Das schlechte Gewissen weckte Winter früh am nächsten Morgen. Um sechs rief er im Polizeigewahrsam an und verlangte, Matthias Olsberg zu sprechen. «Winter. Wollen Sie Ihre Klausur noch schreiben?»

Er hörte Olsberg kurz die Luft anhalten. «Also», kam es dann von der anderen Seite, «ich hab zwar keine Sekunde geschlafen, und das sind nicht die besten Voraussetzungen, aber doch, ja, ich will die Klausur auf jeden Fall mitschreiben.»

«Wann und wo findet sie statt?»

«Von acht bis zwölf, altes Hauptgebäude Mertonstraße, Hörsaal römisch vier.»

«Gut. Ich hole Sie rechtzeitig ab.»

«Danke. Danke. Herr Winter? Können Sie mir Stifte und einen anständigen Taschenrechner mitbringen? Es sei denn, Sie fahren mich vorher noch zu Hause vorbei.»

Winter tauchte um halb acht mit Stiften und Saras Schultaschenrechner in den Hafträumen auf. Er schloss Olsbergs linken Arm per Handschelle an seinen eigenen rechten an. Zu Ärzten oder Gerichtsterminen wurden Häftlinge begleitet, doch keine Polizeivorschrift dieser Welt sah vor, Häftlinge zu Uniklausuren auszuführen. Schon gar nicht, dass ein hochbezahlter Kriminalbeamter selbst den Bewacher spielte. Doch Winter hielt es für praktikabler, das unkonventionelle Unternehmen selbst durchzuführen, als den Dienstweg zu gehen.

Die Atmosphäre im bunkerartigen Hörsaal war wie eine Zeitreise zu Winters eigener Examensklausur. Die Anspannung der Studenten ließ sich mit Händen greifen. «Toilette: Jeweils nur eine Person», stand an der Tafel notiert. Mögliche Sitzplätze, mit großem Abstand zum nächsten Probanden, waren auf den Hörsaalemporen mit roten Schildchen ausgewiesen. Man musste sich ähnlich wie in einem Wahlraum vorn anstellen, den Ausweis zeigen, dann wurde der Name in einer Liste abgehakt und man bekam den Umschlag mit den Klausurunterlagen ausgehändigt. Winter trat neben Olsberg, als sie dran waren, und zeigte statt des Personalausweises seinen Dienstausweis. Leise sagte er: «Andreas Winter, Kripo. Ich begleite Herrn Olsberg, weil er derzeit in Haft ist.» Dazu hob er den Arm an, um die Fesselung zu zeigen. Der Mitarbeiter, der die Listen abhakte, sah verschreckt aus und fragte bei dem anderen nach, der die Umschläge austeilte. Nach einer Pause bekam Olsberg einen Klausurumschlag gereicht, und sie wurden durchgewinkt. Winter spürte, wie Olsberg an seiner Seite aufatmete. Er war nicht sicher gewesen, ob sie diese Hürde passieren würden.

Erstaunlicherweise warf keiner der Studenten einen zweiten Blick auf das mit Handschellen zusammengebundene seltsame Paar, das sich einen Weg zu einem Sitzplatz in den oberen Rängen bahnte. Vor der Klausur war wohl jeder zu sehr mit sich und den kommenden Aufgaben beschäftigt.

Nachdem das Signal zum Öffnen der Umschläge gekommen war, vertiefte Winter sich in einen Stern und ein Geo-Heft, die er unterwegs am Kiosk erstanden hatte. Olsberg neben ihm arbeitete hart und konzentriert. Eine knappe Stunde vor Ende der Zeit schob er Winter einen Zettel hin: Fertig!

«Sie wollen abgeben?», flüsterte Winter. Olsberg nickte.

«Na, wie war’s?», fragte Winter ihn, als sie draußen waren. «Entweder sehr gut oder sehr schlecht, nehm ich an, wenn Sie so früh fertig sind.»

«Weder noch», lachte Olsberg, der erleichtert und euphorischer Laune schien. «Ich hätte gerne noch mal alles überprüft, aber die Konzentration ließ plötzlich so rapide nach, dass ich gedacht hab, ehe ich verschlimmbessere, mache ich jetzt Schluss. Bei einer Aufgabe bin ich nicht sicher, ob ich den Lösungsweg gefunden hab. Ansonsten bin ich gut durchgekommen. – Ich hoffe bloß, dieser Albtraum hier …» Er verstummte, hob demonstrativ die behandschellte Hand. «Herr Winter, was denken Sie, wie lange ich noch in Haft bleiben muss?»

«Das kommt drauf an, wie sehr Ihr Anwalt den Haftrichter beeindruckt», brummte Winter. Sie betraten den Fahrstuhl. Olsberg stellte sich ihm schräg gegenüber, so weit weg, wie die Fesselung es zuließ. «Ehrlich gesagt, ich verstehe das nicht ganz», sagte der junge Mann mit leichtem Protestunterton in der Stimme. «Es gibt doch gar keine Verdachtsmomente gegen mich, oder? Bis darauf eben, dass ich bin, wer ich bin. Birthe hat doch im Krankenhaus mehreren Leuten gesagt, dass sie die Pilze selber gesammelt hat.»

«Herr Olsberg, Sie wissen, dass ich Ihnen aus ermittlungstechnischen Gründen keine Auskünfte über Verdachtsgründe geben kann. Frau Feldkamp hat übrigens im Krankenhaus auch ausgesagt, dass sie eine erfahrene Champignonsammlerin ist, die die Kennzeichen von Knollenblätterpilzen kennt, und dass sie sich nicht vorstellen kann, wie so viele Giftpilze in ihr Essen kamen.»

«Wieso so viele? Wie viele Giftpilze waren es denn?»

«Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.» Sie traten aus dem Fahrstuhl und verließen das Gebäude. Es war trüb und windig.

«Herr Winter, noch was. Ich würde gerne meinen Anwalt wechseln. Ich habe den Eindruck, meiner glaubt mir nicht. Können Sie mir jemanden empfehlen?»

Winter nannte Sonja Manteufel. Er war sicher, dass sie eine ausgezeichnete Anwältin war. Aber ganz ohne Hintergedanken war die Empfehlung nicht.

***

Die polizeilichen Pilzesucher hatten vorgestern auf den Wiesen zwischen Birthe Feldkamps Haus und der Nidda an vielen Stellen helle Pilze entdeckt. Diese waren laut Bestimmungsbüchern allesamt Champignons. Doch auch eine Ansammlung von Knollenblätterpilzen hatten sie gefunden, am Rand einer Baumgruppe gar nicht weit von Feldkamps Haus. Einige davon hatte Aksoy mit Fotos der Fundstellen am Abend noch bei den Experten in Mainz vorbeigebracht. Sie bat die Experten zu überprüfen, ob die Polizisten die Pilze korrekt bestimmt hatten. Nur bei einem einzigen Pilz, einem Champignon, war die Zuordnung falsch gewesen. Und das, obwohl sie alle Pilz-Laien waren.

«Okay, es kann schon mal ein Fehler passieren», resümierte Aksoy später gegenüber Winter. «Oder man legt einen Pilz aus Versehen in den Korb, obwohl man ihn eigentlich schon aussortiert hatte. Aber dass einer geübten Person wie der Birthe Feldkamp gleich mehrere Knollenblätterpilze dazwischenrutschen, kann ich mir jetzt ehrlich gesagt nicht mehr vorstellen. Außerdem, die Knollenblätterpilze haben wir gar nicht zwischen den Champignons gefunden. Die standen extra in einem kleinen Areal ganz am Rand der Wiese. Champignons gab es an der Stelle gar nicht.»

Es war also unwahrscheinlicher geworden, dass Frau Feldkamps Vergiftung die Folge eines Versehens war.

***

Als Winter von seinem irregulären Uniausflug ins Präsidium kam, fand er sein kleines Team im Büro von Glocke und Ziering versammelt. Aksoy hatte als Einzige keinen Stuhl, sondern saß energiegeladen mit baumelnden Beinen auf einem Tisch. «Die Laborergebnisse der Pilzuntersuchung aus Mainz sind da», verkündete sie. «Die Knollenblätterpilze, die wir eingeschickt haben, waren nicht giftiger als normal. Sogar eher etwas weniger. Der Mainzer Arzt meint, Birthe Feldkamp muss richtig viele davon gegessen haben. Ein oder zwei würden ihre schlechten Blutwerte keinesfalls erklären.»

Winter hockte sich ebenfalls auf einen Tischrand. Er war allerdings zu groß, um die Beine baumeln zu lassen. Nicht dass er gewollt hätte. «Gut, das bestätigt den Verdacht. Wie war denn euer Interview mit Olsberg gestern?»

Aksoy und Jürgen Musso sahen sich an. «Angeblich hat die Feldkamp die Pilze am Sonntagnachmittag gesammelt, also am Tag bevor sie sie gegessen hat», berichtete Musso. «Olsberg will nicht dabei gewesen sein, sondern er habe in seinem Zimmer gesessen und Matheaufgaben für die Uni gemacht. Am nächsten Morgen war er angeblich in einer Vorlesung, und als er mittags nach Hause kam, hatte sie die Pilze schon gebraten und war am Essen. Sie hat ihm auch welche angeboten, aber er hat bloß mal versucht und fand sie scheußlich. Angeblich hatte er noch nie selbst gesammelte Pilze gegessen und konnte sich damit nicht anfreunden.»

«Hatte er denn selbst irgendwelche Symptome?»

«Er sagt, er hatte bloß ganz leichte Magenkrämpfe.»

«Ich habe das Gefühl, er lügt», kommentierte Aksoy. «Es kommt mir komisch vor, dass er sich an den Vortag des Pilzgerichts noch so genau erinnern kann. Das Ganze ist jetzt sieben oder acht Wochen her. Wenn er nichts mit der Pilzvergiftung zu tun hat, war das für ihn ein ganz normaler Sonntag. Da weiß man doch Wochen später nicht mehr, ob man an dem Nachmittag Matheaufgaben oder irgendwas anderes gemacht hat.»

Winter kaute an seinem Bleistiftstummel-Zigarettenersatz. «Das kann leider alles und nichts heißen», sagte er. «Vielleicht malt er eine vage Erinnerung aus, weil ihr so viele Details von ihm wissen wolltet. Dass er selbst die Pilze nicht gegessen hat, obwohl sie ihm angeboten wurden, ist allerdings verdächtig. Na ja, und dann ist er eben der Einzige, der die Gelegenheit gehabt hätte, der Feldkamp Giftpilze dazwischenzumischen. – Hilal, könntest du dir irgendwas ausdenken, wie du Olsberg testen kannst, ob er Knollenblätterpilze und Champignons auseinanderhalten kann? Oder ob er diese Stelle kennt, wo die Knollenblätterpilze wachsen? Irgendeine Trickfrage?»

«Ich überleg mir was», sagte sie. «Aber er wird auf der Hut sein. Wird nicht leicht werden, ihn zu überrumpeln. Apropos, wo ist Olsberg denn eigentlich? Wir wollten ihn heute Morgen holen, und da hieß es, du hättest ihn schon abgeholt.»

Winter war das leicht unangenehm. «Ich hab dafür gesorgt, dass er seine Klausur schreiben kann», erklärte er möglichst neutral.

Aksoy kicherte. «Was ist daran so lustig?», fragte Winter.

«Nichts. Aber wenn ich das gemacht hätte, hättest du mir sicher vorgeworfen, ich sei zu zartfühlend mit dem Beschuldigten. Ein brutaler Mörder noch dazu.»

Winter verdrehte die Augen. «So, so. Ich hätte dir vor allem vorgeworfen, als kleine, schwache Person allein mit einem wesentlich stärkeren männlichen Gefangenen rauszugehen. Das wäre ein bisschen sehr gefährlich gewesen. Aber mir ist natürlich klar, was du von dieser meiner Fürsorge dir gegenüber hältst. Verstoß gegen das Antidiskriminierungsgebot und so.»

Sie sagte nichts, strahlte bloß keck vor sich hin und ließ die Beine baumeln wie ein kleines Mädchen. Wie hatte er sie nur jemals für verkniffen und verbissen halten können?

«Moment», sagte er dann, «wartet mal.» Er ging rüber in sein Büro, holte die gestern entdeckten Kinderbilder.

«Was haltet ihr davon?», sagte er und gab die beiden Blätter herum. «Gemalt von Merle Vogel, wahrscheinlich in der Woche vor dem Tod ihrer Eltern.» Er gab absichtlich keine Bewertung, wollte das unvoreingenommene Urteil der anderen hören.

Aksoy blieb an dem wunderlichen Familienporträt hängen und inspizierte es besorgt. Die männlichen Kollegen aber interessierten sich nur für das Bild des muskelbepackten, schlitzäugigen Waffenträgers. «Des is der Wladimir Preiß, wie er leibt und lebt», verkündete schließlich Glocke, und ausnahmsweise stimmte Ziering ihm zu.

Winter hatte befürchtet, dass sie das so sehen würden.

***

Es war alles unglaublich schnell gegangen. Weil man im Jugendamt wollte, dass Merle das neue Schuljahr gleich an ihrer künftigen Schule begann, hatte sich Ulli die ganze Woche freigenommen. Ulli und Andrea hatten frecherweise noch vor dem Notartermin die Kinderzimmer ausgestattet, wobei Merle und Wolke selbst tatkräftig mithalfen und ihre Sachen einräumten, die das Heim teilweise in einem Speicher gelagert hatte. Der Laster für Ullis und Andreas Umzug kam einen Tag später, alles etwas teurer als geplant, da sie andere packen und aufbauen ließen. Aber es lohnte sich, weil es so stressfrei war.

Nun waren sie den dritten vollen Tag mit den Kindern in der neuen Wohnung. Trotz der Kürze der Zeit hatte sich bereits ein Rhythmus eingespielt, ein fröhlicher, lebendiger Alltag, anstrengend, aber erfüllend. Sie hatten nichts verloren, nur gewonnen. Die Abende nach acht hatten sie für sich, da sie die Kinder früh ins Bett brachten und diese das ohne zu murren akzeptierten. Die Mädchen hatten sich für ein gemeinsames Schlafzimmer entschieden, weil Wolke nachts nicht alleine sein wollte. Merle las nach dem Zapfenstreich noch eine Weile im Bett. Gegen halb neun oder neun löschte sie ihr Licht. Wolke schlief dann schon längst. Die Mädchen waren richtig brav, wiewohl man Andrea im Jugendamt gewarnt hatte, dies werde sich noch ändern. Die Kinder würden irgendwann anfangen, die Liebe ihrer neuen Eltern auf die Probe zu stellen, zu testen, wie weit sie gehen konnten. Doch davon war noch nichts zu spüren. Das einzige kleine Problem war Wolkes Bettnässen. Und das würde sich sicher geben, wenn die Kleine das Trauma des Todes ihrer Eltern und der unruhigen Monate danach überwunden hatte. Sie hatten einen Gummibezug auf die Matratze getan und wechselten täglich die Bettwäsche. Ansonsten wurden Wolkes nächtliche Malheurs nicht kommentiert. Andrea liebte gerade die Kleine in ihrer unglaublichen Schutzbedürftigkeit über alles. Und Ulli hatte sich in Merle verliebt, die sie an sich selbst als Kind erinnerte. Ulli war selbst eine große Schwester gewesen und hatte auf ihre kleineren Geschwister aufpassen müssen.

Andrea konnte sich kaum noch vorstellen, dass sie jemals anders gelebt hatten als mit den Kindern. Wie leer ihr Leben all die Jahre gewesen war, das wusste sie jetzt erst.

Doch heute hatte es zwei Anrufe betreffs der Mädchen gegeben, die Andrea, wenn sie ehrlich sein wollte, alle beide beunruhigten.

Der eine kam vom Jugendamt. Die Polizei habe sich gemeldet und wolle Merle ein weiteres Mal zum Tod ihrer Eltern befragen. «Dabei haben sie die Kinder schon zweimal in der Mangel gehabt», berichtete die Sozialarbeiterin indigniert. «Das letzte Mal sollen sie ganz verstört zurückgekommen sein. Der Mord an den Eltern Vogel war Weihnachten. Jetzt haben wir August. Was soll denn die Merle denen jetzt Neues sagen, was sie vorher nicht gesagt hat? Jedenfalls, ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich in meiner Funktion als Amtspflegerin für die Kinder vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe. Sollte trotzdem jemand von der Polizei bei Ihnen aufkreuzen, nur, dass Sie’s wissen, die Polizei hat kein Recht, mit den Kindern zu sprechen. Weder mit Merle noch mit Wolke.»

Andrea fand die Entscheidung der Sozialarbeiterin richtig. Die Kinder waren gerade dabei, zu einem neuen Gleichgewicht zu finden. Sie sollten jetzt nicht an die schrecklichen Ereignisse im letzten Winter erinnert werden. Auch Andrea selbst wollte ehrlich gesagt nicht daran erinnert werden, dass die leiblichen Eltern ihrer beiden Pfleglinge ermordet worden waren. Sie bemühte sich, das Telefonat möglichst schnell wieder zu vergessen.

Zwei Stunden später brachte das Telefon die nächste Erinnerung an die Vergangenheit der Kinder. Es meldete sich eine ältere Frauenstimme. Sie sei die Oma der Mädchen, stellte sich die Anruferin vor. Sie habe die Nummer vom Jugendamt bekommen. «Wollen Sie die beiden sprechen?», fragte Andrea, schon auf dem Sprung ins Kinderzimmer. «Nein, nein, ganz bestimmt nicht», kam es fast panisch aus dem Hörer. Andrea blieb mitten im langen Flur verwundert stehen, dann ging sie langsam mit dem Telefon in der Hand wieder zurück in die Küche. «Ich … das ist nicht gut am Telefon», sagte die Frau auf der anderen Seite. «Ich habe die Kinder lange nicht gesehen. Aber ich würde jetzt gerne einmal bei Ihnen vorbeikommen. Ich habe gedacht, wir können vielleicht einen Termin ausmachen, wann ich die Kinder besuchen kann. Wie ist denn Ihre Adresse?»

Andrea gab die Adresse durch und machte einen Termin für den übernächsten Sonntag. Sie behauptete aber vorsichtshalber, sie müsse das noch mit ihrer Lebensgefährtin absprechen.

Irgendwie war ihr nicht wohl bei der Sache. Aber sie konnte nicht sagen, warum.

***

Matthias Olsberg hatte tatsächlich Sonja Manteufel als Anwältin engagiert. Winter war das sehr recht. Für Freitag bat er Manteufel zu einem Gespräch aufs Präsidium. Das Gespräch hatte von ihm aus gesehen nur ein Ziel: Er wollte Manteufel ausfragen.

Ihr Auftritt war eine kleine Überraschung. Sie sah anders aus, hatte sich einen professionellen Kurzhaarschnitt verpassen lassen, der irgendwie dynamisch wirkte. Wahrscheinlich hatte sie auch etwas abgenommen. Noch immer war ihr Gang wogend-watschelnd, doch er schien nicht mehr ganz so mühevoll. Prophylaktisch schob Winter ihr den breitesten Stuhl im Raum hin, seinen eigenen. Sie ließ sich schnaufend nieder. Es gab ein zischendes Geräusch in der Hydraulik, und die Sitzfläche wankte. Winter fragte sich unwillkürlich, ob ein Stuhl mit vier Beinen nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre. Da sagte Manteufel ruppig: «Keine Sorge, der hält.»

Winter lachte. «Damit hatte ich auch gerechnet», log er. War sein Gesichtsausdruck so leicht zu lesen gewesen? Als Polizist sollte er sich eigentlich ein Pokerface angewöhnt haben. Aber er war ja hier nicht im Verhör.

Das erste Gesprächsthema war der Fall Vogel. Winter gab Manteufel die neuen Informationen betreffs Hendrik von Sarnau und der Versicherung, was Manteufel für ihren Mandanten Preiß sehr freute.

«Ich wäre da allerdings vorsichtig», riet Winter. «Theoretisch kann der Preiß ja wirklich das ausführende Organ des Sarnau gewesen sein. Es wäre zwar ein seltsamer Zufall, dass wir ohne jede Ahnung, worum es ging, auf ihn gekommen sind … Jedenfalls, wir haben jetzt ein Indiz, das einige meiner Mitarbeiter so interpretieren, als hätte wirklich der Preiß die Vogels erschossen.» Er erklärte kurz und zeigte der Manteufel dann die Kinderzeichnung mit dem schlitzäugigen gelben Muskelprotz.

Sonja Manteufel lachte lauthals los und konnte gar nicht mehr aufhören. «Ich habe schon bessere Phantombilder gesehen», sagte sie schließlich. Winter grinste. Sie hatte natürlich recht, als Beweismittel vor Gericht taugte das Bild gar nichts. Zumal sie nach der Weigerung des Jugendamts nicht einmal die Möglichkeit hatten, Merle zu befragen, wen oder was sie hatte darstellen wollen. Vielleicht war es eine Gestalt aus dem Fernsehen, eine Animationsfigur. Warum hatte er sich so verunsichern lassen? Weil er fürchtete, die Gründe, deretwegen er vor Monaten den Preiß als Täter ausgeschlossen hatte, seien nicht objektiv gewesen und sein Konflikt mit Kettler hätte ihn irregeleitet. Gut, vielleicht war er nicht ganz objektiv. Aber Glocke war das auch nicht. Abgesehen davon, dass man auf Glockes Urteil noch nie hatte bauen können.

«Themenwechsel», sagte er. «Kommen wir zu Ihrem neuen Klienten, dem Herrn Olsberg. Sie haben ja schon zweimal lange mit ihm gesprochen. Erzählen Sie mir doch mal, worum es da ging.»

Manteufel sah ihn ernst an. «Das kann ich nicht, das wissen Sie.»

Winter zog die Brauen hoch. «Eine Hand wäscht die andere», sagte er. «Sie werden mir doch zumindest was andeuten können.»

Manteufel protestierte erst mal weiter. «Lieber Herr Winter, ich bin nun dank Ihnen Strafverteidigerin geworden. Dann muss ich mich jetzt aber auch an die Regeln halten. Ich darf Ihnen natürlich nicht sagen, was Herr Olsberg mit mir besprochen hat. Nur so viel kann ich Ihnen verraten: Herr Olsberg hat mir Dinge erzählt, die ich am liebsten gar nicht wissen würde und die es mir schwerfällt, für mich zu behalten.»

«Mit anderen Worten, Ihr Mandant ist schuldig. Sie brauchen das jetzt nicht zu kommentieren.»

«Sie haben mich völlig missverstanden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Mandant unschuldig ist, jedenfalls an dem Tod von Birthe Feldkamp. Wobei ich nicht weiß, ob ich alles glauben kann, was er mir erzählt. Aber ganz erfunden hat er die Geschichte sicher nicht. Falls es stimmt, was er sagt, dann hat Herr Olsberg Frau Feldkamp nicht vergiftet.»

«Ihr Tod war also ein Unfall?»

«So kann man das auch nicht direkt sagen.»

Winter verdrehte die Augen.

Sie seufzte, kämpfte mit sich. «Alles, was ich sage, bleibt unter uns?», fragte sie schließlich.

«Ja, natürlich.»

«Gut. Also, nach dem Wissen, das ich von Herrn Olsberg habe, ist eine gezielte Vergiftung sehr wahrscheinlich. Wobei Herr Olsberg allerdings denkt, dass es nicht unbedingt Frau Feldkamp war, die getötet werden sollte. Sondern eher er selbst.»

Winter stöhnte. «Und das glauben Sie? Der hat Sie ja schön eingewickelt. Ein charmanter Bursche, der Olsberg, ich weiß.»

Sie lächelte. «Das Problem ist mir bewusst. Ich denke trotzdem, dass Herr Olsberg mir im Großen und Ganzen die Wahrheit gesagt hat. Ich habe das sogar noch mit einem professionellen Test auf Wahrheit von Aussagen überprüft. Dieselbe Art von Test, die bei Glaubwürdigkeitsgutachten verwendet wird.»

«Auf solche postmodernen Pseudowissenschaften verlasse ich mich nicht. Wenn es stimmt, was er sagt, und es ihn entlastet, warum erzählt der Olsberg eigentlich seine Märchen Ihnen und nicht uns?»

«Sehen Sie, Herr Winter, genau das kann ich Ihnen nicht sagen.»

«Weil dabei rauskommen würde, dass Olsberg ein anderes Verbrechen begangen hat?»

«Dazu kann ich nichts sagen. Lieber Herr Winter, wollen Sie einen Tipp von mir?»

«Ja, bitte.»

«Wenn ich Sie wäre – ich würde Matthias Olsberg vergessen. Sie sollten nach anderen Personen im Umfeld von Birthe Feldkamp suchen, die Gelegenheit gehabt hätten, ihr Giftpilze ins Essen zu mischen.»

Winter atmete tief durch. «Sie meinen Personen, die wir jetzt noch gar nicht auf dem Radar haben?»

«Dazu kann ich nichts sagen.»

«Okay. Danke. Das macht meine Arbeit nicht gerade einfacher. Aber ich werde die Augen offen halten.»

Fock brauchte er damit nicht zu kommen. Wegen der unter vier Augen gemachten Aussage der Anwältin eines Tatverdächtigen den Ermittlungsfokus ändern? Unmöglich. Frau Manteufel war Partei. Sie half ihrem Mandanten, wenn sie die Polizei von ihm ablenkte. Das war natürlich genau der Grund, warum sie ihm den Tipp überhaupt hatte geben dürfen.

Warum Winter gerade dieser Anwältin vertraute, konnte er Fock unmöglich verraten.

Erst eine halbe Stunde später schwante ihm plötzlich, warum Olsberg nicht redete. Ganovenehre. Olsberg schützte jemanden. Es passte perfekt zu ihm, dass er den Täter zwar kannte, aber nicht verriet. Allerdings, so wie Winter Olsberg einschätzte, musste es jemand sein, mit dem ihn eine persönliche Loyalität verband. Wer konnte das sein? Jemand, mit dem er zusammen im Gefängnis gewesen war? Hatte Birthe Feldkamp noch zu weiteren Gefangenen Kontakt gepflegt?

Kurz entschlossen rief Winter Fock an. Fock war auf dem Weg ins Wochenende. Winter hielt es kurz. «Chef, die Indizien verdichten sich, wir betrachten das Haus von Birthe Feldkamp jetzt definitiv als Tatort. Ich würde gerne eine Durchsuchung machen, und zwar, bevor wir Olsberg am Montag nach dem Haftprüfungstermin womöglich laufen lassen müssen.»

Fock grummelte kurz, aber stimmte zu. Die Durchsuchung wurde auf Montag früh terminiert.

Als Winter aufgelegt hatte, wusste er, womit er sein Wochenende verbringen würde: Er würde sich Olsberg vorknöpfen, versuchen, ihn auf die eine oder andere Weise zum Reden zu bringen. Wenn Manteufel recht hatte und Olsberg tatsächlich nicht der Schuldige war, so stieg die Wahrscheinlichkeit wieder, dass alle drei Taten zusammenhingen. Dann hatten sie es hier mit jemandem zu tun, der ehemals das Gymnasium in Lauterbach besucht hatte und der es aus Gründen, die nur er verstand, auf ehemalige Mitschülerinnen abgesehen hatte. Der Besuch des Lauterbacher Gymnasiums war das Einzige, was alle drei weiblichen Opfer verband, neben einem Alter zwischen neunundzwanzig und fünfunddreißig Jahren. Dass die getöteten oder verletzten Männer nur Kollateralschäden waren, hatte Winter von Anfang an vermutet. Falls Olsberg seinen Teller Pilze gegessen hätte, wäre auch er zum Kollateralschaden geworden – aber der Täter hatte ihn anscheinend gewarnt.

Der Verrückte konnte jederzeit wieder zuschlagen. Winter musste ihm zuvorkommen.

Er schrieb noch rasch eine Mail an den Leiter der Jugendstrafanstalt in Wiesbaden, wo Olsberg die meiste Zeit über eingesessen hatte. Der Leiter sollte ihm eine Liste aller Gefangenen der vorangegangenen fünf Jahre zusenden, die mit Olsberg engen Kontakt hatten oder aus dem Raum Lauterbach stammten.

Die Mitarbeiter dort würden sich freuen.

***

Reinhard Pfister hatte einen schlechten Tag. Er hatte Schmerzen in Rücken und Bauch, fühlte sich elend und fiebrig. Wieder eine Infektion vom Katheter. Das Wohnzimmer, dessen Gefangener er nun war, hasste er täglich mehr. Es musste Spätsommer sein, wenn er es im Fernsehen richtig verstanden hatte. Draußen waren Frühling und Sommer vorübergegangen, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Nicht ein einziges Mal war er draußen gewesen. Gunhild konnte den Rollstuhl nicht die Treppen hinunterbefördern. Herrgott, sollte sie sich doch Hilfe von den jungen Leuten zwei Häuser weiter holen! Konnten die nicht mit anfassen, sodass Gunhild ihn einmal am Tag die Straße auf und ab schieben konnte? Aber sie verstand ihn nicht, wenn er versuchte, es ihr begreiflich zu machen. Er konnte die Wörter einfach nicht richtig aneinanderreihen. Was immer er zu sagen versuchte, es kam verstümmelt heraus, keine Worte, sondern Tierlaute.

Wo war Gunhild? Auf dem Flur hörte er ein Geräusch. Er begann, laute, klagende Töne von sich zu geben. Sie sollte merken, dass es ihm schlechtging. Er brauchte einen Arzt. Eigentlich wollte er nichts anderes als in seinen Wald. Von ihm aus konnte sie ihn dort abladen und liegen lassen, im Wald wollte er sterben, aber nicht hier drinnen.

Er hörte Schritte. Da war Gunhild, ihr Gesicht war ausdruckslos, und sie hatte ein großes Kissen dabei. Das Kissen vor sich haltend, kam sie zielstrebig durch den großen Raum auf ihn zu. Angst ergriff ihn, seine Klagelaute verstummten. Das konnte doch nicht sein? Dann geschah es tatsächlich, das Kissen kam näher, wurde die ganze Welt, presste sich auf sein Gesicht, drückte ihn gegen die Lehne, und während er noch kämpfte, darum kämpfte, den Wald noch einmal zu sehen, noch ein einziges Mal Waldluft zu atmen, überhaupt zu atmen, da wusste er doch, dass es gut war, wenn es nur bitte, bitte schnell vorüberging.

***

Am Samstag früh nahm sich Winter Matthias Olsberg vor. Er versuchte es erst freundlich, dann mit der Brechstange. Nach drei Stunden gab er auf. Als Olsberg merkte, worauf Winter hinauswollte, hatte er die intelligente Taktik gewählt, gar nichts mehr zu sagen. So konnte er sich weder verplappern noch Winter Ansatzpunkte für Schlussfolgerungen liefern. Kaum jemand hielt diese Taktik stundenlang durch. Olsberg schon.

Winter ging von Olsbergs Haftzelle ins Büro anstatt nach Hause. Erstens war er aufgewühlt, wollte noch mal in die Akten sehen, über den Fall nachdenken. Zweitens waren Sara und Felix gemeinsam auf Sprachurlaub in England. Das Schweigen zwischen Carola und ihm fiel ohne die Kinder besonders stark auf und war kaum zu ertragen.

Noch während er die Bürotür aufschloss, hörte er das Telefon klingeln. Er schaffte es rechtzeitig und griff nach dem Hörer.

«Winter.»

Von der anderen Seite begrüßte ihn eine entrüstete laute Stimme mit den Worten: «Sagen Sie mal, was haben Sie sich eigentlich gedacht?»

Es war Sonja Manteufel. «Glauben Sie etwa, ich war so nett, Ihnen Vertrauliches zu verraten, damit Sie danach meinen Mandanten attackieren? Denken Sie bloß nicht, dass ich Ihnen je wieder helfe. Ich hatte Ihnen doch verdammt noch mal gesagt, halten Sie nach jemand anderem Ausschau.»

«So, jetzt hören Sie mal mir zu», brüllte er zurück. «Glauben Sie, ich hab mir Olsberg heute zum Spaß vorgenommen? Wissen Sie überhaupt, worum es hier geht? Ich hab eine Serie mit vier Toten und einem komatösen Schwerverletzten, und ich will verdammt noch mal verhindern, dass noch eine junge Frau aus dem Vogelsberg sterben muss, und dazu muss mir verdammt noch mal Ihr Herr Olsberg sagen, was er weiß. Oder können Sie mir vielleicht sagen, wer die Person ist, der es als Nächstes an den Kragen geht und die ich schützen muss? Dann sagen Sie’s mir, zum Kuckuck, und scheißen Sie auf Ihre Schweigepflicht.»

Er hatte sich in Rage geredet und spürte seine Schlagader am Hals pochen. Manteufel auf der anderen Seite schwieg.

«Sind Sie noch dran?», fragte er schließlich, ruhiger jetzt, und setzte sich.

«Ja», sagte sie auf der anderen Seite, ebenfalls ruhiger. «Ich denke nur nach.»

«Tun Sie das.»

«So. Also, Herr Winter, mir fehlt hier offensichtlich eine Information. Von vier Toten und einem Opfer im Koma weiß ich nichts. Und ganz ehrlich, ich glaube, Sie haben etwas missverstanden. Der Herr Olsberg hat ja, wie ich so unvorsichtig war, Ihnen anzudeuten, einen Verdacht, wer die Frau Feldkamp vergiftet haben könnte. Und wenn dieser Verdacht stimmt, dann ist das eine sehr spezifische Sache, die höchstwahrscheinlich nichts mit irgendwelchen anderen Fällen zu tun hat. – Von welchen anderen Fällen reden wir überhaupt? Ich hatte ja noch keine Akteneinsicht.»

«Vom Fall Vogel zum Beispiel. Den kennen Sie doch.»

Sie schwieg.

«Bei mir dreht sich gerade alles», sagte sie schließlich. «Im Fall Vogel dachte ich, wir hätten zumindest einen Haupttäter, nämlich den windigen Herrn von Sarnau.»

«Ist der also nicht die Person, die Ihr Mandant betreffs Frau Feldkamp in Verdacht hatte?»

«Ähem – ehrlich gesagt, nein. Gibt es einen Grund anzunehmen, dass Frau Feldkamp den Herrn von Sarnau kannte?»

«Immerhin sind sie eine Zeitlang zusammen zur Schule gegangen. Frau Feldkamp ist eine Klassenkameradin von Sabrina Vogel.»

«Was?», rief sie. Dann lachte sie los. «Das hätten Sie mir wirklich mal vorher sagen können! Wissen Sie, was ich glaube? Mein Mandant hat da etwas grundlegend missverstanden. Er hat da etwas auf sich bezogen, was mit ihm gar nichts zu tun hatte. Wenn man eine solche Vorgeschichte hat wie er … man ist dann vielleicht etwas paranoid. Frau Feldkamp ist sicher auch ein Opfer von Sarnau. Sie ist ja eine wohlhabende Frau mit ererbtem Vermögen. Vielleicht hat sie ein Testament zugunsten von Hendrik von Sarnau gemacht. Wissen Sie von einem Testament? Oder es ist doch wieder eine Lebensversicherung. Eine Pilzvergiftung mit selbst gesammelten Pilzen wäre die ideale Todesart, falls Sarnau bei ihr eine ähnliche Masche anwenden wollte wie bei Frau Vogel. Okay, vielleicht kann ich Herrn Olsberg jetzt sogar zu einer Aussage bewegen. Nur dass Ihnen die nicht weiterhelfen wird. Er weiß im Grunde nichts.»

Na wunderbar. Da hatte sie ihn schön genasführt. Jetzt hörte sie sich total erleichtert an.

«Noch eins», sagte sie. «Wer ist denn das vierte Opfer? Es wäre nett, wenn ich auch mal erfahren würde, in welchem Zusammenhang die Tat steht, deren mein Mandant beschuldigt ist.»

«Wir denken, dass die Tötung einer Frau Verena Tamm damit zusammenhängen könnte. Hat Ihnen die Staatsanwaltschaft betreffs Ihres Mandanten Preiß nicht gesagt, dass die Waffe aus dem Fall Vogel jüngst noch einmal verwendet wurde?»

«Ja, aber ohne Details. Das ist ja alles merkwürdig. Lassen Sie mich raten, ist diese getötete Frau Tamm etwa auch eine Bekannte von Hendrik von Sarnau?»

«Das eruieren wir noch. Sie stammte auf jeden Fall aus derselben Gegend und war zeitweise auf derselben Schule.»

Bald beendeten sie das Gespräch.

War es wirklich so einfach? Hendrik von Sarnau, der reihenweise Frauen erschießen ließ oder ihnen Giftpilze ins Essen mischte, um Geld zu kassieren? Dann bestand keine Gefahr mehr. Hendrik von Sarnau war in Haft und würde das auch vorläufig bleiben. Gestanden hatte er zwar nichts. Doch der Betreiber des Internetcafés in der Münchener Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs hatte ihn gestern bei einer Gegenüberstellung als jemanden identifiziert, der im letzten Jahr regelmäßiger Kunde gewesen war. Von diesem Internetcafé aus hatte ja laut Provider «Sumathi» mit Sabrina Vogel kommuniziert.

Gut, wahrscheinlich war also Sarnau für alle drei weiblichen Todesfälle verantwortlich. Die Staatsanwälte und jetzt auch Manteufel vermuteten es, und es lag wirklich nahe.

Wenn nur diese rätselhafte aufgeschossene Tür bei Vogels nicht wäre, die überhaupt nicht ins Bild passte. Und die vollkommen unterschiedlichen Charaktere der drei betroffenen Frauen. Dass Sabrina Vogel auf Hendrik von Sarnau hereinfiel, okay. Sie hatte sich oft ausnutzen lassen, und mit ihrer leichtgläubigen esoterischen Ader war sie dazu prädestiniert, auf die absurde Geschichte «Sumathis» hereinzufallen. Aber die anderen beiden? Die selbstbewusste Birthe Feldkamp? Die nüchterne Verena Tamm, über die ihr Vetter Jörg Krombach, sagte: «Bei denen ging es immer ums Geld»?

Winter ging im leeren Büro umher, kaute an seinem Zigarettenersatz-Bleistiftstummel. Er war sicher, er hatte alle nötigen Puzzlestücke beieinander. Es gelang ihm bloß nicht, sie zusammenzusetzen.

***

Nach zehn Minuten rief er Hanno Krombach an, den Gerichtsassessor in Offenbach, ehemaligen Klassenkameraden Sabrina Vogels und entfernten Verwandten der Allmenröder Krombachs.

«Herr Krombach? Winter, Kripo Frankfurt. Sie hatten mir doch versprochen, bei Freunden herumzufragen und eine Liste zusammenzustellen von ehemaligen Schülerinnen des Lauterbacher Gymnasiums, die heute in Frankfurt leben. Sind Sie da weitergekommen?»

«Nicht besonders. Ich hab alle Stufenkameraden angemailt, deren Adressen ich hatte. Von den Frauen, die mir geantwortet haben, ist keine in Frankfurt. Eigentlich habe ich bloß einen Namen für Sie. Ein Bekannter hat einen Bekannten, dessen ältere Schwester in Frankfurt lebt.»

«Und wie heißt die Frau?»

«Da muss ich nachsehen, Moment … Okay, jetzt hab ich’s. Andrea Vogel.»

«Andrea Vogel?» Winter staunte. «Ist sie irgendwie mit Sabrina Vogels Mann verwandt oder verschwägert?»

«Nicht dass ich wüsste. Vogel ist deren Geburtsname. Das ist halt eine Lauterbacher Familie Vogel. Ich glaube, das ist bloß eine zufällige Namensgleichheit mit Sabrinas Mann. Der Name Vogel ist ja nicht gerade selten. Aber das müssen Sie schon selber überprüfen.»

«Haben Sie eine Adresse von der Frau?»

«Bloß eine Handynummer.» Er gab sie durch.

Winter rief direkt danach die Nummer an. Er bekam die Mailbox und richtete aus, Frau Vogel möge sich unter der Nummer soundso schnellstens mit der Kripo in Verbindung setzen.

***

Ulli hatte ihre zwanzig Bahnen geschwommen. Jetzt fror sie etwas, hatte sich ein Sweatshirt übergezogen und sah vom Rand aus zu, wie Andrea im Kinderbecken des Rebstockbades planschte. Andreas kinnlange, helle Haare waren durch die Feuchtigkeit dunkler, und sie hatte sie hinter die Ohren geschoben; ihr Gesicht war nass und gerötet und strahlte vor Lebensfreude. Sie hielt Wolke, die mit Schwimmflügeln ausgerüstet war, mit beiden Armen vor ihrer Brust. Merle, ein Stück weiter links, trug ebenfalls gelbe Flügel und hielt sich an einem Schwimmbrett fest. Sie versuchte sich mit Schwimmübungen im Hundepaddelstil, den sie schon gut beherrschte. Immer wieder sah sie zu Ulli herüber, die ihre Künste mit lobenden, aufmunternden Blicken bedachte. Nächste Woche würde sie anfangen, ihr Brustschwimmen beizubringen.

Andrea mit Wolke in den Armen sah unglaublich mütterlich aus, und das hellhaarige, rotwangige Mädchen absolut wie ihre Tochter. Ulli bemerkte, dass ein am Beckenrand stehender Mann Andrea intensiv musterte. Wahrscheinlich wünschte er sich, eine so lebendige, hübsche Frau zu haben wie sie.

Als sie alle schließlich in der Garderobe ihre Sachen holten und Andrea ihre Mailbox prüfte, warf sie Ulli einen vielsagenden Blick zu. «Nachricht von der Kripo», raunte sie, als die Mädchen kurz abgelenkt waren. «Ich soll sofort zurückrufen. Das ist ja wohl die Oberfrechheit.»

Ulli fand auch, dass es frech war. Die Polizei wusste genau, dass das Jugendamt der Kripo nicht erlaubt hatte, mit den Kindern zu reden. Und jetzt versuchten sie es einfach am Wochenende direkt, in der Hoffnung wahrscheinlich, dass Andrea vom Jugendamt noch nicht informiert war.

«Am besten, du rufst gar nicht erst zurück», entschied Ulli.

«Natürlich nicht», verkündete Andrea. «Ich bin doch nicht blöd.»

***

Winter war sich nicht sicher, was ihn trieb, danach noch Hilal Aksoy anzurufen. Rein dienstlich, redete er sich ein. Hatte sie ihn nicht letztes Jahr ebenfalls an einem Wochenende zu Hause angerufen, um sich zu einem Gespräch mit ihm zu verabreden? War das nicht eine ganz ähnliche Situation gewesen? Doch als er die Wähltaste drückte, sagte ihm sein klopfendes Herz, dass er mit dem Feuer spielte.

Sie ging dran. Von der Geräuschkulisse her war sie irgendwo draußen und in Gesellschaft. Er war sofort enttäuscht. (Was hatte er denn erwartet?) Sie fragte, ob etwas passiert sei, fürchtete offensichtlich, aus dem Wochenende geholt zu werden. «Nein, überhaupt nichts», sagte Winter. «Ich wollte dich bloß fragen, ob du heute oder morgen eine Stunde Zeit hättest, mit mir den Fall durchzusprechen. Ich hänge irgendwie fest.»

Eine kurze Pause. Eine Kinderstimme sagte etwas, Aksoy antwortete: «Ja, geh schon.» Dann: «Andi? Kann ich dich später noch mal anrufen, so gegen fünf oder sechs? Ich weiß jetzt noch nicht, wann wir zu Hause sein werden.»

«Okay, natürlich», sagte er. «Wo bist du gerade?»

«Wiesbaden. Schloss Freudenberg.»

Da gab es ein Museum der Sinne oder so ähnlich. Vielleicht sollte er mit Carola auch mal dorthin, statt sich an einem schönen Spätsommerwochenende ins Büro zu flüchten und Hilal Aksoy hinterherzuschmachten. Doch die Vorstellung, mit Carola irgendwohin zu gehen, war so trist, dass der Gedanke überhaupt nicht half. Was war nur aus ihnen geworden?

«Viel Spaß noch», wünschte er.

Er ließ sich etwas zu essen ins Büro kommen und ging langsam noch einmal die Akten durch. Allmählich entspannte er sich. Um halb sechs rief Aksoy an. «Wir sind jetzt gleich da», sagte sie. «Ich esse dann erst mal mit der Familie. So ab sieben könnte ich, falls es dir passt.»

Mit der Familie. Winter unterdrückte seine Eifersucht auf den dazugehörigen Mann, zweifellos irgendein Türke. (Oder war es eine Frau?) Natürlich passte es ihm.

«Holst du mich ab?», fragte sie.

Winter sonnte sich in den Worten, die sich anhörten, als hätten sie ein Date und kein banales halbdienstliches Treffen.

Um sieben stand er vor der Tür des Mietshauses in der Großen Seestraße in Bockenheim. «Drück auf die rechte Klingel», hatte sie gesagt, und jetzt ergab das Sinn: Hier waren nebeneinander zwei Klingeln mit dem Namen Aksoy. Auf der rechten stand neben Aksoy noch ein weiterer Name: Tietz. Und nun wurde ihm richtig heiß. Aksoy war wohl mit einem Deutschen liiert. Irgendwie machte das seine Eifersucht schlimmer.

«Ich komme», sagte sie durch die Sprechanlage. Es war ihm sehr recht, dass er nicht hoch musste und das traute Familienglück bewundern. Oder hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, und beide wohnten zum Besten der Kinder in benachbarten Wohnungen? Nein, wahrscheinlich war eine Wohnung in diesem bescheidenen alten Haus einfach zu klein. «Ich will mit der Familie essen», hatte sie ja gesagt. Außerdem, wann hatte man jemals von einer derart einvernehmlichen Trennung gehört?

Er saß schon wieder im Wagen, als sie kam, machte ihr die Beifahrertür auf.

«Hi», sagte sie und ließ sich mit Schwung in den Sitz fallen. Sie trug ausnahmsweise ein Kleid, die Haare waren offen, sie hatte etwas Farbe im Gesicht, roch zugleich nach Sommer und Sand und irgendeinem tomatigen Essen und wirkte entspannt und glücklich. Er grinste, während er losfuhr. «Was gab es denn?», fragte er.

«Oturtma», sagte sie, sehr türkisch klingend. «Angebratene Auberginen und Zucchini, die stundelang mit öligem Hackfleisch und Tomaten geköchelt haben. Danach ist man doppelt so schwer wie vorher. Und irgendwie sediert.»

«Es fällt aber nicht unters Betäubungsmittelgesetz?»

Sie lachte. «Sollte es vielleicht. Wohin fahren wir eigentlich? Ins Büro? Ins Stattcafé, nach alter Tradition?»

«Ich dachte, wir fahren zum Tatort im Doppelmord Vogel, wenn’s dir recht ist.»

«Okay. Hast du da was Bestimmtes vor?»

Er schüttelte den Kopf. «Nur zur Inspiration. Irgendwie glaube ich, dass ich da vielleicht was übersehen habe. Ich hab doch damals den Tatort erst mit zwei Wochen Verspätung zu Gesicht bekommen.»

«Ah. Aber ich war am Tattag vor Ort. Deshalb wolltest du mich dabeihaben. Aber falls du denkst, dass mir gleich eine alles erhellende Erinnerung kommt …»

«Nein, damit rechne ich überhaupt nicht. Ich wollte eigentlich nur deine Sicht der Dinge hören. Dass wir da hinfahren könnten, ist mir erst danach eingefallen.»

Er bemühte sich, seine Konzentration von ihrer Person weg auf den Fall zu lenken, berichtete von Manteufels Andeutungen, die ihn letztlich keinen Schritt weitergebracht hatten. Es schien ihm sogar immer noch möglich, dass Olsberg der Täter im Fall Feldkamp war und Manteufel sich von ihm hatte einwickeln lassen.

Als sie ankamen, stellten sie fest, dass das Vogel’sche Haus sich in eine Baustelle verwandelt hatte. An der Schmalseite stand ein Gerüst. Die Fenster waren hier durch neue ersetzt, die Fassade bis zum Mauerwerk bloßgelegt. Riesige Stapel von in Plastik verhüllten Styroporplatten standen daneben. Wer auch immer jetzt der Vormund der Vogel-Mädchen war, hatte das Haus verkauft, und die neuen Besitzer waren dabei, das alte Gemäuer auf Energiesparhaus zu trimmen. Winter war enttäuscht. Die düstere Atmosphäre, die er hier gespürt hatte und mit dem Fall assoziierte, war nicht mehr zu greifen.

«Lass uns auf die andere Seite gehen», schlug Aksoy vor, der es wohl ähnlich ging. Auf der anderen, noch unangetasteten Schmalseite mit Blick auf die Wiesen und die sinkende Sonne im Westen konnte man die Familie Vogel wieder spüren, ihre Isoliertheit, die leichte Verschrobenheit. Winter dachte auch an die sich häufenden Anzeichen, dass Sabrina Vogel zumindest gelegentlich von ihrem Mann geschlagen worden war.

Er verdrängte das Bedürfnis, Hilal Aksoy jetzt einfach in den Arm zu nehmen. Ihre Haare wehten im Wind. «Ich habe diese Theorie», sagte er, «dass der Fall Vogel der Schlüssel zu den anderen ist, und dass wir ihn nur richtig verstehen müssen, um die anderen zu verstehen.»

«Und du meinst damit nicht, dass Hendrik von Sarnau sämtliche Taten begangen hat? Direkt oder durch einen Auftragsmörder? Das ist ja die naheliegendste Hypothese.»

Er schüttelte den Kopf. «Mir will diese Sache mit der Tür hier im Haus nicht aus dem Kopf. Eine abgeschlossene Tür im Gästezimmer, die laut dem Holzexperten Wochen vor der Tat von jemandem mit der Tatwaffe aufgeschossen wurde, ohne dass die Familie Vogel auf die Idee kam, das der Polizei zu melden. Und Merle Vogel weiß, wer es war, aber ihr Vater hat ihr verboten, es zu sagen. Wie um Himmels willen passt das zu Hendrik von Sarnau?»

Aksoy nickte. «Du hast recht, das passt überhaupt nicht. Noch was. Das ist jetzt totaler Schwachsinn, aber ich sag’s trotzdem. Ich war ja am Tag nach der Tatnacht hier. Am Abend, als ich mit den Kindern raus aus dem Haus bin … die Kinder saßen schon im Auto, da sah ich den Wagen mit den Leuten von der MK kommen. Ich bin dann noch nicht eingestiegen, weil ich erst mal mit denen reden wollte. Es war dunkel, und als ich da vorne auf dem Hof stand und wartete, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass der Täter noch da ist und mich beobachtet. Ich glaube, das war, weil ich da in den Büschen ein Geräusch gehört hatte.» Sie zeigte auf die unordentliche, baumdurchbrochene Hecke, die das Hofgelände an einer Seite begrenzte. «Wahrscheinlich war es irgendein Tier», sagte sie. «Es kam mir nur merkwürdig vor, dass ich so stark reagiert habe; ich neige eigentlich nicht zu solchen Einbildungen.»

Nein, aber sie hatte einen Instinkt für subtile Signale, für Indizien an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Er erinnerte sich noch, wie sie instinktiv im letzten Jahr aus einer riesigen Vermisstendatei dasjenige Mädchen herausgepickt hatte, das mit einer unbekannten Leiche ohne Gesicht identisch war.

«Jetzt fällt mir auch was ein», sagte er. «Einmal, als ich hier war, habe ich doch einen Kalbacher Klempner beim Einbruch in Thomas Vogels Schuppen beobachtet. Als der Einbrecher den Hof verlassen hat, da ist er nicht die Stichstraße entlang zurück ins Dorf, sondern er hat den Weg in die Wiesen genommen und wollte wohl auf einem Umweg nach Kalbach zurück. Da ist mir aufgefallen, wenn man bei Vogels ein Verbrechen begeht, sollte man sich eigentlich hüten, den Weg über die Stichstraße zu nehmen. Weil dann klar ist, dass man zu Vogels will oder von Vogels kommt, falls man von jemandem gesehen wird.»

Ihre Augen weiteten sich. «Du meinst, der nächtliche Motorradfahrer ist eine Fehlspur?»

Winter nickte. «Es könnte zumindest sein. Wenn ich gerade bei Vogels zwei Leute erschossen hätte, würde ich eher von hier aus über die Felder zur Autobahnauffahrt fahren als direkt am Nachbarhaus vorbei nach Kalbach rein.»

«Okay», sagte sie, «das können wir bestimmt klären. Ich hänge in Kalbach und Riedberg Fahndungszettel auf mit der Frage, wer in der Nacht vom ersten auf den zweiten Weihnachtstag von den Feldern kommend an dem Vogel-Haus vorbeigefahren ist. Wir würden Zeugen suchen. Und das stimmt ja auch. Wenn der Motorradfahrer nicht der Täter war, ist er ein wichtiger Zeuge, weil er wenige Minuten nach den Schüssen am Haus vorbeigekommen ist.»

«Wunderbare Idee. Mach das.» Winter fühlte sich erleichtert, als sei in dem Fall ein Knoten geplatzt. «Angenommen», redete er weiter, «die Fälle würden tatsächlich alle zusammenhängen, aber Hendrik von Sarnau wäre nicht der Täter oder Auftraggeber. Wen hättest du in Verdacht?»

«Dann ist es ein Verrückter. Die ganze Sache ist doch irgendwie krank.»

«Und wenn du den Fall Vogel alleine betrachtest und Hendrik von Sarnau und der Preiß als Täter ausgeschlossen wären?»

«Eine Familiensache. Jemand aus Allmenrod.»

***

Andrea sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. «Kommst du mal?», sagte sie leise. Ulli stand vom Tisch auf. Dabei sah sie an Merles Ausdruck, dass die etwas mitbekommen hatte und ebenfalls alarmiert war. Ulli folgte Andrea in den Flur. Sie waren gerade beim Abendessen gewesen, als das Telefon geklingelt hatte. Andrea hatte den Anruf entgegengenommen. «Die Polizei wieder?», fragte Ulli beunruhigt. «Oder ist was mit meinem Vater?» Ihr Vater litt unter Bluthochdruck. Sie lebte in der ständigen Angst, ihm könnte etwas passieren.

Andrea schüttelte den Kopf, zog Ulli ins Schlafzimmer und schloss die Tür. «Es war wieder diese Frau Pfister, die Oma der Mädchen. Und weißt du was? Ihr Mann ist gestern gestorben. Und jetzt, wo sie ihn nicht mehr pflegen muss, wäre es ihr möglich, die Kinder zu nehmen. Ulli, sie will die Kinder.»

Ulli hatte das Gefühl, der Boden sacke ihr unter den Füßen weg. Sie setzte sich aufs Bett. «O nein», murmelte sie und schlug die Hände vors Gesicht.

Sie sah die große neue Wohnung vor sich, wie leer und still und traurig sie ohne die beiden Mädchen wäre. Sah, wie sie nach der Arbeit nach Hause kommen würde, ohne von einer fröhlich heranhüpfenden Merle, einer quiekenden Wolke begrüßt zu werden. «O nein», wiederholte sie noch einmal. Dann richtete sie sich auf. «So, Liebste. So einfach geben wir uns nicht geschlagen. Die Frau hat sich null für die Kinder interessiert, als die sie am meisten gebraucht hätten. Die Eltern sind gestorben, und die Oma hat sie mutterseelenallein sitzenlassen. Das ganze letzte Dreivierteljahr hat sie sich nicht um Merle und Wolke gekümmert. Mir kann keiner erzählen, dass sie nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich Hilfe zu holen oder den Mann für ein paar Tage im Heim unterzubringen, damit sie die Kleinen wenigstens mal besuchen kann. Sie hat ihre Chance vertan. Bei uns sind die beiden besser aufgehoben als bei ihr. Das muss jeder einsehen. Wenn du mich fragst: Die interessiert sich auch jetzt nicht für die Kinder. Die will nur an die Kohle. Sie würde ja als Blutsverwandte wahrscheinlich die Vollmacht über das Geld aus dem Hausverkauf kriegen, was jetzt der Betreuer vom Gericht verwaltet. Die will das Geld, das ist alles. Wir werden kämpfen, Andrea. Für uns und vor allem für die Kinder. Es sei denn, natürlich, sie wollen unbedingt zur Oma. Das müssen wir sie jetzt leider fragen.»

***

Der böige Wind hatte sich plötzlich gelegt. Die Abendsonne tauchte die schäbige alte Hausfassade in orangefarbenes Licht und spendete wohlige Wärme. Irgendwo zirpte eine Grille.

«Was hältst du von den Kinderzeichnungen?», fragte Winter.

«Das Familienporträt ist unheimlich», sagte Aksoy. «Hast du eine Ahnung, was diese braunen, spinnenartigen Dinger sein sollen, die sie auf ihre Mutter und ihren Vater gemalt hat?»

«Nicht die geringste. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber es ist wirklich ärgerlich, dass wir Merle nicht noch mal befragen können.»

«Es würde wahrscheinlich nichts helfen», tröstete ihn Aksoy. «Entweder, sie würde es uns nicht verraten. Oder aber sie kann sich selber nicht mehr dran erinnern, was sie mit den braunen Dingern sagen wollte, und würde uns irgendeine Geschichte erzählen, die nur noch mehr verwirrt.»

Irgendeine Geschichte erzählen … Winter hatte mit einem Mal diese Frau Höfling in ihrer Verkehrsbetriebe-Uniform vor Augen, die Mutter von Merles Freundin Julia, die er hier vorm Haus getroffen hatte. Die Merle Vogel hat ein bisschen viel Phantasie, die hat der Julia immer Sachen erzählt … so ähnlich hatte sie sich geäußert. Wie, wenn es gar nicht stimmte, was Merle über die zerschossene Tür erzählte? Dass sie wisse, wer geschossen habe, und ihr Vater ihr verboten habe, es zu sagen?

Plötzlich kamen Winter zwei Erleuchtungen auf einmal. Erstens, sie hatten immer angenommen, dass diese kaputte Tür die Gästezimmertür war, weil im Gästezimmer die Tür fehlte. Doch das war ein Denkfehler. Türen ließen sich umhängen. Die zerschossene Tür hatte vielleicht ursprünglich zum Schlafzimmer der Eltern gehört. Nachdem sie kaputt war, hatten Vogels die unbrauchbare Tür in den Schuppen geschafft und die ursprüngliche Gästezimmertür im Schlafzimmer angebracht. Im Gästezimmer schlief ja nur alle Jubeljahre jemand, der Raum kam also am ehesten ohne Tür aus. Ins Gästezimmer hatte gar niemand eindringen wollen. Ihre alte These von den dort versteckten Diamanten oder Goldbarren konnten sie vergessen. Es war von Anfang an darum gegangen, Menschen zu verletzen und nicht um Habgier.

Zweitens: Er musste dringend mit Frau Höfling sprechen. Die Merle hat der Julia immer Sachen erzählt … Er hätte jetzt doch zu gerne gewusst, welche.

Er blickte auf die Taunus-Höhenzüge und den Sonnenuntergang und grübelte weiter. Plötzlich sagte Aksoy: «Da fällt mir was ein.»

Im gleichen Moment klingelte Winters Telefon, eine unbekannte Nummer. «Winter.»

«Baumann, Uniklinik. Wir sollten uns bei Ihnen melden. Der Herr André Bründl ist aufgewacht und ansprechbar.»

In Winter jubilierte es.

«Bründl ist aufgewacht», sagte er zu Aksoy, während er schon mit fliegenden Fingern das Präsidium anwählte. «Das gibt’s doch nicht», rief sie freudig strahlend. Winter orderte einen Beamten sofort zu Bründls Schutz ins Krankenhaus. Falls sich herumsprach, dass Bründl bei Bewusstsein war, war er akut gefährdet. Der Täter konnte auf die Idee kommen, den Tatzeugen auszuschalten.

«Ich bin so gespannt», sagte Aksoy. «Du fährst jetzt gleich hin, oder?»

Er nickte. «Klar.»

«Bist du mir böse, wenn ich nicht mitkomme und du mich vorher zu Hause absetzen musst?»

Natürlich nicht. Er war bloß eifersüchtig auf denjenigen, der auf sie wartete.

«Du hast Kinder?», fragte er auf dem Weg zum Wagen.

Das Privatleben war bislang eine Art Tabuthema zwischen ihnen gewesen. Jedenfalls hatte er immer vermieden, sie nach ihrem zu fragen. Manche Dinge wollte er gar nicht wissen.

«Zwei», sagte sie und stieg ein. «Ziemlich genau zehn Jahre jünger als deine beiden.» Da kannte sie sich ja gut aus. Na ja, seine Tochter kannte sie aufgrund gewisser kriminalistischer Verwicklungen im letzten Jahr persönlich.

«Du bist ja auch ziemlich genau zehn Jahre jünger als ich, oder?», fragte er. Warum hatte er das denn jetzt gesagt? Wann sie geboren war, hatte er längst in ihrer Bewerbung nachgesehen, die er sich von Hildchen hatte zeigen lassen unter dem Vorwand, er wolle Hintergrund zu seiner SoKo-Mitarbeiterin. Geburtsort war Istanbul.

«Ja», sagte sie schlicht. Und ihm fiel absolut nichts mehr ein, was er sagen konnte. Nach einem Mann oder einer Lebensgefährtin wollte er definitiv nicht fragen. Sie schwieg ebenfalls. Ihm war heiß.

Endlich waren sie in der Großen Seestraße angekommen. Er hielt, wo es gerade ging. Als sie sich abschnallte, sagte sie ruhig: «Andi, du hast Probleme zu Hause, oder?»

Er dachte, er höre nicht recht. «Kann man so sagen», brachte er hervor.

Für einen Moment legte sie warm ihre Hand auf seine. Dann stieg sie aus.

***

Bründl war aus irgendeinem Grund vor einer Woche in die Uniklinik verlegt worden. Winter hatte sich angekündigt und den Stationsarzt gebeten, sich für ein Gespräch bereitzuhalten.

«So viel Glück muss man erst mal haben», berichtete der keine dreißig Jahre alte Arzt in einem kleinen quadratischen Büro, die Krankenakte auf dem Bildschirm. «Genickbruch ohne Nervenschaden, Lungendurchschuss überlebt, und dann schnelle Besserung nach anoxischem Koma. Ist schon seit zwei Tagen wach, bloß, ich habe jetzt erst in der Akte gelesen, dass wir sofort anrufen sollten, wenn er ansprechbar ist. Er redet ganz flüssig. Aber Sie müssen schon damit rechnen, dass da kognitive Einschränkungen vorhanden sind. Konzentration, Aufmerksamkeit und so. Vorhin dachte er, er wäre in Bamberg. Dabei haben wir ihm natürlich gesagt, dass er in der Frankfurter Uniklinik ist. Okay, dann bringe ich Sie jetzt zu ihm.»

Winter wappnete sich für eine Enttäuschung. Im Krankenzimmer fand er den aknenarbigen André Bründl, der seinem Zwillingsbruder Mark frappierend ähnelte, immerhin ohne Schläuche am Körper vor, abgesehen von der dünnen Drainage, die aus dem Brustverband hervorlugte. Er trug eine Halskrause. Das alles war eine wesentliche Verbesserung zu dem letzten Zustand, von dem Musso Winter berichtet hatte. Eine ältere Frau mit Brille saß bei dem Kranken. Der Arzt sagte: «Herr Bründl, hier ist jemand von der Kripo für Sie», und verschwand. In Bründls fahlem Gesicht sah Winter so etwas wie Angst. Er stellte sich ohne Hektik vor. Dann bat er die Mutter Bründl, die breitestes Fränkisch sprach, ihn mit ihrem Sohn alleine zu lassen, das Gespräch sei vertraulich. «Gell, André, dann geh ich dir noch eine Limo kaufen», sagte die Mutter laut und in künstlicher Fröhlichkeit, als spräche sie zu einem Kleinkind. Kein gutes Zeichen. Bründl selbst hatte noch keinen Ton gesagt.

Winter nahm sich den Stuhl, auf dem die Mutter gesessen hatte. «Verstehen Sie mich?», fragte er als Erstes. Bründl nickte mit einem Grunzen.

«Ich habe erst mal eine gute Nachricht für Sie.» Hauptsächlich wollte Winter testen, wie klar Bründl im Kopf war und wie es um sein Gedächtnis stand.

«Sie hatten ja vor, zwei Schädel aus Professor Graftons Sammlung datieren zu lassen», begann er.

«Wird es gegen mich verwendet, wenn ich ja sage?», fragte Bründl. Winter grinste. Bründl war klar im Kopf.

Er belehrte ihn als Zeugen. «Um Ihre eigenen Verfehlungen geht es im Moment überhaupt nicht», erläuterte er schließlich. «Ich ermittele gegen den oder die Personen, die auf Sie und Professor Graftons Hausangestellte geschossen haben. Gegen Sie hat meines Wissens noch niemand Ermittlungen eingeleitet. Sie können natürlich gerne Dinge für sich behalten, die Sie selbst belasten. Aber dass Sie sich im Hause Grafton aufgehalten haben, können Sie ja schlecht leugnen.

Jetzt zurück zu der guten Nachricht, die ich für Sie habe. Wir haben diesen Ziegenschädel und den Babyschädel aus Graftons Schrank zu den Asservaten genommen und datieren lassen. Ich weiß die Zahlen jetzt nicht auswendig, aber es ist jedenfalls so, dass beide Schädel viele tausend Jahre jünger sind, als von Grafton immer behauptet. Wir werden am Ende der Ermittlung diese Ergebnisse an die Uni weitergeben.»

Bründl lächelte schwach. «Gut», sagte er. «Wenigstens etwas.»

«Ehrlich gesagt habe ich erwartet, dass Sie sich mehr freuen. Ich kenne die Geschichte mit Ihrer Doktorarbeit. Sie sind doch jetzt wissenschaftlich rehabilitiert.»

«Das nützt mir nur nix mehr», sagte Bründl. «Ich bin jetzt Matsch im Kopf, Gemüse, ich kann für den Rest meines Lebens mit Bauklötzen spielen.»

«Davon merke ich nichts. Sie wirken auf mich ganz normal.»

Bründl schüttelte vorsichtig den Kopf. «Kann mir nix mehr merken, krieg nix mehr mit. Ich weiß schon wieder nicht mehr, wer Sie sind.»

«Hauptkommissar Winter von der Frankfurter Kripo. Das wird mit der Zeit sicher besser werden. Letzte Woche lagen Sie noch im Koma, Ihr Gehirn braucht Zeit, um sich zu regenerieren.»

Bründl schüttelte wieder andeutungsweise den Kopf. «Hirnschaden is Hirnschaden», sagte er düster. «Dadrin fühlt sich nix mehr so an wie vorher. Aber danke für die guten Wünsche.»

Winter rückte seinen Stuhl näher an Bründl heran, dessen Prognose hoffentlich besser aussah, als er befürchtete. Aber wenn er aktuell wirklich so schlecht orientiert war, wäre die Aussage rechtlich verwertbar? Für seine Zwecke schon, entschied Winter, also ignorierte er das Problem und kam direkt zur Sache: «Herr Bründl, haben Sie die Person gesehen, die auf Sie geschossen hat?»

«Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich, aber ich kann mich an nix erinnern. Ich weiß, wie ich morgens ins Auto gestiegen bin und zu Grafton fahren wollte. Ich weiß auch noch, dass ich den Rückspiegel justiert hab. Danach ist alles weg.»

Winter unterdrückte einen Fluch. Warum hatte der Arzt ihm das nicht gleich gesagt? Dann hätte er sich die Fahrt hierher auch sparen können. Doch der Arzt hatte wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung gehabt, worum es ging. «Haben Sie denn wenigstens eine Idee, wer es gewesen sein könnte?», fragte er schließlich.

Bründl zuckte mit den Schultern. «Kann doch eigentlich nur Grafton gewesen sein, oder? Der muss irgendwie mitgekriegt haben, was ich vorhatte.»

«Haben Sie bei Grafton je eine Schusswaffe gesehen?»

«Kann mich nicht erinnern. Aber … sein Vater war bei der Army. Der hat doch bestimmt irgendein Gewehr vom Vater geerbt.»

Winter verließ Bründl nun sehr bald, bestand aber gegenüber einem Pfleger darauf, den Arzt noch einmal zu sprechen. Es hatte einen Schichtwechsel gegeben. Der Arzt war jetzt eine Ärztin, auch sie blutjung. Er wusste nicht, warum, aber Winter fühlte sich immer alt, wenn er so junge Ärzte sah.

«Leichte retrograde Amnesie», kommentierte die junge Frau seine Frage. «Und ja, Sie haben recht, es kann sein, dass die Erinnerung wiederkommt. Die Erlebnisse sind wahrscheinlich irgendwo gespeichert. Nur kann das Bewusstsein nicht darauf zugreifen. Wenn die Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis übergehen, kann sich das ändern. Bei ihm ist wohl der Zugriff auf den Hippocampus gestört. Das ist mehr so ein Zwischenspeicher.»

«Wie lange dauert das?»

«Unterschiedlich. Ein paar Tage, ein paar Wochen oder ein paar Monate. Es gibt aber auch Patienten, bei denen die Erinnerungslücke auf Dauer bestehen bleibt.»

Na toll. Es war wie verhext. Da gab es drei Leute, drei Zeugen, die wahrscheinlich oder sicher etwas wussten, nämlich Merle Vogel, André Bründl und Matthias Olsberg. Und alle drei konnten oder wollten aus unterschiedlichen Gründen nicht reden.

Winter war schon am Gehen, da fiel ihm noch etwas ein.

«Würde es der Erinnerung von Herrn Bründl auf die Sprünge helfen, wenn er den Ort sieht, an dem er angeschossen wurde?»

«Gute Idee», sagte die Ärztin. «Das ist möglich. Ich hatte jetzt wegen dieses Patienten mal Amnesie nachgelesen. Ist schon interessant. Da gab es eine Untersuchung an Ratten, die nach hypoxischer Amnesie in das Gehege zurückgebracht wurden, wo sie das gelernt hatten, was durch die Amnesie ausgelöscht wurde. Und bei denen kam nach ein paar Minuten in dem Gehege die Erinnerung zurück.»

Winter fand es unheimlich, dass man von Rattenexperimenten auf menschliche Hirnfunktionen zurückschließen konnte. Aber jetzt hatte er wenigstens einen Plan und war nicht ganz umsonst gekommen. Er würde eine Rekonstruktion der Vorgänge im Hause Grafton anleiern, sobald Bründl körperlich fit genug war.

***

Am Montag war die Hausdurchsuchung bei der verstorbenen Birthe Feldkamp. Da Computerspezialist Steffen Leibold nicht im SoKo-Team war, nahm Winter sich Feldkamps Rechner selbst vor. Als er die Downloads prüfte, entdeckte er schön ordentlich abgespeicherte Telefonrechnungen mit Einzelverbindungsnachweis. Und wer fand sich unter den Telefonkontakten mit einer Menge Telefonaten zwischen März und Mai? Kein anderer als Hendrik von Sarnau.

Es war anscheinend wirklich so, dass sogar die selbstbewusste, unabhängige Birthe Feldkamp auf Sarnaus dumme Tricks hereingefallen war. Vollkommen unverständlich für Winter. Aber bei Frauen kapitulierte er ohnehin regelmäßig davor, ihre Reaktionen zu verstehen. Siehe Carola.

Vielleicht hatte also die zerschossene Tür nicht die Bedeutung, die er ihr beimaß. Er hatte sich da wohl tatsächlich in eine fixe Idee hineingesteigert. Heute früh hatte er eine Vorladung an Frau Birgit Höfling abgeschickt, die er wegen Merles «Phantasiegeschichten» befragen wollte – das war nun völlig überflüssig.

***

Merle hatte letzte Nacht wieder den Albtraum gehabt. Schuld war bestimmt das Schwimmbad, wo sie unter Wasser jemand angefasst hatte, und sie hatte sich furchtbar erschrocken. Denn vorher hatte sie es lange nicht mehr geträumt. Sie lag im Traum im Bett und konnte sich nicht bewegen. Sie hatte die Tür abgeschlossen, ein Trick, um sich vor dem Dämon zu schützen. Der stand nun brüllend dahinter und schlug gegen das Holz und war viel böser, als sie ihn je erlebt hatte. Dann war plötzlich Ruhe. Die Gefahr schien vorüber. Doch gerade als sie sich entspannte, hörte sie draußen ein Geräusch und wusste, jetzt würde alles noch viel schlimmer werden. Plötzlich knallte und krachte es und roch nach Pech und Schwefel wie in der Hölle (laut Oma war die Hölle voll Pech und Schwefel, und sie würde dorthin kommen, wenn sie weiter so böse war). Und dann ging mit einem Krachen die Tür auf, und der Dämon kam zu ihr herein, brüllend und fluchend, und sie wachte schreiend auf.

Doch kurz darauf war Ulli bei ihr und nahm sie in den Arm. Gott sei Dank. Jetzt würde alles gut werden.

***

Der nächste Fortschritt – oder war es ein Rückschritt? – ließ nicht lange auf sich warten. Aksoy hatte morgens an strategischen Stellen in Kalbach und Riedberg Fahndungszettel aufgehängt, mit der Bitte, sich zu melden, falls man in der Nacht vom ersten auf den zweiten Weihnachtstag letzten Jahres am Vogel’schen Haus vorbeigefahren oder -gelaufen war. Am frühen Nachmittag rief ein junger Mann aus Kalbach an: Er sei in der fraglichen Nacht mit dem Motorrad unterwegs gewesen. Weil er, bevor er losfuhr, mit seiner Freundin gestritten habe, könne er sich noch gut erinnern. Außerdem sei es glatt gewesen, und er habe sich mit dem Motorrad auf dem holprigen Feldweg fast hingelegt. Jedenfalls sei er gegen zwölf an dem fraglichen Haus vorbeigefahren und von dort aus zurück in den Ort.

Damit war klar: Ihre These vom motorradfahrenden Mörder konnten sie vergessen. Sie wussten nicht, wie der Täter zum Haus der Vogels gekommen war.

Ob er an oder vor dem Vogel’schen Haus etwas beobachtet habe, fragte Winter den Zeugen am Telefon. «Einen Wagen auf dem Hof, Menschen, Lärm?»

«Nö. Kann mich nicht erinnern. Bloß, irgendwo hat jemand mit Böllern rumgeknallt. Das war dann auch der Moment, wo’s mich fast hingehauen hat, wahrscheinlich vor Schreck. Konnt gerade noch das Rad rumreißen und mich mit dem Bein abstützen. Sonst wär das nämlich geplättet gewesen, das Bein, mein ich.»

Gegen Abend traf sich Winter mit dem jungen Mann zu einer Ortsbegehung und zur Unterschrift unters Protokoll. Bei den Personalien hatte der Motorradfahrer als berufliche Tätigkeit Bankkaufmann angegeben. Er war eher klein und laut seiner Lederjacke Rammstein-Fan. Winter wäre jede Wette eingegangen, dass sein Motorrad ein ultralaut frisiertes Teil war. «Ich bin mir relativ sicher, dass diese Fenster da hell erleuchtet waren», erklärte er auf Winters Frage und zeigte auf die beiden kleinen Fenster an der noch nicht renovierten Schmalseite des Hauses, die einzigen Nicht-Dachflächenfenster im Obergeschoss. Sie gehörten zum Schlafzimmer. Winter fragte sich, ob der Zeuge das mit dem Licht nach so langer Zeit noch wissen konnte. Andererseits, er hatte hier mit seinem Beinahe-Unfall ein aufregendes Erlebnis gehabt. So etwas schärfte manchmal die Erinnerung.

«Gehört haben Sie außer den Böllern nichts Besonderes?», fragte er noch.

«Glaub nicht. Aber ich fand das irgendwie unheimlich hier. Hatte Schiss, dass da vielleicht irgendwo ’n Knallkörper rumliegt. Hier wird ja dann auch der Weg besser, und nachdem ich mich nach meinem Rutscher berappelt hatte, bin ich gleich voll Speed weiter.»

Es schien tatsächlich so, als sei der Bankkaufmann hier vorbeigekommen, während sich der Täter am Tatort aufhielt. Und der Tatort war «hell erleuchtet». Diese Aussage, falls sie stimmte, deutete auf das Deckenlicht, nicht auf eine Nachttischlampe.

Winter nahm sich nach seiner Rückkehr ins Büro die Bilder des Tatorts vor und führte sich den Ablauf ein weiteres Mal vor Augen. Es war unwahrscheinlich, dass der Täter vor dem Mord das Deckenlicht eingeschaltet hatte. Dann wären die Eheleute doch sofort aufgewacht. Eher hatte er sich im Dunkeln bewegt, mit einer Taschenlampe ausgestattet. Höchstwahrscheinlich war es Thomas Vogel selbst, der das Licht eingeschaltet hatte, nachdem er von den Schüssen auf seine Frau geweckt worden und aufgesprungen und zur Tür gerannt war. Der Lichtschalter befand sich neben der Tür. Nachdem Vogel das Licht eingeschaltet hatte, hatte er sich zum Raum umgedreht: Er hatte wohl sehen wollen, was eigentlich los war. Und dann war er selbst erschossen worden.

Von wem? Definitiv nicht von Hendrik von Sarnau persönlich. Dessen Anwalt hatte heute für die Tatnacht im Fall Vogel ein perfektes Alibi vorgelegt – ein großes Familienfest in weiter Ferne im Niedersächsischen, zahlreiche Fotos mit Zeit- und Datumsangabe, auf denen der Verdächtige prominent zu sehen war. Genau, wie es Manteufel prophezeit hatte, als Winter ihr vor Monaten zum allerersten Mal von «Sumathi» erzählte: Er ist Jurist, hatte sie gemeint, und er wird ein wasserdichtes Alibi haben. Natürlich war es zu riskant für Sarnau, Sabrina Vogel selbst zu erschießen, wenn er ihre Lebensversicherung kassieren wollte.

Wer aber war sein Handlanger? Für Wladimir Preiß sprach inzwischen nicht einmal mehr sein Motorradführerschein. Und von der Idee, dass die Kinderzeichnung Preiß darstellen sollte, hatte ihn Manteufels Lachanfall geheilt. Preiß war es nicht. Doch in Sarnaus magerer Klientenkartei hatten sie niemanden gefunden, der so gut wie Preiß ins Schema «Auftragsmörder» passte. Sarnau hatte keine Kriminellen verteidigt, auch keinen Fremdenlegionär, Wehrsportfan oder dergleichen.

Wer blieb? Ein Vertrauter Sarnaus, mit dem er sich das Geld teilen wollte? Am ehesten dieser Schulfreund Tim Steiner, der Manteufel bei ihren Recherchen so üble Geschichten über den Umgang der Sarnau-Clique mit der Mitschülerin Sabrina erzählt hatte. Steiner schien sich zwar von Sarnau distanziert zu haben. Andererseits hatte er auf Ziering, der ihn kürzlich befragt hatte, den Eindruck eines verkrachten Künstlers gemacht. Vielleicht brauchte er Geld. Winter notierte, dass sie noch einmal mit Tim Steiner reden mussten.

Mindestens so wahrscheinlich als Handlanger schienen die Krombachs in Allmenrod. Die konnten Geld gebrauchen, die Höfe knapsten wohl alle am Existenzminimum, seitdem der Betrieb des alten Heiner Krombach unter den Nachkommen aufgeteilt worden war. Winter hatte selten einen so bejahrten Trecker gesehen wie den auf Jörg Krombachs Hof. Und Sarnau wusste wahrscheinlich als Mitschüler Sabrinas von der berühmten Dorffehde zwischen den Familien Krombach und Pfister.

Hatte also der findige Anwalt einen Allmenröder Krombach mit der Tat beauftragt, der das Geld gut gebrauchen konnte und zugleich nicht allzu viele Skrupel hegte, jemandem aus der Familie Pfister etwas anzutun? Winter würde sich die Kontenbewegungen bei Sarnau noch einmal ansehen und Konteneinsicht für Dieter und Jörg Krombach beantragen.

Nach Rücksprache mit Fock ließ Winter am Dienstag früh Matthias Olsberg frei. Zur Sicherheit beauftragte er Ziering mit einer verdeckten Observation für den Rest des Tages. Vielleicht führte Olsberg sie unbeabsichtigt auf eine Spur.

Natürlich setzte Winter nach der Feldkamp-Durchsuchung eine neuerliche Vernehmung Sarnaus an. Doch die brachte nichts. Sarnau gab nur zu, was nicht zu leugnen war: dass er mit Birthe Feldkamp im Frühjahr Kontakt gehabt hatte. Sie war es angeblich, die sich bei ihm gemeldet hatte. Und ein paar Wochen später habe sie ihn urplötzlich wieder fallenlassen.

Nicht lange danach hatte Olsberg seinen Meinungsumschwung gehabt und sich bereit erklärt, bei Feldkamp einzuziehen. Irgendetwas Entscheidendes musste in dieser Zeit geschehen sein. Aber was?

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Als Ulli von der Arbeit nach Hause kam, hing an der Tür ein Zettel, von Merle groß mit Wachsmalstift beschrieben: Hallo Ulli (mit Herzchen auf dem i). Wir sind auf dem Spielplatz. Daneben hatte Andrea gekritzelt: Lasagne im Ofen. Sind um Punkt 18:00 zum Essen wieder da.

In Ullis Herz gab es einen schmerzhaften Stich. Es war alles so schön. Warum sollte ihnen ihr kleines Familienidyll wieder genommen werden, von einer Frau, die ihre Enkelinnen nicht einmal liebte? Sie hatte am Samstag die Kinder gefragt, ob sie gerne bei ihrer Oma wohnen wollten. Ganz neutral gefragt. Wolke war sofort zu ihrem Kuscheltier ins Bett geflohen, und in Merles Gesicht hatte Ulli panische Angst gesehen, die Angst davor, dass sie von Ulli und Andrea wieder wegmüsste. Sie wolle die Oma besuchen, druckste Merle nach langer Pause zur Antwort. Aber nur wenn Ulli und Andrea mitkämen. Und wenn sie danach wieder nach Hause führen. «Das machen wir», sagte Ulli. Sie hatte nicht das Herz, dem Mädchen zu verraten, dass es Komplikationen gab und die Oma sie auf Dauer zu sich nehmen wollte. Andrea schaffte es unterdessen, Wolke zu beruhigen.

Als sie später Domino spielten, wirkte Merle unkonzentriert und den Tränen nahe. «Ulli, können wir für immer bei euch bleiben?», hatte sie schließlich unvermittelt gefragt. «Aber natürlich, mein Schatz, für immer und ewig», hatte Ulli gesagt, der selbst die Tränen in die Augen stiegen. «Was sollen wir denn ohne euch machen?» Merle war auf ihren Schoß gekrochen und hatte geklammert, wie Ulli das noch nicht bei ihr erlebt hatte. Sie hatte sogar zum ersten Mal Angst gehabt, ins Bett zu gehen. Seitdem hatten Andrea und Ulli das Thema gegenüber den Kindern nicht mehr angesprochen. Andrea hatte stattdessen einen Anwalt aufgesucht und sich beraten lassen. Sie würden versuchen, die Großmutter im Guten zu überreden. Aber wenn es hart auf hart kam, würden sie mit Zähnen und Klauen um ihre Kinder kämpfen.

Als Ulli aufschloss, roch es drinnen schon verführerisch nach überbackenen Nudeln. Sie wusch sich die Hände, checkte den Ofen und die Eieruhr: Die Lasagne würde noch zwanzig Minuten brauchen. Vom Flur aus hatte Ulli durch die offene Tür in Merles Spielzimmer etwas Unordnung gesehen. Merle räumte jeden Abend ohne Aufforderung ihr Zimmer perfekt auf. Ulli beschloss, der Kleinen die Arbeit heute einmal abzunehmen.

Merle hatte gemalt. Der Block lag auf dem Boden, Stifte und Blätter drum herum verstreut. Ulli ging in die Hocke, legte die bemalten Blätter ordentlich übereinander – Merle sammelte ihre «Bilder» –, klaubte die Wachsmalstifte und Buntstifte vom Boden auf und tat sie in die zugehörigen Kästchen. Wohin gehörten die Bilder? Ulli sah in die Plastikcontainer im Regal, entdeckte einen, in dem sich Bilder stapelten, und zog ihn hervor. Nanu, was war denn das?

Ulli griff nach dem Bilderstapel und erstarrte.

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Frau Höfling, die Mutter von Merles Freundin Julia, ließ sich von Winters zuvorkommend formulierter Vorladung locken und erschien schon am Dienstag gegen Abend in ihrer blauen und türkisen Verkehrsbetriebe-Uniform. Kurz davor war ein Telefongespräch mit Sarnaus ehemaligem Freund Tim Steiner im Sande verlaufen. Winter hatte die Mitarbeiter angewiesen, Steiners verdächtig gutes Alibi für den weihnachtlichen Mord allergenauestens zu überprüfen. Angeblich war er als Reiseführer irgendeiner Kulturreisen-Gruppe im türkischen Kappadokien gewesen.

Der Zeugin Höfling bot Winter einen Kaffee und ein Sandwich an. Sie kaute geschäftig, während sie sich in breitem Frankfurterisch ungefragt über die «asozialen» Tendenzen bei Sabrina Vogel ausließ, wiederholte aber in dieser Hinsicht bloß ihre früheren Ausführungen: Sie hatte Frau Vogel stets «im Schlabberpullover» angetroffen, wenn sie ins Haus kam, um Julia abzuholen, und um Ordnung und Sauberkeit stand es dort nicht zum Besten.

«Mich interessiert im Moment, was die Merle Vogel so von zu Hause erzählt hat. Fällt Ihnen da was ein?»

Frau Höfling wusste von nichts. Da müsse er die Julia fragen.

«Sie hatten mir im Januar gesagt», erinnerte Winter, «die Merle würde manchmal unglaubhafte Geschichten erzählen. Sie könne Wahrheit und Phantasie nicht auseinanderhalten wegen der vielen Computerspiele.»

«Ach so. Ja, also ich hab ja mit der Merle nicht so viel gesprochen. Aber laut der Julia meinte die Merle, es würde bei ihnen im Haus Dämonen geben und sie hätte Angst vor denen. Angeblich würden die Dämonen aber nur hervorkommen, wenn die Julia nicht da wär. Deshalb würde die Julia die Dämonen auch nie zu Gesicht bekommen. Also, ich glaub ja, die Merle hat die Geschichte mit den Dämonen bloß erfunden, um die Julia zu zwingen, dass sie nachmittags bei ihr bleibt. Weil die Merle angeblich durch die Julia vor den Dämonen geschützt war, und sie hätte Angst, wenn die Julia weggeht. Reine Taktik, wenn Sie mich fragen. Auf die Weise stand die Julia nie bereit, wenn ich sie abholen kam, und ich durfte immer zu Vogels rüberlatschen nach dem langen Arbeitstag. Weil, wenn ich bloß angerufen hab, Sie glauben doch nicht, dass die Julia dann sofort gekommen wär. Das dauerte Stunden, bis die sich da losgemacht hatte. Also musste ich sie selber holen.»

«Welche Computerspiele hat die Merle gespielt?»

«Wie die hießen, weiß ich nicht, da kenn ich mich nicht aus. Irgendwas mit Teufeln, die aus der Hölle kommen.»

Winter war sich nach Frau Höflings Weggang alles andere als sicher, ob ihn das weitergebracht hatte. Nach kurzer Grübelei kam ihm eine Idee. Er schnappte sich Merles Zeichnung von dem schlitzäugigen, muskelbepackten, groß bezahnten Waffenträger und nahm sie mit rüber zu dem fensterlosen Kabuff ihres Informatik-Spezialisten Steffen Leibold. «Sag mal, Steffen», fragte Winter, «könnte diese Kinderzeichnung hier eine Figur aus einem Computerspiel darstellen?»

«Klar. Aber frag mich jetzt nicht, welche. Da kommen viele in Frage.»

«Kennst du ein Spiel, bei dem Teufel oder Dämonen aus der Hölle kommen?»

«Sicher. Das ist die Doom-Storyline. Diese Fresse hier könnte übrigens eines der Monster aus Doom sein.» Er zeigte auf das Bild. «Teil drei oder so, aber das weiß ich nicht genau. Das, was er hier hat, ist keine Schusswaffe, sondern diese Viecher haben irgendwie einen Arm so komisch waffenartig vermonstert, also, das ist quasi angewachsen.»

Winter grinste. So viel zu Glockes Meinung, es handele sich um eine Darstellung des Wladimir Preiß.

Ob es für die braunen Igel auf dem Familienbild eine ähnlich banale Erklärung gab?

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