Als Winter am folgenden Morgen Fock über den Ausflug nach Allmenrod berichtete, zeigte der sich irritiert. «Hätten Sie nicht abwarten können, bis Kettler mit dem Preiß fertig ist? Dann hätten Sie sich die Aktion sparen können.»
«Inwiefern?»
«Der Tatverdächtige hat sein Geständnis bestätigt. Bloß bei ein paar Details gibt’s Änderungen. So soll ihn die Renate Vogel zwar nicht bezahlt haben, aber angestachelt schon.»
«Was will der Preiß denn bei der Familie Vogel gewollt haben?»
«Diamanten, die der Thomas Vogel laut seiner Mutter besessen haben soll.»
Winter verdrehte die Augen. Zierings Idee mit den Diamanten hatte Kettler garantiert von Glocke und sie dann dem Verdächtigen suggeriert.
«Und woher wusste Renate Vogel von den Diamanten», fragte er, «wenn sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn hatte? Und wo sind die Steine jetzt?»
Steffen Leibold hatte keine Anzeichen für den Kauf von Diamanten oder Gold in Vogels Unterlagen oder auf seinem Rechner gefunden. Im Vogel’schen Haus war auch nichts dergleichen gefunden worden. Ebenso wenig in der Wohnung von Renate Vogel, die die Spurensicherung vorgestern auf den Kopf gestellt hatte – dafür allerdings einiges wertloses Diebesgut, das ihr Mieter Preiß bei mehreren Einbrüchen in Kleingärten erbeutet hatte.
«Ach, Winter, machen Sie doch nicht immer alles so kompliziert. Wir haben den Täter. Ihre Fahrt in den Vogelsberg gestern war reine Spritverschwendung.»
«Das sehe ich anders. Wenn der Vater einer Getöteten eine Waffe des Kalibers besitzt, mit dem die Tat begangen wurde, dann muss man diese Waffe überprüfen. Selbst wenn der Preiß schuldig ist. Sonst bringt dessen Verteidigung bei Gericht Ermittlungsschlamperei vor, um auf unschuldig plädieren zu können.»
«Ach, Winter! Es ist nicht jeder Verteidiger derart ausgebufft. Je nun, jetzt haben wir die Waffe, dann soll die KT sie untersuchen. Wie lange dauert das?»
«Bis heute Abend. Es liegt wohl im Moment nicht viel an.»
«Gut. Wenn das Ergebnis nichts Neues bringt, dann übergeben wir den Fall heute noch an die Staatsanwaltschaft.»
«Krumme Weiden» hieß die Straße am nordöstlichen Rand des Stadtteils Nied. Sie war eher ein Feldweg denn eine Straße. Nur auf einer Seite standen Häuser, erhöht auf einem Erdwall. Nach Norden lagen Wiesen, Gestrüpp und die Nidda. Irgendwo in der Nähe war ein Reiterhof, auf dem Weg dampften Pferdeäpfel. Winter fühlte sich unwillkürlich an die einsame Lage des Vogel’schen Hauses in Kalbach erinnert.
Er war hier mit Birthe Feldkamp verabredet, einer Schulkameradin Sabrina Vogels, deren Adresse Ziering herausbekommen hatte. Da die Frau in Frankfurt wohnte und telefonisch erreichbar gewesen war, hatte Winter beschlossen, die verbliebene Ermittlungszeit für ein Gespräch mit dieser Feldkamp zu nutzen. Als er die Adresse erreicht hatte, stellte er erstaunt eine weitere Parallele zu den Vogels fest: Birthe Feldkamp wohnte in einem Einfamilienhaus, sehr ungewöhnlich in Frankfurt. Das Haus wirkte zwar nicht so düster wie das der Vogels, dafür vermittelte es – orange und weiß gestrichen – nicht nur innen, sondern auch außen ebenfalls den Eindruck «Villa Kunterbunt». Birthe Feldkamp selbst passte perfekt dazu, mit ihren Sommersprossen, der mageren, knochigen Gestalt und ihren krausen hellroten Haaren, die lange keinen Friseur mehr gesehen hatten. Die Mähne fiel ihr zottelig fast bis zum Gesäß.
Sie wohne hier allein, antwortete sie auf Winters erste Frage. Nein, sie sei nicht verheiratet, habe auch keine Kinder. Sie sei Lehrerin an einer Sonderschule ganz in der Nähe.
«Und davon kann man sich in Frankfurt ein Haus leisten?», wunderte sich Winter.
Sie lachte. «Natürlich nicht. Ich hab vor ein paar Jahren was geerbt. Beziehungsweise geschenkt bekommen. Von der Omi.»
Noch eine Parallele. Aber das war absurd, es ergab keinen Sinn.
«Darf ich Sie fragen, wann Sie zuletzt Ihre Schulkameradin Sabrina Vogel, geborene Pfister, gesehen haben?»
«Sabrina Pfister? Das weiß ich nicht genau. Kann Jahre her sein. Wir sind uns in der Stadt mal über den Weg gelaufen. Da habe ich noch studiert. Daher weiß ich, dass Sabrina auch noch in Frankfurt ist. Aber außer dem einen Mal hatten wir eigentlich keinen Kontakt.»
«Was heißt eigentlich?»
«Gar nichts. Wir hatten definitiv keinen Kontakt, Punkt. – Was ist denn mit der Sabrina?»
«Sie wurde in der Nacht nach Weihnachten in ihrem Haus ermordet.»
«Was? O Gott. Das ist ja grauenhaft.» Birthe Feldkamp riss ihre Augen weit auf und rutschte auf dem Sessel ganz nach vorn. «Sie suchen den Täter? Deshalb sind Sie hier?»
«Richtig.»
«War es denn nicht Sabrinas Mann?»
«Kam der Ihnen so vor, als würde er demnächst seine Frau umbringen?»
Feldkamps grüne Augen waren nachdenklich auf Winter gerichtet. «Ja – nein. Nicht unbedingt. Er war an dem Tag dabei, als wir uns zufällig getroffen haben. Ich dachte mir bloß, das war ja klar, dass Sabrina sich den Erstbesten nimmt und Kinder bekommt und einen auf Muttertier macht. – Aber ist es denn nicht meistens der Mann, wenn eine Frau ermordet wird?»
«In diesem Fall nicht. Herr Vogel wurde ebenfalls erschossen.»
«Uff! Das ist ja heftig.»
«Es kann allerdings gut sein, dass Sabrina Vogel das eigentliche Ziel des Mordanschlags war. Wissen Sie von jemandem aus Sabrinas Vergangenheit, der ihr Böses wollte?»
«Sie meinen, aus der Schulzeit?»
«Zum Beispiel.»
Sie grübelte wieder, länger diesmal.
«Also, wissen Sie, Sabrina war nicht gerade beliebt. Aber eher hat sie Grund, jemanden von früher umzubringen, als umgekehrt. Der wurde manchmal richtig übel mitgespielt.»
«Zum Beispiel?»
«Zum Beispiel haben wir einmal im Sportunterricht Völkerball gespielt, also, da wurden Mannschaften gebildet, und natürlich kam sie als Letzte unter, weil niemand sie wählen wollte. Und sie wurde bei Ballspielen auch nie angespielt. Nur ist es bei Völkerball ja so, dass man die Leute von der gegnerischen Mannschaft mit dem Ball treffen muss. Und dann war sie als Letzte auf dem Feld übrig geblieben, und jemand von den anderen hat auf sie gezielt und sie auch getroffen, und der Ball prallte von ihr ab und rollte weg, irgendwo in die Hallenecke. Einer sollte dann den Ball holen gehen, und der sagte: ‹Igitt, den Ball fass ich nicht an, den hat das Pfister berührt.› So wurde Sabrina genannt, ‹das Pfister›. Das mit dem Ball fanden alle lustig, und es wurde eine Art Massenhysterie daraus, alle weigerten sich, den Ball anzufassen und schrien, iii, da ist Pfister-Schleim dran, und dergleichen. Der Lehrer hat dann schließlich das Spiel abgebrochen, weil wir uns einfach weigerten weiterzumachen. Klasse acht oder neun muss das gewesen sein. So was hat Sabrina öfter erlebt.»
«Und ich dachte, in Gymnasien auf dem Lande sei die Welt noch in Ordnung.»
«Willkommen in der Realität. Mobbing hat es immer schon gegeben.»
«Hat sich Sabrina jemals zu rächen versucht?»
«Nicht dass ich wüsste. Sie hat das alles stoisch ertragen. Hat sich auch nicht entmutigen lassen, hat immer wieder versucht, Anschluss zu finden und sich einzubringen. Ich hab das damals nicht so gesehen, im Gegenteil. Aber aus heutiger Sicht, Hut ab, sie muss sehr stark gewesen sein. In der Oberstufe war sie dann übrigens gut befreundet mit einem Mädchen, vor dem die meisten Respekt hatten –»
«Eine Janine?»
«Genau. Da ließ das direkte Hänseln etwas nach. Wir waren ja auch älter und ein bisschen reifer. Viel gelästert über Sabrina wurde trotzdem.»
«Gab es einen Grund, warum dieses Mobbing überhaupt anfing? Hatte sie irgendjemandem was getan?»
«Davon weiß ich nichts. Ich glaube, sie war einfach der Typ, der sich anbot. Sie war irgendwie ein bisschen seltsam. Etwas abgedreht. Pflegte merkwürdige Interessen. Zog sich unmodisch an. Die aus demselben Dorf kamen, erzählten, ihre Eltern seien uralt und verschroben, und ich glaube, es gab da irgendeinen Skandal. Dass die Eltern in Wahrheit Geschwister waren oder der Vater Bigamist oder irgend so was.»
«Sie sind ganz sicher, dass Sabrina nicht in letzter Zeit versucht hat, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen?»
«Wie meinen Sie das? Auf meinem Anrufbeantworter war sie nicht, eine Mail hab ich auch nicht bekommen. Ich wüsste echt nicht, warum sie mich kontaktieren sollte. Ich war in der Schulzeit leider auch nicht besonders nett zu ihr.»
«Okay, vielen Dank, Frau Feldkamp. Sie haben uns sehr geholfen.»
«Danke zurück. Man hat ja selten so einen netten Kommissar zu Besuch.» Auf Birthe Feldkamps sommersprossigem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
Flirtet sie mit mir?, überlegte Winter. Er hätte zu gerne gewusst, wie dreißigjährige Frauen ihn sahen.
«Und übrigens, Frau Feldkamp» – er stand auf –, «Sie wohnen hier sehr einsam. Und diese Terrassenfenster, die Sie da haben, die sind eine echte Einladung für Einbrecher. Ich will Ihnen ja keine Angst machen. Aber die Sabrina Vogel wohnte auch in einem Einfamilienhaus in Feldrandlage. Und dann brach jemand ein und hat sie erschossen. Also, lassen Sie sich mal beraten und machen Sie eine anständige Sicherung an die Fenster.»
Als der Polizist draußen war, merkte Birthe, dass ihr kalt geworden war. Der Blick durch die bodentiefen Fenster nach Norden in die Weite, sonst so entspannend, bot keine Beruhigung. Gab es da draußen irgendwo einen Verrückten, einen ehemaligen Klassenkameraden vielleicht, der es nach Sabrina nun auf sie abgesehen hatte?
Doch die Gefahr, die ihr seit gestern schon ein mulmiges Gefühl bescherte, die kam nicht gesichtslos aus dem Nichts.
Birthe war gestern bei der Bewährungshilfe hinter dem Eschenheimer Turm gewesen, schräg gegenüber vom ehemaligen Volksbildungsheim. Dort lief es besser als erwartet. Birthe wurde ohne großes Aufhebens zu Matthias’ Bewährungshelferin vorgelassen, einer Frau Mitte, Ende dreißig. Birthe hätte schwören können, dass die Bewährungshelferin auf Matthias scharf war. Sie sah Birthe fast eifersüchtig an, als die sich mit den Worten vorstellte, sie sei eine Freundin von Matthias Olsberg. Dann war Birthe mit ihrem Anliegen rausgerückt. Möglichst würdevoll hatte sie erklärt, sie habe ein Haus für sich allein und massig Platz, es gebe auch zwei Bäder, und sie wolle zu Protokoll geben, sie wäre bereit, Matthias nach seiner Entlassung gegen eine eher bescheidene Miete aufzunehmen. Von Miete sprach sie eigentlich nur, weil ihr alles andere vor der Frau peinlich gewesen wäre. Außerdem, zahlte die Miete nicht sowieso das Sozialamt? Oder das BAföG-Amt? Oder wer auch immer Matthias demnächst finanzieren würde.
«Super», war die Reaktion der Bewährungshelferin. «Das kommt dem Klienten sicher sehr gelegen. In solchen Fällen ist die Wohnungssuche meist alles andere als leicht. Ist dem Herrn Olsberg noch nicht klar, aber er wird es merken.» Sie notierte eifrig Birthes Adresse. «Ach ja, Sie sind die Brieffreundin, nicht?»
«Ja.»
«Mutig, mutig», hatte die Bewährungshelferin daraufhin gesagt, mit einem Unterton, der nichts Gutes verhieß.
Birthe hatte keine Ahnung, was eigentlich Matthias’ Delikt gewesen war. Sie hatte gleich in ihrem ersten Brief an ihn geschrieben: Ich will nicht wissen, was du getan hast. Du sollst bei mir neu anfangen können, ohne Belastung durch Vorurteile. Dies schien ihm sehr recht zu sein. Also hatten sie nie darüber gesprochen. Sie wusste bloß, dass er ungefähr sechs Jahre gesessen hatte, für eine Jugendstrafe nicht gerade wenig. Er sei jetzt ein anderer als vor der Haft, hatte er einmal gesagt.
«Übrigens, Frau, äh, Feldkamp», begann die Bewährungshelferin, als Birthe schon in der Tür stand. «Ist vielleicht etwas eigentümlich, dass ich als Bewährungshelferin das sage. Aber ich würde mich vorsehen. Nicht zu vertrauensselig sein. Ganz ehrlich, den Herrn Olsberg durchschaue ich nicht.»
Danach war Birthe erstmals der Gedanke gekommen, Matthias könnte ein Frauenmörder sein. Und jetzt, nachdem sie das über Sabrina gehört hatte … Aber es war doch gänzlich unmöglich, dass Matthias etwas damit zu tun hatte? Schlagartig fiel ihr dummerweise nun ein, dass er seit Monaten Freigang hatte. Also konnte er theoretisch wirklich Sabrina … Aber nein, das war absurd. Es wäre zu viel des Zufalls, dass es dann ausgerechnet eine Klassenkameradin von ihr traf.
Birthe schaute wieder nach draußen. Allmählich wurde sie ruhiger. Der Polizist hatte ja auch nicht davon gesprochen, dass Sabrina vergewaltigt worden war. Nein, ein Sexmord war das nicht gewesen. Es drehte sich da um was ganz anderes.
Sie atmete durch, öffnete die Terrassentür und ließ Luft herein.
Anders als viele glaubten, ließ sich meist nicht feststellen, aus welcher Waffe ein Geschoss abgefeuert worden war. Doch in diesem Fall könne man es sehr wohl sehen, befand der Ballistiker. Die beim Mord an den Vogels verschossenen Patronen wie auch jene, die in der blauen Tür stecken geblieben waren, zeigten unter dem Mikroskop eine leichte Längsschramme, die für eine Unregelmäßigkeit im Lauf spreche. Diese Unregelmäßigkeit fand sich jedoch bei dem Revolver aus dem Haushalt von Sabrina Vogels Eltern nicht wieder. Die mit der Pfister’schen Waffe zu Probezwecken verschossenen Patronen kamen alle makellos heraus. Und frische Schmauchspuren, die auf eine kürzliche Verwendung der Waffe schließen ließen, hatten sich ebenfalls nicht gefunden.
Winter war wie vor den Kopf gestoßen. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Position gegenüber Sven Kettler schwächte das extrem.
Es war vier Uhr nachmittags, als er die schlechte Nachricht hörte. Um fünf sollte er bei Fock vorsprechen. Also blieb ihm noch genau eine Stunde Zeit, einen Grund zu finden, mit dem er Fock überzeugen konnte, die Ermittlungen weiterzuführen.
Winter gab sich einen Ruck. Er entschloss sich, das Unmögliche zu versuchen: auf die Schnelle den geheimnisvollen Freund Sabrina Vogels aufzuspüren, den sie laut der kleinen Merle besaß und der angeblich von einem anderen Planeten kam.
Natürlich hatte Winter längst im Internet unter «Sumati» oder «Sumaty» gesucht, wie der Geheimnisvolle nach Merles Angaben heißen sollte. Und natürlich war dabei nichts Hilfreiches herausgekommen. In dem selten benutzten Mailkonto von Sabrina Vogel gab es keinerlei Kontakt zu einem Mann, erst recht nicht zu einem, der sich Sumati nannte. Anzeichen für die Existenz weiterer Mailkonten hatte der Rechner laut Steffen Leibold ebenfalls nicht hergegeben.
Von der KT aus machte sich Winter geradewegs zu Leibold auf.
«Sag mal, Steffen, hast du den Rechner der Vogels noch hier?»
«Ja. Da isser.» Der Rechner war sogar an. Leibold war berüchtigt dafür, dass er Computer grundsätzlich nicht ausschaltete, auch übers Wochenende nicht. Sein Büro war eine mit Computertischen vollgestellte, fensterlose und unbelüftete Kammer, die eigentlich als Abstellraum gedacht war. Hier zu arbeiten war Leibold lieber, als ein reguläres Büro mit jemand anderem teilen zu müssen. Winter hatte sich dafür eingesetzt, dem Computerfreak seinen Spleen zu lassen.
«Ich muss da mal ran», verkündete Winter jetzt. Einen zweiten Stuhl gab es nicht, er versuchte es im Stehen. Im Startmenü fiel ihm der Begriff «Doom» ins Auge.
«Dieses ‹Doom› hier, ist das nicht so ein Killerspiel?», fragte er Leibold.
Der zuckte die Schultern. «Wenn du’s so nennen willst. Ich hab das auch zu Hause. Ist einfach ein gutes Spiel. Es kommt auch bestimmt niemand auf die Idee, das mit der Realität zu verwechseln. Spielt auf dem Mars und –»
«Auf dem Mars?» Winter spürte seine letzten Hoffnungen schwinden. Ein Freund von einem anderen Planeten. Die kleine Merle Vogel, die laut der Zeugin Frau Höfling Computerspiele und Realität nicht unterscheiden konnte. Kettler hatte wohl doch recht mit seiner These. Und Winter war die ganze Zeit einem Phantom nachgelaufen.
«Sag mal, Steffen, kommt in dem Spiel eine Figur namens Sumati vor?»
«Sumati?»
«Oder so ähnlich.»
«Kenn ich nicht.»
Winter erzählte ihm, was Merle über den angeblichen Alien-Freund ihrer Mutter gesagt hatte.
Leibold bekam sein abendliches Augenzucken. «Na klar», sagte er, «dieser Sumati ist bestimmt jemand, mit dem die Sabrina Vogel zusammen Doom gespielt hat. Online. Dafür gibt es Plattformen im Internet. Ist übrigens wahrscheinlich kein Mann. Sumati hört sich an wie ein indischer Frauenname.»
Leibold kannte sich in Sprachen aus. Nach Computern war das sein zweites Hobby: die indogermanischen Sprachen. Angeblich war er immer drauf und dran, eine neue Theorie zu entwickeln.
Winter lehnte sich an einen der Computertische. Der heimliche Liebhaber: Eine Frau, mit der Sabrina Vogel zusammen ein Internet-Rollenspiel gespielt hatte und deren wahre Identität Sabrina sicher gar nicht kannte. Es gab keinerlei Zusammenhang mit dem Fall.
Doch halt. Hatte die kleine Merle nicht gesagt, ihre Mutter habe sich «mit dem» auch im realen Leben einige Male getroffen, und zwar «in der Stadt», also hier in Frankfurt?
«Angenommen», sagte er, «es ist kein indischer Frauenname, sondern ein reiner Phantasiename für einen Mann. Oder wegen mir was Afrikanisches. Fällt dir noch eine mögliche Schreibweise ein, unter der ich im Internet suchen könnte?» Winter fischte einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn Leibold hin. Er hatte notiert, unter welchen Schreibweisen des Namens er bereits gesucht hatte. Von Zoomutty bis Soumatie war alles dabei. Vorgestern hatte er seinen ganzen Feierabend damit zugebracht
«Probier’s doch mal mit h hinterm t», schlug Leibold vor. «Das wäre dann definitiv nicht Hindi, obwohl’s so aussieht. Und gib Doom dazu ein, vielleicht findest du ja was.»
Zunächst aber sah Winter in die temporären Internetdateien des Vogel’schen Rechners. Die Hauptseite eines Esoterik-Forums fiel ihm ins Auge. Dort hatte sich zweifellos Sabrina Vogel herumgetrieben und nicht ihr Mann. Winter rief das Forum im Internet auf, gab «Sumathi» in die lokale Suchfunktion und bekam haufenweise Ergebnisse, fast alle aus einem langen Thread, in dem ausschließlich zwei User Konversation betrieben: «Sumathi» und «Sabrina81». Titel des Threads: «Botschafter eines anderen Planeten».
Winter klickte aufs Geratewohl eine der über sechzig Seiten des Threads an. Sie stammte vom Oktober letzten Jahres und sah folgendermaßen aus:
www.esoterikforum.de/astralreisen/showthread.php?t=199987/Botschafter eines fremden Planeten
Vielleicht war ich heute Nacht auf Ananda. Ich habe alles so deutlich vor mir gesehen, als wäre ich wirklich in einer anderen Welt. Selbst jetzt kann ich mich noch an jedes Detail erinnern.
Erzähl, was du gesehen hast.
Es war eine Landschaft von magischer Schönheit. Rechts und links Hügel, und vor mir lag eine große weiße Weite. Auch der Himmel war gelbweiß oder vielmehr durchsichtig, einfach nur reines Licht. Es war jemand bei mir, den ich hörte, aber nicht sehen konnte, der sagte in einer schönen, ruhigen Stimme: «Wir sind hier am Meer.» Ich erkannte, dass das Weiße vor mir Eis war; in der Ferne war etwas wie ein Schiff mit einem riesigen drachenförmigen Segel zu erkennen. Rechts erhob sich ein rätselhaft aussehendes Gebäude über einer Anlegestelle, und davor sah ich eine schwarze Fläche, offenes Wasser. In dem Wasser schwamm etwas, es war so wunderschön, dass es mir den Atem verschlug. Es war eine Art große Schildkröte, deren Panzer in Türkis und Smaragdtönen leuchtete, als sei er verzaubert.
Du hast eine Serapi gesehen. Es sind sehr friedliche Tiere, von denen wir glauben, dass sie ein höheres Bewusstsein besitzen. Sie sollen in früheren Zeiten vielen geholfen haben, die sich in Seenot befanden. Doch das kommt bei unserer heutigen fortgeschrittenen Technik und Mentalkraft natürlich nicht mehr vor.
Ja, Sabrina, ich habe deine Seele heute Nacht kurz nach Ananda bringen können. Du solltest einen Vorgeschmack erleben von dem, was dich erwartet. Damit du entscheiden kannst, ob du wirklich dorthin willst. Wie hat es dir gefallen?
Es ist wunderschön dort. Ich bin noch ganz erfüllt davon. Ja, Sumathi, ich will.
Winter stöhnte. Was sollte denn das? Worum ging es hier? Betrieben die beiden gemeinsam eine Art Fantasy-Rollenspiel?
Notgedrungen klickte er sich nach und nach zur allerersten Seite des ewig langen Threads, obwohl es wahrscheinlich sinnlos war, und begann von vorne zu lesen.
Und vergaß darüber, dass er um fünf Uhr mit Fock verabredet war.
Zur gleichen Zeit stand der angehende Archäologe André Bründl in einem Kellerraum des alten IG-Farben-Hauses, in dem heute viele Institute der Frankfurter Uni untergebracht waren. Die teure, komplizierte Maschine, an der Bründl sich zu schaffen machte, war ein Beschleuniger-Massenspektrometer, ein lindwurmartiges, aus vielen hintereinandergeschalteten Teilen bestehendes Gerät, mit dem sich seltene Isotope in einem Stück Materie aufspüren und zählen ließen.
Ursprünglich hatte das Monstrum bei den Physikern gestanden. Aber Professor Grafton, der Popstar der deutschen Archäologie und zugleich Andrés Chef, hatte dafür gesorgt, dass die Kiste exklusiv den Archäologen zur Verfügung gestellt wurde.
Alte Knochen, Pollen, organische Stoffe jeder Art konnte das Monstrum daraufhin untersuchen, wie viel radioaktiver Kohlenstoff darin enthalten war. Je älter der Fetzen organisches Material, desto weniger C-14 enthielt er. Das sagten unmissverständlich die Gesetze der Physik. Auf das Jahr genau konnte man das Alter etwa eines ausgegrabenen Menschenschädels zwar nicht schätzen. Dazu reichte die Messgenauigkeit selbst des besten Spektrometers nicht. Aber ziemlich nahe kam man den wahren Daten schon. Jedenfalls nahe genug, um zu wissen, ob man ein Mordopfer aus jüngerer Zeit oder eine mittelalterliche Leiche vor sich hatte.
André Bründl war ein externer Doktorand, der nicht zum engsten Kreis des berühmten Professors Grafton gehörte. Er hatte kämpfen müssen, bis ihm Zugang zu dem kostbaren Gerät gewährt wurde, und er hatte keinerlei Hilfe Graftons beim Bedienen erhalten. André vermutete, dass der Professor sein Hightech-Monster hauptsächlich zu einem Zweck benutzte: Gegen Geld überprüfte er für die Kirche Heiligenknochen und dergleichen auf Alter und Echtheit. Institutsintern munkelte man, dass Grafton gelegentlich Gefälligkeitsgutachten erstellte und Reliquienknochen als alt datierte, obwohl sie es nicht waren, um die Aufträge aus katholischen Kreisen am Laufen zu halten.
André kannte sich zum Glück mit Radiokarbondatierungen ganz gut aus. Doch er war nicht wegen einer Reliquie im Keller. Er hatte eigenes Fundmaterial mitgebracht. Menschliche Knochen, die inmitten steinzeitlicher Überreste an einer Straßenbaustelle bei Cottbus zutage getreten waren. Sofort, als er vor zwei Jahren von den Baustellenfunden hörte, hatte er sich als unbezahlter Freiwilliger gemeldet. André hatte Erfahrung aus Praktika, und da der brandenburgische Landeskonservator nicht abkömmlich war, hatte man ihm gleich die Leitung der Ausgrabung übertragen, ein großes Glück für einen jungen Archäologen. Es war eine Bergungsgrabung gewesen. André und ein paar ebenfalls unbezahlte Laienhelfer hatten die steinzeitlichen Siedlungsüberreste vor den Baggerschaufeln retten müssen, die sich immer weiter ins Gelände gruben. Drei Wochen hatten sie gearbeitet wie die Berserker, bei Kälte, Regen und Dunkelheit, um möglichst viele Urzeitrelikte zu bergen, nachts bei Flutlicht, das der FC Energie Cottbus zur Verfügung stellte. André Bründl hatte niemals härtere drei Wochen erlebt. Aber er war stolz auf das, was sie erreicht hatten.
Diese Ausgrabung war die Basis seiner Doktorarbeit, die er fast fertiggestellt hatte. Jetzt hatte er nur noch die Kür vor sich, die sein Werk perfekt machen sollte, eines summa cum laude würdig: Er wollte die Fundstätte datieren. Im Groben wusste man natürlich, aus welcher Zeit die primitive Siedlung stammte. Sie hatten Tonscherben der Rautenkeramik gefunden. Das Alter der Rautenkeramikkultur war ungefähr bekannt. Andrés Chef Professor Grafton höchstselbst hatte Anfang der neunziger Jahre diese ostelbische Steinzeitkultur erstmals wissenschaftlich datiert. Graftons Datierung war eine Sensation gewesen – die erste von mehreren, mit denen der Brite zur Koryphäe der deutschen Archäologie aufgestiegen war. Die Rautenkeramikkultur erwies sich nämlich als sehr alt, genauso alt wie die frühen Landwirtschaftskulturen des Orients. Das warf alle Theorien über die Entstehung der Landwirtschaft über den Haufen. «Tierzucht und Töpferei in Deutschland erfunden», titelten die Gazetten, eine führende Tageszeitung machte «Ex occidente lux» daraus, während die Fachwelt von einer unabhängigen Parallelentwicklung sprach.
Der Ionendetektor piepte. André spürte die Anspannung steigen. Das Gerät hatte seine Arbeit getan, hatte das Stückchen menschlichen Knochen aus der Grabung, das er als Probenmaterial eingelegt hatte, mit Cäsium beschossen und die sich lösenden Ionen des radioaktiven Kohlenstoffs gezählt. Mit den rohen Daten, die der Bildschirm jetzt ausspuckte, konnte man noch nicht viel anfangen. André lud sich die Daten auf seinen Rechner und gab alles in das Programm ein, das er eigens für diesen Zwecks geschrieben hatte. Nach einer Minute Sanduhr bekam er eine geeichte und kalibrierte Jahreszahl für das Alter der Probe.
Ihm wurde erst heiß, dann kalt. Er musste etwas falsch gemacht haben. André versuchte sich zu beruhigen, gab alle Daten erneut ein. Wartete nervös. Und bekam dasselbe Ergebnis. Entweder, er war unfähig. Oder das Skelett, das sie in der Grabung gefunden hatten, war ziemlich exakt dreieinhalbtausend Jahre zu jung.
Um Viertel vor sechs telefonierte Fock Winter herbei. Die Wangen des Ersten Kriminalhauptkommissars wurden immer röter unter der Silbertolle, während Winter versuchte, sich zu erklären. «Mensch, Winter, was ist denn nur los mit Ihnen?», unterbrach Fock seinen Mitarbeiter schließlich. «Wenn ich nicht wüsste, dass Sie gerade im Urlaub waren, dann würde ich sagen, Sie brauchen welchen!»
«Alles okay, Chef, ich mache lediglich meine Arbeit. Ich bin noch nicht ganz durch mit diesen sechzig Seiten Forenkonversation. Aber wenn ich’s richtig verstanden habe, dann redet dieser Sumathi Sabrina Vogel ein, dass er ihre Seele in einen anderen Körper auf einem anderen Planeten versetzen kann und dass sie eine Lebensversicherung –»
«Lieber Kollege Winter! Jetzt reicht es aber. Der Fall ist abgeschlossen. Wir sind heute Morgen übereingekommen, dass wir die Akte Vogel der Staatsanwaltschaft übergeben, wenn der Test an dem Revolver von Sabrina Vogels Vater nichts ergibt. Und was machen Sie? Statt dass Sie mir umgehend das eindeutig negative Ergebnis aus der Ballistik mitteilen, fangen Sie neue Recherchen an! Auf was für einer Wolke leben Sie denn, dass Sie glauben, irgendein Gerede in einem Esoterikforum im Internet hätte etwas mit dem Tod von Sabrina Vogel zu tun? Den Namen Sabrina gibt’s nicht nur einmal. Ernsthaft, Winter, Sie haben sich da in was verrannt. Sie wollen doch nur, dass Sven Kettler unrecht hat. Ich behalte mir vor, aus diesem unkollegialen und kindischen Benehmen Konsequenzen zu ziehen. Es sei denn, Ihr Fehlverhalten hat sofort ein Ende. Mit Herrn Weber haben Sie doch schließlich auch ohne Probleme zusammengearbeitet.»
Herr Weber war Winters Freund und Kollege, der vor drei Monaten nach Kassel versetzt worden war. Winters Herz klopfte unangenehm. Er wusste, dass er vorläufig verloren hatte. Alles, was er zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, würde in Focks Augen nur wie Renitenz aussehen. Allmählich wurde ihm klar, dass Fock schon seit dem Weggang von Gerd Weber Ende Oktober nach Fehlern bei ihm suchte. Fock hatte sich wohl eingeredet, dass die gute Arbeit des Teams all die Jahre auf Gerd und nicht auf ihn zurückzuführen sei. Ihm allein traute er nicht viel zu.
«Danke für die Abreibung, Chef», sagte Winter nach einer langen Pause, halb ironisch. «Ich denke schon, dass ich in den letzten Tagen sinnvolle Arbeit gemacht habe. Ich sehe allerdings ein, dass ich mich nicht gut abgesprochen habe, weder mit Ihnen noch mit Sven Kettler. Das wird sich ändern.»
Er stand auf und ging. Die letzten konzilianten Worte bereute er beinahe schon wieder. Es war nicht gut, Fehler zuzugeben. Das machte einen bloß angreifbar. Das war so bei der Polizei. Jedenfalls im Frankfurter Präsidium.
Sven Kettler war schon fort, als Winter im Büro seine Jacke holte. Natürlich. Wann traf man Kettler noch um sechs Uhr abends an? Höchstens, wenn es wie gestern darum ging, einen Verdächtigen zum zweiten Mal binnen zwei Tagen mit Drogenentzug weichzuklopfen. Kettler hatte so harmlos gewirkt, als er vor zehn Wochen seinen Dienst in der MK 1 antrat. Ein harmloser, lebenslustiger Idiot. Doch da hatte Winters Menschenkenntnis ihn getäuscht. Genau wie umgekehrt bei Hilal Aksoy, die nicht annähernd so unangenehm war, wie er von flüchtigen Begegnungen geglaubt hatte. Gut, er und sie waren nicht immer einer Meinung. Aber menschlich war sie in Ordnung.
Er war froh, dass heute Freitag war und er zu Fuß nach Hause musste, weil Carola das Auto zum Einkaufen hatte. Bis zur Glauburgstraße waren es vom Präsidium aus zwanzig Minuten, gerade richtig, um sich die Füße zu vertreten und sich den Arbeitsfrust vom kalten Wind aus dem Kopf blasen zu lassen.
Beim Verlassen des Gebäudes trugen ihn seine Füße wie selbstverständlich zum Haupteingang – und zur Kriminalwache, die gleich daneben lag. Er musste mit jemandem reden. Mit jemandem, der nicht zu seinem Team gehörte, aber das Präsidium kannte.
Auf der Wache herrschte keine große Hektik. Die Beamten der Spätschicht hatten gerade ihren Dienst begonnen. Hilal Aksoy saß tippend am Computer, zum Glück ein gutes Stück entfernt von den übrigen Kollegen. Sie arbeitete so konzentriert, dass sie Winter erst bemerkte, als er neben ihr stand.
«Oh. Hallo, Andi.»
«Ich würde gerne kurz mit dir reden, wenn das im Moment geht.»
«Kein Problem.» Sie warf ihren Zopf zurück, der heute geflochten war, zog ihm einen Stuhl heran und drehte ihren zu ihm. «Setz dich.»
Sie berührten sich fast an den Knien. Ihre dunklen Augen sahen ihn ernst und warm an. Ihm wurde klar, dass er hergekommen war, weil Hilal Aksoys Gegenwart ein Trostpflaster für ihn darstellte. So wie andere Leute sich in ähnlicher Situation einen Whisky on the rocks oder eine Packung Sahneeis mit Schoko-Orangen-Geschmack gönnten, so gönnte er sich Hilal Aksoy.
Nein, das stimmte nicht. Er wollte wirklich mit jemandem reden und ahnte, dass er von seiner Frau Carola im Augenblick nicht das Verständnis bekommen würde, das er brauchte.
«Ich hatte Ärger mit Fock und würde mich gerne mit jemandem aussprechen, der das nicht weiterträgt», sagte er leise. Die Kollegen im Hintergrund diskutierten lautstark ein Fußballspiel und würden wahrscheinlich nichts mitbekommen.
Sie nickte. «Erzähl.»
Das tat er. Sie äußerte angemessen Mitleid. Und dann lachte sie.
«Weißt du noch, letztes Jahr? Da warst du dir so sicher, wer die Täterin war, und ich wollte immer noch weiterermitteln und hatte jeden Tag eine andere Idee, wer es stattdessen gewesen sein könnte. Wir haben uns aber trotzdem irgendwie geeinigt.»
«Vor allem wäre keiner von uns beiden auf die Idee gekommen, zu Fock zu laufen und sich über den anderen zu beschweren.»
«Weißt, du Andi, du kennst Fock besser als ich. Aber so, wie ich ihn erlebt habe, sind Focks Ansichten sehr wechselhaft, und vergesslich ist er auch. Heute regt er sich auf, morgen ist wieder alles in Ordnung. Über Focks Rüffel und Andeutungen würd ich mir erst mal nicht so viele Gedanken machen. Aber Sven Kettler … Ich hatte in dem Kalbacher Fall mehrere Tage mit ihm zu tun, als du im Urlaub warst. Da hatte ich den Eindruck, dass er sich auf unangenehme Weise profilieren will und es genießt, dass du nicht da bist. Mit dem könntest du weiter Probleme haben. Wahrscheinlich wird er nach ein paar Jahren zur nächsten Dienststelle wandern, weil selbst Fock ihn dann durchschaut. Aber bis dahin musst du ihn ertragen. Hab Geduld.»
Winter seufzte. Aksoy konnte ja nicht ahnen, dass er nun mit zwei Baustellen leben musste: zu Hause und am Arbeitsplatz.
Für den Bruchteil einer Sekunde legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Ihm wurde ganz heiß. Sie wechselte das Thema.
«Was diesen Doppelmord betrifft: Du kannst da leider jetzt nicht mehr weitermachen, sonst bekommt Fock einen Anfall, und Kettler wird dein Todfeind. Aber es würde einen doch interessieren … – Sag mal, erinnerst du dich noch an diese Frau Manteufel?»
«Die dicke Anwältin?»
«Genau. Die hat doch eine kriminalistische Begabung. Immerhin hat sie letztes Jahr einiges rausbekommen, was wir übersehen hatten. Erzähl der doch einfach mal von dem Fall. Vielleicht hat sie Lust, diesen Preiß zu vertreten.»
Verrückte Idee, fand Winter. Aber bevor er das kommentieren konnte, rief einer der Männer: «Hey, Lali, wir müssen raus.»
«Was gibt’s denn?», fragte Aksoy, die sofort aufstand.
«Gefährliche Körperverletzung in Bonames. Messerstecherei. Täter flüchtig.»
«Viel Glück», wünschte Winter noch. Doch Aksoy hörte schon gar nicht mehr hin.
Auf dem Nachhauseweg drehte Winter trotz Kälte noch zwei Runden im kahlen Holzhausenpark, um Abstand zu gewinnen.
Im Flur seiner Wohnung in der Glauburgstraße lief ihm Tochter Sara über den Weg, statt im zünftigen Goth-Schwarz in häuslicher Schlamp-und-Bettkluft einschließlich rosa Fleeceoberteil. Sara hatte er seit der Rückkunft aus Fuerteventura kaum gesehen. «Da ist ja mein Hase!», rief er freudig. Seine Tochter ließ sich ausnahmsweise ohne Widerstand oder Protest gegen die «Hase»-Anrede in den Arm nehmen und auf die Wange küssen. Dabei fiel Winter ein scheußliches Piercing unterm Mund ins Auge. «Neu?», fragte er und deutete mit dem Finger drauf.
«M-hm.»
«Sehr hübsch», log er. «Wiewohl ich dich ohne auch sehr hübsch fand.»
«Mensch, Papa», sagte Sara, lachte und wurde etwas rot.
«Du, Hase, deine Mutter … Können wir mal kurz in dein Zimmer gehen und reden?»
«Och nö», stöhnte Sara zutiefst entnervt.
«Nur ganz kurz. Ich fress dich nicht.»
Mit Märtyrermiene schritt Sara voran. In ihrer dunkellila gestrichenen kleinen Höhle von Dachzimmer blieb sie mit vor der Brust verschränkten Armen stehen. «Und? Was hab ich jetzt wieder verbrochen?», blaffte sie.
«Gar nichts», sagte Winter beherrscht. Es ist nur … deine Mutter hatte gewisse Flecken auf deinem Betttuch entdeckt. Ich wollte dich bloß fragen, ob du dich mit Verhütung auskennst.»
Sara rollte die Augen, schien aber erleichtert. «Mensch, Papa. Sexualkunde hatten wir in Klasse sechs.» Sie zog ihre Nachttischschublade auf und holte ein Päckchen Präservative hervor. Winter sah möglichst schnell weg. Es war ihm ungemein peinlich, mit seiner Tochter über Sex zu reden. Oder sich vorzustellen, dass jemand mit ihr – er wollte das eigentlich alles gar nicht wissen.
Übrigens, wenn sie ein Präservativ benutzt hatten, woher dann der Fleck? Aber danach erkundigte er sich lieber nicht.
«Darf man fragen, wer der junge Mann ist? Der berühmte Selim, nehme ich an?»
Selim war Clubbetreiber, nach Ansicht von Saras Mutter kriminell und nach Ansicht Winters zwar mit dreiundzwanzig definitiv zu alt für Sara, aber ansonsten keine Katastrophe. Saras Eltern hatte er sich bisher nur einmal persönlich gezeigt.
«Das geht dich überhaupt nichts an», keifte Sara böse auf die Frage nach der Identität dessen, mit dem sie angeblich die Kondome benutzt hatte.
«Das geht mich sehr wohl was an», brüllte Winter zurück. Dann nahm er die Hände hoch. «Sorry», sagte er. Er hatte sich vorgenommen, seiner Tochter gegenüber nicht mehr laut zu werden. Das hatte nie etwas gebracht. Es reichte, wenn sie bei jeder Gelegenheit ausrastete. Er als Erwachsener hatte die Aufgabe, ruhig zu bleiben.
«Also, Hase, natürlich musst du uns das nicht erzählen. Aber dass es uns interessiert, ist doch klar. Wenn du mal reden oder einfach nur was erzählen willst – ich bin immer für dich da, okay?»
«Okay», sagte Sara.
Er umarmte sie noch einmal, und sie ließ es geschehen.
«Schon gegessen?», fragte er dann. Ihm knurrte der Magen entsetzlich.
«Bin auf Diät», erklärte Sara.
Natürlich. Abends essen war ja neuerdings bei seinen beiden Frauen verpönt. Wiewohl Winter schwören konnte, dass Sara oft heimlich in ihrem Zimmer Süßigkeiten aß und Carola nachts an den Kühlschrank ging. Sara war eine Spur pummelig. Eigentlich hauptsächlich im Gesicht, wo ihr der Babyspeck auf den Wangen saß. Er fand das süß. Sie hasste es.
Winter verließ die Dachkammer seiner Tochter. In der großen Wohnküche mit den Holzbohlen erwartete ihn zu seiner Freude Carola, die sonst um diese Zeit vorm Fernseher saß. «Hallo, Schatz», begrüßte er sie.
Keine Antwort. Winter sah seine Frau an. Griesgrämiger Gesichtsausdruck. Arme vor der Brust verschränkt, genau wie vorhin Sara. Winter hätte am liebsten laut gestöhnt. «Mein Essen ist in der Mikrowelle, nehm ich an?», sagte er, bemüht, Carolas beleidigte Haltung zu übersehen.
«Wie immer, nachdem die Diener es dort hingestellt haben», erklärte sie.
Er ignorierte das. Jede Antwort hätte ohnehin nur zu weiterem Streit geführt. Doch damit hatte er sich nicht aus der Affäre gezogen.
«Wie darf ich es verstehen, dass du im Moment dauernd spät nach Hause kommst?»
«Das darfst du so verstehen, dass ich Stress im Büro habe. Ein Fall, der ziemlich anstrengend ist, und dieser neue Kollege Kettler hat beim Chef gegen mich intrigiert. Da habe ich lieber etwas mehr gemacht.»
«Ach? Ist der Kollege Kettler jetzt schuld, dass du keine Lust hast, dich um die Erziehung deiner Tochter zu kümmern?»
«Wie bitte? Carola, kannst du einmal sachlich sein? Übrigens habe ich eben mit Sara geredet.» Er nahm den Teller mit irgendeinem gelblichen Eintopf plus Reis aus der Mikrowelle und verbrannte sich fast die Hand dabei.
Carola ließ nicht locker. «Aha, das nennst du also ‹reden›? Erst ‹Mein Hase› und ein Lob für das hässliche Piercing, das ihr alle seriösen Berufschancen verbaut, dann eine Minute Nettigkeiten in ihrem Zimmer, und das war’s. Was hast du ihr denn gesagt?»
«Dass sie anständig verhüten soll natürlich. Worauf sie mir ihre Präservative gezeigt hat. Dann hab ich gefragt, wer der junge Mann ist, aber das wollte sie mir nicht sagen.»
«Ach nee. Das wollte sie dir nicht sagen. Und das nimmst du so hin?»
Winter ließ die Gabel auf den Tisch fallen. «Hätt ich’s aus ihr rausprügeln sollen? Sag mal, Carola, hast du vergessen, was wir vor Fuerteventura besprochen haben? Kannst du vielleicht mal weniger negativ sein und mir nicht ständig Vorwürfe machen?»
Carola antwortete nicht, stand da, die Arme verschränkt, das früher so freundliche Gesicht sah verhärmt und verkniffen aus. Oder waren es bloß die Falten, der Zug der Schwerkraft an den alternden Mundwinkeln? Winter versuchte, sein Hühnercurry zu essen. Er hoffte, dass sie gerade in sich ging. «Übrigens echt lecker», sagte er nach zwei Minuten. Ein wie immer verdientes Lob. Carola kochte brillant.
Jetzt verließ sie in Windeseile den Raum, ohne ihn anzusehen.
Winter seufzte. Nachdem er fertig gegessen hatte, holte er das Telefon in die Küche, die sich immer mehr zu seinem einsamen abendlichen Aufenthaltsort entwickelte, und rief seine Schwägerin an. Annett war eine fröhliche, resolute Person, fünf Jahre jünger als Carola. Sie war ledig und arbeitete im Zoo als Tierpflegerin, ihrem erklärten Traumberuf.
«Sag mal, Annett», begann Winter ohne lange Vorrede, «ist irgendwas mit Carola, wovon ich nichts weiß? Hat sie einen Freund, oder hab ich ihr letztes Jahr was getan, ohne es zu merken? Wir streiten uns die ganze Zeit, und ich habe den Eindruck, dass es nicht an mir liegt.»
«Mensch, Andi, das tut mir leid. Davon weiß ich gar nichts. Sie erzählt mir immer nur, wie furchtbar Sara im Moment ist. Ja, doch, und dass du sie nicht genug unterstützen würdest, was Sara betrifft, und nie Zeit hättest. Sie ist halt sehr empfindlich und reizbar im Moment. Das bringt die zweite Pubertät manchmal mit sich.»
«Die zweite Pubertät?»
«Die Wechseljahre, mein ich natürlich. Wir haben hier im Zoo eine Kollegin, die war immer so was von die Ruhe selbst. Leben und leben lassen war ihr Motto. Und jetzt hat sie die Wechseljahre und macht plötzlich aus allem und jedem ein Problem. Manchmal fängt sie mitten auf der Arbeit an zu heulen, einfach so.»
«Aber Carola ist doch nicht in den Wechseljahren?»
«Sie hat dir das nicht gesagt? Manche trifft’s früher, manche später. Bei ihr ist es eben sehr früh. Das belastet sie. Deshalb hat sie’s dir vielleicht verschwiegen.»
«Annett, ich danke dir tausendmal. Das erklärt einiges.»
Zum Beispiel, dass Carola neuerdings mit einem Handtuch auf dem Kopfkissen schlief, weil sie nachts ständig schweißnasse Haare hatte.
Mutter und Tochter gleichzeitig in der Pubertät. Das konnte ja nicht gutgehen. Er schmunzelte. Irgendwie war er erleichtert.
Birthe Feldkamp kam spät von der Amnesty-Sitzung nach Hause. Ihr Anrufbeantworter blinkte. Wer konnte das sein? Ihre Eltern? Sie drückte den Abspielknopf.
«Hallo, Frau Feldkamp. Hier ist Greilich von der Bewährungshilfe. Ich wollte Ihnen nur sagen, ich habe heute mit Herrn Matthias Olsberg gesprochen, und er wird Ihr Angebot, bei Ihnen einzuziehen, nicht nutzen. Er hat im Studentenwohnheim schon was in Aussicht. Sie können sich also einen anderen Mieter suchen.»
Birthe fühlte sich, als zöge man ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie hätte am liebsten das Telefon zur Strafe auf den Boden gepfeffert. Stattdessen schritt sie hilflos von der Diele ins dunkle Wohnzimmer, sah hinaus in die milchige, neblige Düsternis. Es war stürmisch, die Baumwipfel schüttelten sich im Wind.
Was war nur passiert, dass ihr Leben so einsam geworden war?
In der Schule war sie eines der beliebtesten Mädchen gewesen. Jeder hatte mit ihr befreundet sein wollen. Nicht nur die arme Sabrina Pfister. Sogar der eingebildete Hendrik von Sarnau war ein bisschen scharf auf sie gewesen.
War der nicht auch nach Frankfurt gegangen? Er hatte sicher längst irgendein adeliges Pflänzchen geehelicht. Falls nicht, könnte man sich ja mal treffen. Gemeinsame Jugenderinnerungen verbanden.
Als Winter am Samstagmittag den dicken Stapel Hunderter aus dem Automaten zog und einsteckte, wusste er, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten. Wenn er Glück hatte, würde es niemals herauskommen. Wenn er Pech hatte, war seine berufliche Zukunft pechschwarz. Doch das war sie vielleicht sowieso.
Arno Ziering hatte Winter in der Frühe zu Hause angerufen, hatte ihm gesagt, dass Kettler während seines Urlaubs auf seinem, Winters, Rechner geschnüffelt und nach Dingen gesucht hatte, die er ihm anhängen könne. Kollege Glocke habe von Kettler Honig um den Bart geschmiert bekommen, der folge dem Neuen jetzt blind. Er, Ziering, habe gehört, wie Kettler und Glocke davon gesprochen hätten, sie könnten Winter «auffliegen lassen», wenn sie wollten. Ziering selbst wolle es sich mit Kettler aus Angst um seine eigene berufliche Zukunft nicht verderben und sich offiziell lieber raushalten. Er habe Winter das aus schlechtem Gewissen jetzt aber sagen müssen.
Kettler und Glocke hatten also davon gesprochen, ihn «auffliegen zu lassen». Das hörte sich ja an, als solle ihm ein Disziplinarvergehen angehängt werden. Winter fiel allerdings nur eine wirklich ernste Unkorrektheit ein, die er sich während all der Dienstjahre geleistet hatte. Und er konnte sich kaum vorstellen, dass ausgerechnet Glocke Kettler davon erzählt hatte. Die Geschichte warf nämlich ein noch schlechteres Licht auf Glocke als auf ihn.
Nein, wahrscheinlich ging es gar nicht um diese schlimme alte Sache. Sondern Kettler plante, Winter aus Nichtigkeiten einen Strick zu drehen. Die Kunst, ihn bei Fock unbeliebt zu machen, beherrschte er zweifellos.
Den Rest des Morgens hatte Winter sich damit abgelenkt, an seinem häuslichen Laptop die Konversation zwischen «Sabrina81» und «Sumathi» in dem Esoterikforum zu Ende zu lesen. Dabei hatte er ein paar kleine Anhaltspunkte gefunden, die es vielleicht ermöglichten, «Sumathi» ausfindig zu machen. Gut möglich, dass der Unbekannte etwas mit dem Mord an Sabrina Vogel zu tun hatte. Auf jeden Fall wahrscheinlicher als Kettlers Tatverdächtiger. Doch so, wie die Dinge im Präsidium standen, konnte er es sich nicht leisten, selbst nach ihm zu suchen.
Nachdem er das Geld an der Galluswarte abgehoben hatte, lenkte er seinen Wagen in die Kleyerstraße. Die Frau, zu der er unterwegs war, wohnte ein paar Kilometer weiter in Griesheim, in einem sehr bescheidenen Wohnblock. Dass sie Anwältin war und angeblich die Ehefrau des bekannten, gestriegelten Wirtschaftsanwalts Hasso Manteufel, sah man ihr wahrlich nicht an, und es erschien Winter heute ähnlich absurd wie bei seiner ersten Begegnung mit der Dame. Immerhin roch sie diesmal nicht ungewaschen, als sie ihm die Tür öffnete. Er hatte sie telefonisch vorgewarnt, dass er kommen würde.
Sonja Manteufel war ein wogender Fleischberg und gehörte zu der Sorte, die ihre zeltartige Bekleidung nicht in normalen Geschäften kaufen kann. Die ursprüngliche Form ihres Gesichts war unter all dem Teig rundherum nicht zu erkennen. Pinguinartig und schnaufend wackelte sie vor ihm her ins ärmlich und lieblos eingerichtete Wohnzimmer. Das Einzige, was hier positiv ins Auge stach, waren die überquellenden Bücherregale.
«Der Fall ist offiziell abgeschlossen», berichtete Winter, als er saß, in Ergänzung seiner kurz angebundenen Schilderung am Telefon. «Meine Kollegen glauben, den richtigen Täter zu haben. Ich sehe das anders, aber ich kann nicht weiterermitteln, weil ich sonst Ärger mit meinem Chef bekomme. Damit die Wahrheit ans Licht kommt, hätte ich nun eben gerne, dass eine intelligente, aufmerksame Person wie Sie, Frau Manteufel, auf eigene Faust weiterrecherchiert. Nur muss mein Name absolut außen vor bleiben. Verstehen Sie?»
Das Geld lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Dr. Sonja Manteufel hatte es noch nicht einmal angerührt.
«Ich verstehe vollkommen», sagte sie. «Als was oder wen soll ich mich denn ausgeben, wenn ich Leute befrage? Als Journalistin? Als privat interessiert an dem Fall?»
«Zum Beispiel. Oder vielleicht bieten Sie sich dem derzeitigen Angeklagten als Verteidigerin an. Die schlechteste Anwältin sind Sie ja nicht, wenn ich mich recht entsinne.»
«Bis auf die Tatsache, dass ich keine Zulassung habe», lächelte sie. «Aber die kann ich mir besorgen. Immerhin bin ich Volljuristin mit zwei Prädikatsexamen.»
Winter verstand gar nichts mehr. «Haben Sie nicht letztes Jahr gesagt, Sie seien in der Kanzlei Ihres Mannes tätig?»
«Er hatte mich kurzfristig als Praktikantin eingestellt, bloß für diesen einen Fall. Hasso Manteufel ist übrigens nicht mein Mann, sondern mein Exmann.»
Aha. Das war etwas besser nachzuvollziehen.
«Und wo arbeiten Sie sonst?», fragte er. «Richterin?»
«Das war einmal. Ich bin arbeitslos.»
Er staunte. «Arbeitslos? Mit zwei Prädikatsexamen?»
«Das ist eine lange Geschichte, Herr Winter. Glauben Sie mir, die wollen Sie gar nicht hören.»
Winter kamen ominöse Gedanken. Mit einem Mal sah er sich selbst geschieden und arbeitslos in einer kleinen Wohnung sitzen, mit einer langen, traurigen Geschichte, die niemand hören wollte. So etwas konnte schneller gehen, als man dachte, das war ihm in den letzten Tagen klargeworden. Man stand eigentlich immer nur wenige Schritte vom Abgrund entfernt. Nur sah man den normalerweise nicht. Sonja Manteufel lächelte wieder, als ob sie ahnte, was in ihm vorging.
«Erzählen Sie mir lieber von dem Fall», sagte sie und legte sich einen Notizblock auf die dicken Knie. «Ich bin extrem neugierig.»
Winter zählte die Fakten zur Tat auf, skizzierte die Personen und Lebensverhältnisse der Familie Vogel, erklärte Kettlers These zum Täter und warum er sie für falsch hielt. Zu dem Esoterikforum kam er ganz am Schluss. «Was ich da gefunden habe, kann ich selbst kaum glauben», berichtete er. «Ich erzähle es Ihnen ausführlich, damit Sie es besser nachvollziehen können. Dieser Mann, der sich Sumathi nennt, behauptet, dass er von einem fremden Planeten im Sternbild Wassermann namens Ananda kommt und als Botschafter der dortigen Zivilisation eine Mission auf der Erde zu erfüllen hat. Und zwar sei es seine Aufgabe, jemanden auf der Erde zu finden, der bereit ist, mit ihm nach Ananda zurückzukehren. Dafür seien nur besonders wertvolle Menschen mit medialer Begabung geeignet. Er redet der Frau Vogel ein, gerade sie sei so ein besonderer Mensch. Er habe das schon immer gewusst. Deshalb habe er ‹damals› mit ihr geschlafen, um sie mit irgendeinem besonderen Stoff zu imprägnieren, der einige Jahre auf die Seele einwirken muss, um sie für die Reise vorzubereiten. Sabrina Vogel hat also mit diesem ‹Sumathi› mindestens einmal Sex gehabt, und es hörte sich so an, als sei das Jahre her, vor ihrer Ehe. Und damals hat er sich wohl noch nicht als ‹Anandaner› ausgegeben. Nachdem sie schließlich im Forum Interesse daran zeigt, mit ihm auf den fremden Planeten zu gehen, erklärt er ihr, die Entfernung von der Erde nach Ananda würde siebentausend Lichtjahre betragen. Sie sei für einen materiellen Körper nicht zu überwinden. Aber seine Zivilisation habe eine Technik namens Seelenportation entwickelt. Wenn sie wolle, könne sie reisen, und zwar innerhalb des nächsten halben Jahres, das sei das vorgesehene Zeitfenster, in dem ein sogenannter Port offen sei. Auf Ananda würde dann ein neuer Körper für sie bereitstehen, der ihrer Seele angemessen sei, so ähnlich wie ihr irdischer, nur eben ‹anandanisch›. Die Reise selbst würde zwei Stunden dauern, und sie werde sich in dieser Zeit psychisch enorm weiterentwickeln und neue Kräfte erhalten. Sie müsse dafür nur ihre Seele aus dem irdischen Körper befreien, sprich, sie müsse sterben. Damit sie auf Ananda angemessen leben könne, brauche sie Geld. Sie kenne sich ja dort nicht gut genug aus, um einer Arbeit nachzugehen. Er, also dieser Sumathi, könne als Botschafter irdisches Geld unter ihrem Namen in anandanische Währung eintauschen, und als Begrüßungsgeschenk würde es dann auf Ananda vervierfacht. Er empfehle ihr, eine möglichst hohe Lebensversicherung auf seinen Namen abzuschließen, das sei das Einfachste. Er werde die Summe dann zum Zeitpunkt ihrer Reise sofort transferieren. Wenn sie das alles wolle, würde er ihr zu einem raschen Tod verhelfen. Das Wort Tod verwendet er aber nicht. Er spricht immer von Befreiung der Seele aus dem irdischen Körper, der ihre Seele beschränken würde, obwohl sie eigentlich zu viel mehr fähig sei.
Zweimal in den beiden Monaten vor Frau Vogels Tod verabreden sich die beiden persönlich, um Einzelheiten zu besprechen. Und zwar haben sie sich einmal im Café Hauptwache getroffen und einmal bei einem noblen Italiener in der Fressgass. Von dem Hirntumor Frau Vogels ist übrigens die ganze Zeit nicht die Rede. Ich glaube, davon hat sie ihm nichts gesagt. Damit hätte sie ja auch keine Lebensversicherung mehr bekommen. Er hat aber wohl geglaubt, sie hätte eine abgeschlossen. – So, Frau Manteufel. Und jetzt sagen Sie mir, was halten Sie von der verrückten Geschichte?»
Sonja Manteufel hatte wortlos zugehört, ohne eine Regung in ihrem speckigen Gesicht, und ohne sich auch nur eine einzige Notiz zu machen.
«Ich habe einen Verdacht», sagte sie trocken.
«Da bin ich gespannt. Und der wäre?»
«Dieser Sumathi ist Jurist.»
Winter war verblüfft. «Wie kommen Sie denn darauf? Als Jurist müsste er doch wissen, dass die Lebensversicherung nicht zahlen wird, wenn er Frau Vogel tötet oder sie sich selbst.»
«Das weiß er auch und hat es sicher berücksichtigt. Er hat garantiert für die Tatnacht ein perfektes Alibi. Es ist so, diese Geschichte erinnert stark an den sogenannten Siriusfall. Das ist ein realer Fall irgendwann aus den siebziger Jahren, von dem jeder Jurist im Laufe seines Studiums hört, weil es ein wichtiges Präzedenzurteil dazu gibt. Damals hat ein Mann behauptet, er komme vom Stern Sirius und könne eine Seelenreise zum Sirius vermitteln. Er hat das Opfer überredet, sich mit einem Föhn in der Badewanne umzubringen, damit es nach Unfall aussieht. Natürlich nachdem es eine Lebensversicherung auf seinen Namen abgeschlossen hatte. Jedenfalls, ich denke, unser Täter hier hatte zunächst auch einen fingierten Unfall geplant. Aber dann spurte Frau Vogel vielleicht nicht, oder es klappte nicht wie geplant, und er hat schließlich jemanden als Killer geheuert, von dem er sicher war, dass er nicht reden würde. Wenn er Anwalt ist, vielleicht einen seiner Klienten. Ich glaube nicht, dass unser Freund Sumathi selbst zur Waffe gegriffen hat. Und wie gesagt, er hat ganz bestimmt ein elaborates Alibi.»
Die coolen Jungintellektuellen unter den Abiturienten waren sich fürs Tanzen zu schade, saßen breitbeinig an einem Tisch ganz vorne und zerfetzten mit Ironie oder Zynismus jeden, der sich auf die Tanzfläche oder zu einer Darbietung auf die Bühne wagte. «Ey, komm, lasst uns gehen», sagte irgendwann einer von ihnen, namens Tim Steiner. «Das ist doch zum Gähnen, die Spießerveranstaltung hier.» Die Veranstaltung war der Abiball.
«Wollen wir nicht erst noch ein paar Tussis abschleppen?», schlug Hanno Krombach vor. «Damit der Abend ein zünftiges Ende bekommt.»
«Wir können ja das Pfister mitnehmen», witzelte Hendrik von Sarnau. «Die macht es mit jedem. Da haben wir alle drei was von.»
«Ey, Pfister!», brüllte Hanno Krombach über die Tische. «Hast du gehört, der Hendrik will mit dir schlafen!» Alle drei lachten sich schief, während Sabrina Pfister am anderen Ende des Saals hoffnungsvoll errötete. Hanno stieß Hendrik mit dem Ellbogen an. «Komm, Alter, geh hin und flöt ihr was ins Ohr. Die kommt mit, ich schwör’s. Und dann lassen wir’s krachen.»
Leicht gelangweilt stand Hendrik auf, reckte sich zu voller Größe und schlenderte an Sabrinas Tisch, wo sie wie üblich mit Janine zusammensaß. Er beugte sich zu ihr, während sie ihn erwartungsvoll ansah. Was er sagte, wusste man nicht. Jedenfalls stand Sabrina bald auf, ohne ihre entsetzt dreinsehende Freundin auch nur eines Blickes zu würdigen, und kam rotwangig mit Hendrik herüber.
«Okay, Jungs, gehen wir», dekretierte Hendrik, als er mit seiner Beute heran war.
Draußen war es noch nicht ganz dunkel, ein lauer Sommerabend, den man am besten im Freien statt in stickigen Sälen verbringt. «Fahren wir raus nach Fischborn irgendwo an den Bach», beschloss Hendrik. Hanno, zwar nicht gerade nüchtern, übernahm das Steuer, den Arm aus dem offenen Fenster gelehnt. Hendrik stieg mit Sabrina hinten ein. Ziemlich bald ging dort das Geknutsche los. Das Pfister zierte sich natürlich nicht. Knutschen mit Hendrik von Sarnau war sicher die Erfüllung aller Pfisterträume.
Als sie raus aus dem Ort waren, bog Hanno in Bachnähe in einen Feldweg und hielt dort. Es dämmerte jetzt stärker. Tim hatte einen Joint fertig gedreht und zündete ihn an. «Lassen wir die Jungs rauchen», hauchte Hendrik hinten seinem Opfer ins Ohr. Er stieg mit ihr aus, die beiden lehnten sich an den Wagen, und von drinnen bekam man mit, wie das Geknutsche und Gedrücke weiterging. «Sabrina, willst du mit mir schlafen?», hörte man Hendrik irgendwann entrückt hauchen. Tim und Hanno kämpften mit einem Lachanfall und überhörten die sicher pathetische Antwort, nicht aber das folgende Geflüster Hendriks: «Dann musst du aber auch meine Freunde ranlassen, sonst sind die sauer, wenn wir uns hier alleine vergnügen.»
Kurz danach war das Pfister auf der Rückbank zum Gebrauch bereitgelegt. Hanno schob ihr lächerlich altertümliches Samtkleid hoch. Dabei krachte irgendwo ein Saum, obwohl Hendrik den Reißverschluss schon geöffnet hatte. Einen BH trug sie nicht, was typisch Pfister war, besonders gut gewaschen oder parfümiert roch sie auch nicht. Hanno knetete ihre länglich geformten Titten fest durch und begann irgendwann, sie zu vögeln. Tim sah vom Beifahrersitz aus zu, bis er dran war, Hendrik stand gelangweilt draußen vorm Auto und qualmte den Rest der Tüte. Als Tim seinerseits fertig war, mit einem leichten Gefühl des Selbstekels über das, was er getan hatte, drückte er die Tür weit auf und rief Hendrik zu: «Ey, Alter, your turn.» Hendrik, der in die Landschaft geblickt hatte, drehte sich um, sah auf den nackten Schoß der liegenden Sabrina herab und sagte: «Nee, sorry, mir ist’s jetzt irgendwie vergangen.» Dann zwinkerte er Tim zu, während Hanno zu grölen begann.