht. Sind verrückte Serientäter nicht meist Außenseiter? Das ist Hendrik absolut nicht.»
«Und Tim Steiner?»
«Tim? Wie kommen Sie denn jetzt auf den? Verdammt, Sie haben uns drei im Visier, mich, Hendrik und Tim?»
Winter schwieg betont, dann sagte er: «Sie haben mal mit Sabrina Vogel geschlafen, oder?»
Krombach starrte ihn mit großen Augen an. «Ich hatte neulich einen Angeklagten vor Gericht», sagte er schließlich, «der hat sein Geständnis widerrufen. Ich habe ihn gefragt, warum er denn erst gestanden hat, wenn er unschuldig ist. Und er antwortete: ‹Es gibt nichts, was so sehr verunsichert, wie von der Polizei verhört zu werden.› Und wissen Sie was, er hatte recht.»
Winter ging am nächsten Morgen als Erstes zu Fock. Der Chef sah frisch, fröhlich und aufgeräumt aus über seiner roten Fliege. In einer Vase am Rand seines hölzernen, jungfräulichen Schreibtisches prangte ein ganzer Strauß von Lilien. Gab es irgendeinen Anlass für Blumen, den Winter nicht mitbekommen hatte?
«Was gibt’s, Winter?»
«Bevor wir ins Briefing gehen, wollte ich das ein oder andere mit Ihnen besprechen, Chef. Es gibt Neuigkeiten.»
«Na, dann immer reinspaziert. Ich bin gespannt.»
Da hatte Winter wohl tatsächlich einen der raren Momente Fock’scher guter Laune erwischt. Das war auch nötig. Möglichst pädagogisch berichtete Winter, was er gestern mit der Staatsanwaltschaft verabredet hatte und was absolut nicht in Focks Sinne sein konnte.
Für Winter war das Treffen mit den Staatsanwälten günstig verlaufen. Frau Göttlich, die neue, junge Anklägerin, die die Gewalttaten in der Grafton’schen Villa betreute, trug feines langes Haar, zu einer weichen, romantischen Frisur hochgesteckt, und war genauso schlaftablettig, wie Winter sie am Telefon kennengelernt hatte. Doch es ließ sich mit ihr arbeiten. Sie hatte keine eigene Meinung vertreten und allen seinen Vorschlägen mit einem müden, langgezogenen «Jaaaa, können wir machen» zugestimmt. Staatsanwalt Nötzel, der den Fall Vogel betreute, war noch immer der Ansicht, dass Wladimir Preiß das Ehepaar Vogel erschossen hatte. Preiß hatte einen Motorradführerschein, Erfahrung mit Waffen und Einbrüchen, und das zunächst gemachte Geständnis sprach ebenfalls gegen ihn. Der Prozess gegen Preiß begann übermorgen. Nötzel sah keinen Anlass, ihn zu verschieben. Seit der neuen Entwicklung betreffs der Waffe glaubte aber auch Nötzel, der Mord an Verena Tamm hänge mit dem an Sabrina Vogel zusammen. Nötzel hatte Wladimir Preiß von Anfang an für einen Auftragstäter gehalten. Nun war seine Vermutung, dass die Auftraggeber von Preiß auch die Besitzer der Tatwaffe waren und ihm diese für die Tat nur geliehen hatten. Die zweite Tat hätte dann ein anderer geheuerter Killer – oder aber die Hinterleute selbst – mit derselben Waffe ausgeführt.
Am Ende hatte Winter das Plazet beider Staatsanwälte, die Ermittlungen im Fall Vogel in ganzer Breite wiederaufzunehmen. Das schloss nun auch Ermittlungen gegen «Sumathi» ein, den angeblichen Außerirdischen, der in dem Esoterikforum eine «Sabrina81» zum Selbstmord zu überreden versucht hatte, um ihre Lebensversicherung zu kassieren. Gegen den Unbekannten hatte die Anwältin Manteufel schon vor Wochen eine Anzeige eingereicht. Weil sie dabei auf eine mögliche Verbindung zum Fall Vogel hingewiesen hatte, war die Sache an Nötzel gegangen. Der Staatsanwalt hatte die Sache ernst genommen. Doch seine Ermittlungen hatten vorläufig ins Leere geführt. «Sumathi» war Frankfurter, so viel ließ sich über die Internetverbindung herausbekommen, aber er hatte sich stets von einem Internetcafé in der Münchener Straße eingeloggt, einem betriebigen, schlecht beaufsichtigten Ort nahe des Frankfurter Hauptbahnhofs.
Jetzt teilte Winter den Staatsanwälten mit, dass er für die Rolle des Sumathi zwei konkrete Verdächtige aus Sabrina Vogels Vergangenheit im Auge habe: Hanno Krombach und Hendrik von Sarnau. Die romantisch frisierte Frau Göttlich nahm das desinteressiert auf, aber Nötzel war auf Trab gebracht. Der Staatsanwalt sah plötzlich in dem vernachlässigten Sumathi-Aspekt die Lösung beider Fälle. Sumathi habe erst den Wladimir Preiß die Sabrina Vogel töten lassen, um so an die Lebensversicherung zu kommen. Bestimmt habe «Sumathi» auch Verena Tamm zu einer Lebensversicherung zu seinen Gunsten überredet. Und möglicherweise sogar auch Birthe Feldkamp, deren niemals richtig untersuchten Todesfall Winter an dieser Stelle ins Spiel brachte. «Ein Giftunfall mit einem selbstgemachten Pilzgericht», murmelte Nötzel, «das ist doch genau die Art von Tod, die dieser Sumathi braucht, damit eine Lebensversicherung keinen Verdacht schöpft und zahlt.»
All das referierte Winter jetzt seinem Chef. Er rechnete mit heftigem Protest, da Fock den Sumathi-Aspekt im Januar wutschnaubend abgetan und neue Ermittlungen im Fall Feldkamp vorgestern erst verboten hatte.
Doch Fock tat jetzt so, als höre er von dem mysteriösen Sumathi zu ersten Mal. Wahrscheinlich konnte er sich tatsächlich nicht erinnern, da er damals die Sache als Hirngespinst deklariert hatte, ohne Winter überhaupt zuzuhören. Durch Winters Bericht steigerte sich Focks gute Laune jetzt sogar zu Hochstimmung. Triumphierend rieb er sich die Hände. «Mensch, Winter, dann ist ja alles klar!», rief er. Winter grinste. Er hatte noch im Ohr, was Fock damals zu ihm gesagt hatte: Wie könne er nur denken, dass irgendein Geschwätz in einem Internetforum etwas mit dem Fall Vogel zu tun habe? Plötzlich war seine Meinung ins Gegenteil umgeschwungen. Typisch Fock.
«So ganz eindeutig ist es noch nicht, Chef», bremste Winter den Überschwang. «Es gibt nämlich zusätzliche Komplikationen. Erstens, wir haben eben die C-14-Datierung von diesen Schädeln im Schrank von Professor Grafton hereinbekommen. Die beiden Schädel sind tatsächlich viel jünger, als Grafton in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen behauptet.»
Focks fragender Gesichtsausdruck zeigte, dass er mit dieser Information wenig anfangen konnte. «Das bedeutet konkret», erläuterte Winter, «dass Professor Grafton ein Motiv hatte, seinen Exdoktoranden André Bründl umzubringen und seine Putzfrau Verena Tamm als Zeugin des Mordes ebenfalls auszuschalten. Hätte Bründl an dem Tag ungehindert seinen Plan ausgeführt, die Schädel mitzunehmen, um die Datierung zu überprüfen, dann wäre Graftons Karriere zu Ende gewesen und man hätte ihn mit Schimpf und Schande von der Uni gejagt. Also, Chef, wir müssen die Möglichkeit im Hinterkopf behalten, dass der Fall Tamm vielleicht doch unabhängig vom Fall Vogel ist, von der Waffe mal abgesehen. Wobei wir dann eben noch herauskriegen müssten, wie die Waffe in Graftons Hand kam. Es könnte natürlich auch sein, dass die Waffe Grafton gehört. In Adelsfamilien ist Waffenbesitz nicht selten. Stellen Sie sich vor, er bewahrt einen alten Jagdrevolver aus Familienbesitz irgendwo in einer Schublade seines Hauses auf. Seine Putzfrau hätte dann Zugang zu dieser Waffe. Gegen Weihnachten letzten Jahres kam es vielleicht zu irgendeiner neuen Provokation in dieser alten Dorffehde, von der uns Hanno Krombach gestern berichtet hat. Der Krombach’sche Familienrat beschließt, jetzt reiche es und man wolle Sabrina Vogel töten. Dann hatte Frau Tamm zu diesem Zweck Graftons Waffe ‹ausgeliehen›, weil der Revolver erstens geeignet für den Zweck war und zweitens dem wahren Täter nicht hätte zugeordnet werden können. Nach der Tat, die irgendeiner ihrer Verwandten beging, brachte sie die Waffe zurück, nicht ahnend, dass sie selbst später ein Opfer derselben Waffe werden würde.»
«Du lieber Gott, Winter, mir raucht der Schädel!», rief Fock, der nun ganz entsetzt aussah. «Machen Sie es doch nicht immer so kompliziert!»
Winter musste sich ein Lachen verbeißen.
«Ich mache es nicht kompliziert, Chef, es ist kompliziert. Und dann gibt es leider noch ein Problem.»
Fock schaute demonstrativ auf die Uhr. «Noch ein Problem? Dauert das weniger als drei Minuten? Ansonsten müssen wir es verschieben.»
«Unter fünf Minuten, versprochen. Mein Problem ist die ausgehängte Tür, die ich damals bei den Vogels im Schuppen gefunden habe. Bei der Tür war ja das Schloss zerschossen worden, mit der Waffe, mit der später der Mord begangen wurde. Keines unserer Szenarien erklärt diese Tür.»
«Wieso? Da hat halt der Preiß als Handlanger von diesem Sumathi die Tür aufgeschossen, weil er gedacht hat, dahinter ist das Schlafzimmer, und dann war aber niemand da.»
«In der Tatnacht kann das mit der Tür nicht passiert sein, denn laut dem Holzexperten, den wir gefragt haben, war schon etwas Patina auf dem gesplitterten Holz. Und Vogels haben nach allem, was wir wissen, die beschädigte Tür ja selbst ausgehängt, sie haben nach der Sache mit der Tür also noch gelebt. Außerdem hat derjenige, der die Tür aufgeschossen hat, ohne Not sein ganzes Magazin dabei geleert. Falls er vorhatte, danach jemanden zu erschießen, hätte er erst mal nachladen müssen. So dumm ist kein Auftragskiller. Nein, hinter der zerschossenen Tür muss etwas anderes stecken als ein Mordversuch. Ich glaube, solange wir die Tür nicht verstanden haben, haben wir den Fall nicht verstanden.»
«Na, wenn das Ihr ganzes Problem ist … Wissen Sie was, Winter, konzentrieren Sie sich in der Vogel-Sache darauf, diesen Sumathi als Auftraggeber zu überführen. Für einen Haftbefehl gegen die beiden Verdächtigen haben wir noch zu wenig in der Hand. Lassen Sie die beiden also erst mal in Ruhe und fragen Sie lieber bei allen Versicherungen nach, ob die Frau Vogel eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte und auf wen, dann klärt sich schon, wer der Sumathi ist. Wenn wir ihn sicher identifiziert haben, können wir untersuchen, ob der Täter auch etwas mit dieser Pilzgiftgeschichte zu tun hat. Das ist am ökonomischsten. Und in der Grafton-Sache wird dann doch der Professor selbst der Täter sein, oder er war eben das Ziel des Anschlags, Sie haben ja diese Liste mit möglichen Feinden des Professors aus der Uni. Die müssen Sie jetzt mal zügig durcharbeiten, ob sich da was ergibt.»
Winter seufzte. Er hätte das ganz anders angefangen. Er hätte sich sofort Sarnau geschnappt, dessen Praxis und Privaträume durchsucht und außerdem bei dem Pilzvergiftungsopfer Feldkamp sowie der Putzhilfe Frau Tamm das soziale Umfeld durchforstet. Aber er war froh, dass Fock «Sumathi» jetzt ernst nahm und dass er ihm gerade wieder wohlgesinnt war. Das wollte er sich nicht verderben.
Als Winter durchs Vorzimmer ging, flüsterte Hildchen: «Hast du ihm gratuliert?»
«Weshalb?», flüsterte Winter zurück. «Ach ja, die Blumen. Wofür waren die?»
Hildchen machte ein amüsiertes Gesicht. «Das ist mal wieder typisch Andi. Du kriegst nichts mit, was nicht mit deinen Fällen zu tun hat. Dabei hast du den Blumenstrauß selbst mitbezahlt. Also, Fock ist nach vielen gefährlichen Schwangerschaftskomplikationen gestern stolzer Opa eines gesunden Jungen geworden. Tochter ist unverheiratet, ein Vater existiert nicht, Tochter ist auch immer noch nicht gesund, das alles bitte nicht ansprechen, aber komm, geh noch mal rein und gratulier ihm.»
Den guten Rat befolgte Winter gern.