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NACHDEM WEN UND LIU sich zurückgezogen hatten, wandte Catherine Rohn sich an Chen, der die Umstehenden mit einem entschuldigenden Schulterzucken bedachte.

»Zeit zum Geschichtenerzählen, Oberinspektor«, sagte sie trocken. Die jüngsten Entwicklungen hatten sie ziemlich überrascht, wenn auch weniger als ihre chinesischen Kollegen. Während der vergangenen Tage hatte sie mehrfach das Gefühl gehabt, daß dieser rätselhafte Oberinspektor ihr etwas vorenthielt.

»Es war ein ungewöhnliches Ermittlungsverfahren, Parteisekretär Li«, sagte Chen. »Ich sah mich gezwungen, Entscheidungen zu treffen, ohne Sie  oder meine Kollegen vorher konsultieren zu können. Ich mußte auf eigene Verantwortung handeln. Und ich habe Informationen zurückgehalten, weil ich mir ihrer Bedeutung zunächst nicht bewußt war. Wenn Sie jetzt also Dinge hören, von denen Sie nichts wußten, so haben Sie bitte Nachsicht, und lassen Sie mich alles aufklären.«

»Unter den gegebenen Umständen blieb Ihnen nichts anderes übrig. Wir alle verstehen das«, sagte Li verbindlich.

»Ja, wir alle haben Verständnis«, stimmte Catherine eilfertig zu, nahm die Befragung dann aber lieber selbst in die Hand, bevor sie zur politischen Lektion geriet. »Wann haben Sie zum ersten Mal Verdacht hinsichtlich Wens Absichten geschöpft, Oberinspektor Chen?«

»Zunächst habe ich mir keine Gedanken über ihre Motive gemacht. Ich dachte, sie ginge in die Vereinigten Staaten, weil Feng es so wollte; das war die offensichtliche Erklärung. Aber als Sie mich fragten, warum Wens Paß so lange nicht bewilligt wurde, bin ich stutzig geworden und habe nachgeforscht. Die Bearbeitung war zwar langsam, aber es gab auch Unklarheiten bezüglich des Datums. Obwohl Feng behauptete, sie habe Anfang Januar den Antrag gestellt, hat Wen bis Mitte Februar nichts unternommen.«

»Ja, darüber haben wir kurz gesprochen«, sagte Catherine.

»Durch Hauptwachtmeister Yus ausführlichen Bericht erfuhr ich dann von dem schrecklichen Leben, das sie an Fengs Seite geführt hat. Aus dem Mitschnitt der Vernehmungen erfuhr ich ferner, daß Feng sie Anfang Januar mehrfach angerufen hat und daß Wen sich einmal weigerte, ans Telefon zu kommen. Daraus schloß ich, daß Wen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bereit war, die Reise anzutreten.«

»Aber Feng sagte, sie wollte unbedingt in die Staaten nachkommen.«

»Feng hat nicht die Wahrheit gesagt. Es wäre ein zu großer Gesichtsverlust gewesen, zuzugeben, daß seine Frau sich ihm verweigerte«, sagte Chen. »Was aber hatte diesen Sinneswandel herbeigeführt? Ich habe mich daraufhin bei den Kollegen in Fujian erkundigt. Sie sagten, sie hätten keinerlei Druck auf Wen ausgeübt. Daran zweifelte ich nicht, nachdem ich sah, wie lasch sie die Ermittlungen führten. Und dann fiel mir noch etwas in Hauptwachtmeister Yus Bericht auf.«

»Was denn, Chef?« Hauptwachtmeister Yu versuchte nicht, die Verblüffung in seiner Stimme zu verbergen.

»Einige der Dorfbewohner schienen um Fengs Schwierigkeiten in den Vereinigten Staaten zu wissen. Schwierigkeiten« war das Wort, das sie gebrauchten, und da sich das auf alles beziehen kann, dachte ich zunächst, sie meinten die Schlägerei in New York, deretwegen er verhaftet wurde. Doch dann gebrauchte der Glücksspieler Zheng Shiming ein anderes Wort. Er sagte, er habe vor Wens Verschwinden von Fengs ›Handel‹ mit den Amerikanern gehört. Der Ausdruck ›Handel‹ war eindeutig. Wenn selbst die Dorfbewohner davon wußten, dann leuchtete mir nicht ein, warum diese Banditen so geduldig warteten, bis Inspektor Rohn sich auf den Weg gemacht hatte. Sie hätten Wen ja schon viel früher entführen können.«

»Und sehr viel einfacher«, bestätigte Yu. »Ja, diesen Punkt habe ich übersehen.«

»Die Banditen hatten ihre Gründe, warum sie uns im Wettlauf um Wen schlagen mußten. Aber als sich sowohl in Fujian wie in Shanghai immer wieder diese kleinen Unfälle ereigneten, wurde ich wirklich mißtrauisch. Warum war es ihnen plötzlich so wichtig? Sie schienen ihre letzten Reserven zu mobilisieren. Auch Polizeibeamte waren beteiligt. Noch mißtrauischer hat mich dann der Zwischenfall auf dem Huating-Markt letzten Sonntag gemacht.«

»Letzten Sonntag?« unterbrach Li. »Hatte ich Ihnen nicht geraten, den Tag frei zu nehmen?«

»Das taten wir ja auch«, erwiderte Catherine. »Oberinspektor Chen und ich machten einen Einkaufsbummel. Da gab es eine Razzia auf dem Straßenmarkt. Uns ist nichts passiert«, erklärte sie ausweichend, als sie das Erstaunen des Parteisekretärs bemerkte. »Haben Sie damals schon etwas gewußt, Oberinspektor Chen?«

»Nein. Reine Vermutung, ich hatte noch kein klares Bild. Um ehrlich zu sein, gibt es auch heute noch ein, zwei Dinge, die mir unklar sind.«

»Oberinspektor Chen wollte keinen falschen Alarm auslösen, Inspektor Rohn«, kam ihm Yu zu Hilfe.

»Verstehe.« Sie hielt es allerdings für unnötig, daß Yu sich schützend vor seinen Boß stellte, der durchaus sinnvollen Alarm ausgelöst hatte, und keinen falschen. »Trotzdem …«

»Diese Ermittlungen waren voller unerwarteter Wendungen, Inspektor Rohn. Ich werde versuchen, alles der Reihe nach zu erzählen. Beide hatten wir unsere Verdachtsmomente während unterschiedlicher Phasen des Verfahrens, und wir haben auch darüber gesprochen. Aber es waren Ihre Beobachtungen, die immer wieder neues Licht auf die Situation warfen.«

»Sie sind sehr diplomatisch, Oberinspektor Chen.«

»Ganz und gar nicht. Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch in der Grünen Weide? Sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, daß Wen, trotz Fengs Aufforderung bei seinem letzten Anruf, nicht versucht hat, ihn zu kontaktieren, sobald sie in Sicherheit war?«

»Ja, das hat mich beschäftigt, aber ich wußte damals ja nicht, ob sie sich tatsächlich an einem sicheren Ort befand. Es war am siebten oder achten Tag nach ihrem Verschwinden, als wir in diesem Restaurant darüber sprachen.«

»Und dann haben Sie mich im Café Deda davon überzeugt, daß Gu mehr wußte, als er uns erzählt hat. Das hat mich veranlaßt, weitere Nachforschungen anzustellen.«

»Nein, nein, diese Lorbeeren kann ich nicht beanspruchen. Sie haben doch schon im Club von Gu von Ihren Verbindungen zur Verkehrsüberwachung erzählt…« Auf einen Blick von Chen hin unterbrach sie sich. Hatte er Parteisekretär Li von der Sache mit dem Parkplatz erzählt? Und wußte der überhaupt von dem Besuch im Karaoke-Club?

»Sie haben im Umgang mit einem Mann wie Gu großes Feingefühl bewiesen, Oberinspektor Chen«, kommentierte Li. »›Eine goldene Schildkröte muß man mit einem süß duftenden Köder locken.‹«

»Danke, Parteisekretär Li«, erwiderte Chen überrascht. »Und an dem Abend nach der Peking-Oper habe ich Inspektor Rohn zum Hotel begleitet, wie Sie, Parteisekretär Li, es vorgeschlagen hatten. Auf dem Weg tranken wir noch kurz etwas beim Bund-Park, und da erwähnte ich den anderen Fall, der mir am selben Tag zugewiesen worden war – die Sache mit der Leiche im Bund-Park. Inspektor Rohn sagte, daß eine Verbindung zwischen beiden Fällen bestehen könnte. An eine solche Möglichkeit hatte ich zuvor nie gedacht. Aber noch wichtiger war ihre Bemerkung zu den Axtwunden des Opfers, die sie in Zusammenhang mit einem Mafia-Krimi brachte. Dort war ein Mord auf eine Weise begangen worden, die den Verdacht auf eine rivalisierende Organisation lenken sollte …«

»Die Axtwunden legten einen Triadenmord nahe. Es war eine Unterschrift«, warf Li ein. »Hauptwachtmeister Yu hat das von Anfang an gesagt.«

»Ja. Sie nennen das den Tod durch die Achtzehn Äxte«, bemerkte Yu. »Die höchste Form der Strafe bei den Fliegenden Äxten.«

»Stimmt. Und das genau war es, was mich stutzig machte. War diese Art der Unterschrift nicht zu offensichtlich? Deshalb brachte mich Inspektor Rohns Bemerkung auf eine andere Möglichkeit. Das Opfer im Bund-Park konnte von jemandem ermordet worden sein, der einen Mord durch die Fliegenden Äxte vortäuschen und diese in Schwierigkeiten bringen wollte. Die Fliegenden Äxte würden daraufhin versuchen, die Sache aufzuklären, und ihre Aufmerksamkeit von Wen abwenden. Außerdem wäre auch die Polizei abgelenkt. Und wer würde, einmal vorausgesetzt, daß es so war, von einer solchen Aktion profitieren? Jemand, dem noch mehr daran gelegen war, Wen zu finden.«

»Langsam beginne ich zu begreifen«, sagte Yu.

»Also gebührt Ihnen doch der Lorbeer, Inspektor Rohn. Trotz meines Mißtrauens war ich genauso verwirrt wie alle anderen. Ich war nicht in der Lage, die Teile zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Ihre Kommentare haben mir wirklich weitergeholfen.«

»Vielen Dank, Inspektor Rohn«, sagte Li. »Das ist ein wunderbares Beispiel für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Polizeikräften unserer beiden Länder. Man fühlt sich an das Tai-Chi-Symbol erinnert, yin ergänzt yang …« Hier unterbrach er sich durch ein Hüsteln und hielt sich die Hand vor den Mund.

Sie verstand. Als hochrangiger Parteikader mußte Li seine Worte mit Bedacht wählen, selbst beim Gebrauch einer so harmlosen Metapher, die jedoch im Alten China auch die Vereinigung des weiblichen mit dem männlichen Prinzip versinnbildlichte.

»An jenem Abend erhielt ich dann einen Anruf des Alten Jägers«, fuhr Chen fort. »Er berichtete, daß Gu sich nach einer vermißten Frau aus Fujian erkundigt habe. Das überraschte mich. Gu hatte uns von einem mysteriösen Besucher aus Hong Kong erzählt. Warum war Gu plötzlich an einer Frau aus Fujian interessiert? Der Abend am Bund-Park hat mich also zum ersten Mal auf die richtige Spur gebracht.«

»Der Park ist eben, gemäß der Fünf-Elemente-Theorie, ein Glücksort für Sie«, warf Catherine ein. »Kein Wunder, daß Sie dort gute Inspirationen haben, Oberinspektor Chen.«

»Das müssen Sie mir erklären«, sagte Li.

Li wußte offenbar nicht annähernd soviel über das Leben seines Oberinspektors wie sie, obwohl der Parteisekretär ihn zu seinem Nachfolger ausersehen hatte.

»Nur ein Scherz meines Vaters, Parteisekretär Li«, warf Chen dazwischen. »An diesem Abend fiel mir noch etwas anderes ein. Inspektor Rohn hatte mich nach den beiden Gedichtzeilen auf meinem Fächer gefragt. Sie stammen von Daifu. Meine Gedanken wanderten zu dem rätselhaften Tod dieses Dichters, dann wieder zurück zu der Leiche im Park. Das brachte mich auf die These, daß die Leiche als Ablenkungsmanöver dort hingelegt worden sein könnte, was ich auch im Falle von Daifu vermutet hatte.«

»Davon haben Sie mir aber nichts mitgeteilt, Oberinspektor Chen«, sagte sie.

»Nun, diese Erkenntnis stellte sich erst ein, als ich spät abends nach Hause kam. Ich suchte das Gedicht heraus, um noch einmal alle Möglichkeiten durchzugehen, die ich vor der Niederschrift erwogen hatte. Unerwartet bot sich am nächsten Tag im Moscow Suburb die Gelegenheit, einige Zeilen daraus zu zitieren«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. »Es ist keineswegs mein Lieblingsgedicht, Inspektor Rohn, aber es hat mich auf unseren Besuch des Huating-Markts poetisch eingestimmt.«

Parteisekretär Li blickte erst Chen, dann Catherine an und brach dann seinerseits in ein breites Lächeln aus. »So geht unser Oberinspektor bei seinen Ermittlungen vor – intuitiv und in überraschenden Sprüngen.«

»Was die Ereignisse auf dem Markt betrifft, so kann ich sie nicht besser beschreiben, denn als eine Verknüpfung unerwarteter Zufälle. Ich war zufällig mit Inspektor Rohn dort, dazu kamen Daifus Zeilen, ein hellgrünes Handy, der Regen, die Spuren von Goldamsels nassen Füßen, Su Dongpos Zeilen. Auf einmal fiel mir die Gedichtanthologie ein, die Wen in ihrem Haus zurückgelassen hatte. Wenn auch nur ein Glied in dieser Kette gefehlt hätte, dann säßen wir jetzt nicht hier.«

Sie fragte sich, ob seine Kollegen dieser rätselhaften Erklärung hatten folgen können. Sie war schließlich dabeigewesen, verstand aber auch nicht alles. Das hellgrüne Handy zum Beispiel. Das hatte er nie zuvor erwähnt.

Yu mußte sich sichtlich zurückhalten, um nicht mit Fragen herauszuplatzen, Qian dagegen verhielt sich die ganze Zeit respektvoll zurückhaltend. Li seinerseits schien bestrebt, die Diskussion mit seinen politischen Platitüden zu bereichern.

»Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Oberinspektor Chen«, betonte er, auch wenn er vermutlich nach wie vor im dunklen tappte.

»Ohne die Unterstützung von Inspektor Rohn und die wertvolle Mitarbeit von Hauptwachtmeister Yu wäre ich nicht weitergekommen«, sagte Chen aufrichtig. »In dem Gespräch mit Zheng hat Hauptwachtmeister Yu zum Beispiel auf einer Präzisierung der Formulierung ›Sie hat sich’s anders überlegt‹ bestanden. Was sollte das heißen – ›Sie hat sich’s anders überlegte? Diese Frage hatte ich im Hinterkopf, als ich am folgenden Tag selbst mit Wen sprach.«

»Sie haben viele Fragen für sich behalten, Oberinspektor Chen«, kommentierte Catherine.

»Ich war mir nicht sicher, ob sie zu etwas führen würden, Inspektor Rohn. Nach unserem Besuch bei Wen fragten Sie mich, warum ich darauf bestanden hätte, mit Wen und Liu zu sprechen, anstatt gleich die örtliche Polizei einzuschalten.

Erstens hatte Wen schon genug durchgemacht. Ich wollte sie nicht unnötig unter Druck setzen. Aber es gab noch einen anderen Grund. Ich versprach mir von dem Gespräch mit den beiden Antworten auf einige meiner Fragen.«

»Und, haben Sie die bekommen?«

»Nicht von Liu, von ihm erfuhr ich nur, daß Wen ihm nichts erzählt hatte. Dann sprachen Inspektor Rohn und ich mit Wen. Was sie uns über ihr Leben in Fujian erzählte, entsprach der Wahrheit, aber sie hat kein einziges Wort darüber verloren, daß die Triade an sie herangetreten war. Auch hat sie mir keine schlüssige Antwort auf meine Frage nach der Verzögerung ihres Paßantrags gegeben. Was mir jedoch am verdächtigsten vorkam, war ihr Wunsch, nach Fujian zurückzukehren.«

»Was war daran so verdächtig?« fragte Li. »Eine Mutter, die ein letztes Mal das Grab ihres Sohnes besuchen will.«

»Hat sie das Grab denn besucht, als wir dort waren? Nein. Sie hat es nicht einmal erwähnt. Das erste, was sie im Sinn hatte, als sie zu Hause ankam, war ein kleines Päckchen mit Chemikalien. Mir gegenüber behauptete sie, es sei ein Andenken. Das mochte ja noch einleuchten, aber die Tatsache, daß sie das erklären zu müssen glaubte, leuchtete mir nicht ein. Schließlich waren wir in ihrem eigenen Haus. Sie hätte dort alles ohne Begründung an sich nehmen können. Die ganze Fahrt über hatte sie geschwiegen, und nun lieferte sie auf einmal ungefragt Erklärungen.«

»Das ist wahr«, sagte Catherine. »Wen hat während der ganzen Reise kaum gesprochen.«

»Nach dem Kampf im Dorf hätte sie das Grab besuchen können, aber auch da hat sie es nicht getan. Es schien ihr nicht länger wichtig zu sein. Da hörte ich zufällig, wie ein örtlicher Polizist einen der Banditen wegen seines Mandarin anherrschte. Das war sonderbar. Aber noch bevor ich dem nachgehen konnte, lenkte Dienststellenleiter Hongs Bitte um die Erklärung eines Sprichworts mich ab.«

»Das chinesische Sprichwort, wonach Gerechtigkeit schließlich das Übel besiegt«, erläuterte Catherine.

»Genau. Deshalb habe ich erst nachdem wir auf dem Flughafen die Ansagen in Mandarin und im Fujian-Dialekt hörten bemerkt, was ich übersehen hatte. Die Fliegenden Äxte sind eine in Fujian ansässige Triade. Wie kam es also, daß ein verwundeter Gangster Mandarin sprach? Ich konnte dem damals nicht weiter nachgehen, weil meine Hauptaufgabe darin bestand, Wen und Sie heil nach Shanghai zurückzubringen.«

»Das war die richtige Entscheidung, Oberinspektor Chen.« Li nickte bestätigend.

»Sobald ich in Shanghai war, setzte ich mich mit dem Alten Jäger in Verbindung, der inzwischen Informationen über Gu zusammengetragen hatte. Außerdem sprach ich mit Meiling und erfuhr, daß der Parkplatz, gemäß ihren Nachforschungen, legalerweise dem Club zugesprochen werden konnte. Danach suchte ich Gu auf. Zunächst wollte er nicht mit der Sprache herausrücken. Erst als ich meine Trümpfe auf den Tisch legte, wurde er kooperativ.«

Catherine sah verstohlen zu Li hinüber und fragte sich, ob Chen das wohl mit seinem Boß abgesprochen hatte.

»Ja, Sie mußten schließlich die Pforte zum Berg öffnen«, sagte Li.

»Laut Gu war die Leiche im Bund-Park ein Verbindungsmann der Fliegenden Äxte namens Ai. Dieser Ai kam nach Shanghai, um Wen zu suchen. Er machte einen förmlichen Besuch beim Ältesten Bruder der Blauen, der sich dagegen verwahrte, durch eine großangelegte Suchaktion schlafende Hunde in der Stadt zu wecken. Solange Wen nicht der Polizei in die Hände fiel, sah der Älteste Bruder keine Gefahr für Jia Xinzhi. Also blieb Ai nichts anderes übrig, als ihn über den ursprünglichen Plan der Fliegenden Äxte zu informieren, daß nämlich Wen ihren Mann vergiften sollte, sobald sie wieder mit ihm zusammen war. Die Triade aus Fujian hielt es für das beste, sich einer stinkenden Ratte wie Feng auf diese Weise zu entledigen. Aber der Grüne Bambus bekam Wind davon. Diese Triade wiederum brauchte Feng lebend; sie wollten Jia aus dem Weg schaffen. Also töteten sie Ai.«

»Woher wußte Gu das alles?« fragte Yu.

»Der Älteste Bruder der Blauen war erzürnt darüber, daß Ai ohne seine Zustimmung diese Machtkämpfe aus Fujian nach Shanghai getragen hatte. Aber schlimmer noch war, daß der Grüne Bambus Ais Leiche in den Bund-Park legte. Auf diese Weise erfuhr Gu vom Ältesten Bruder nicht nur über den Grünen Bambus, sondern auch über die Fliegenden Äxte. Sobald ich diese Informationen von Gu bekommen hatte, beschloß ich, nach Suzhou zu fahren. Wen war entschlossen, Feng zu töten, wenn sie schon zu ihm in die Staaten mußte. Ich bezweifelte, ob ich sie davon würde abbringen können. Wenn jemand das konnte, dann Liu. Er war auch sofort bereit, mich zu begleiten. Das war heute bei Tagesanbruch.«

»Sie haben richtig entschieden, Oberinspektor Chen«, sagte Li im Ton offizieller Billigung. »Wie eines unserer alten Sprichwörter sagt: ›Ein General, der an der Grenze kämpft, kann nicht ständig auf den Kaiser hören.‹«

In dem Moment klingelte im Besprechungsraum ein Telefon. Qian holte verschämt sein Handy hervor. Den Apparat mit der Hand abschirmend, sagte er hastig: »Ich rufe später zurück.«

»Ein hellgrünes Handy, die Farbe von Bambus. Eine echte Rarität«, sagte Chen mit Nachdruck. »Bisher ist mir nur ein einziges Mal eines in dieser Farbe aufgefallen – und zwar auf dem Huating-Markt.«

»Das ist ein Zufall.« Qian wirkte verunsichert.

»Es könnte aber all die rätselhaften Zwischenfälle erklären«, fuhr Chen fort.

Im Verlauf der Ermittlungen hatte es viele sonderbare Zufälle gegeben, überlegte Catherine, wußte aber nicht, worauf er hinauswollte.

»Man weiß nie, wozu Menschen fähig sind …« Chen legte eine vielsagende Pause ein und blickte Qian direkt in die Augen.

»In der Tat, man weiß nie, wozu Menschen fähig sind«, mischte Li sich ein und schüttelte betrübt den Kopf. »Wer hätte für möglich gehalten, daß Wen in einen solchen Mordplan verwickelt ist.«

»Da möchte ich, im Lichte von Oberinspektor Chens neuen Enthüllungen, doch etwas zu Wens Verteidigung vorbringen.« Catherine sprach mit einer Heftigkeit, die sie selbst erstaunte. »Die Fliegenden Äxte haben ihr keine Wahl gelassen. Daraufhin hat sie einen Paß beantragt, aber ich bin nicht sicher, daß sie diesen Plan auch ausgeführt hätte. Nach ihrer Ankunft in den Staaten hätte sie vielleicht bei der amerikanischen Polizei um Unterstützung nachgesucht.«

»Das glaube ich auch«, sagte Yu kopfnickend.

»Aber als Feng sie anrief und ihr sagte, sie solle untertauchen, da hat Panik sie erfaßt. Wer waren diese ›Leute‹? Waren es Fliegende Äxte? Wenn ja, hatte Feng inzwischen von dem Plan erfahren? Sie floh, aber nach zehn Tagen an Lius Seite war sie auferstanden – als Frau meine ich.«

»Auferstanden! Das ist genau der Ausdruck, den Liu verwendet hat«, sagte Chen.

»Nach all den verlorenen Jahren schöpfte sie plötzlich wieder Hoffnung«, fuhr Catherine fort. »Sie glich nicht mehr der verhärmten Frau auf dem Paßfoto. Sie war wieder lebendig geworden. Ich habe sie in Suzhou kaum erkannt. Als ihr klar wurde, daß sie Liu würde verlassen müssen, war ein Leben mit Feng für sie nicht mehr denkbar. Die Erkenntnis, daß Feng ihr Leben ruiniert hatte, erfüllte sie mit Haß und dem Wunsch nach Rache. Deshalb bestand sie darauf, noch einmal nach Changle zu fahren. Sie wollte das Gift holen, das sie dort zurückgelassen hatte. Diesmal war sie entschlossen.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Yu. »Es beweist aber auch, daß sie zunächst nicht vorgehabt hatte, den Plan der Triade auszuführen. Sie hat das Gift ja nicht mitgenommen, als sie am fünften April das Dorf verließ. Vielen Dank, Inspektor Rohn.«

»Ja, Inspektor Rohn hat diesen Teil bestens zusammengefaßt. Und den Rest«, sagte Chen und nahm einen Schluck Wasser, »haben Sie ja eben von Wen gehört.«

»Hervorragende Arbeit, Oberinspektor Chen!« Li klatschte in die Hände. »Der amerikanische Konsul hat bereits die Stadtverwaltung angerufen und seinen Dank ausgesprochen. Dabei weiß er noch gar nicht, was für hervorragende Arbeit Sie geleistet haben.«

»Ohne Ihre tatkräftige Unterstützung während der gesamten Ermittlungen hätte ich das nie geschafft, Parteisekretär Li.«

Sie sah, daß Chen daran gelegen war, die Lorbeeren mit Li zu teilen. Nach seinem eher unorthodoxen Vorgehen in diesem Fall hatte er allen Grund, diplomatisch zu sein.

»Wenn wir nicht schon am Flughafen wären, müßten wir diesen Erfolg mit einem großen Bankett feiern«, sagte Li mit Wärme in der Stimme. »Nun hat zum Glück alles ein gutes Ende gefunden.«

»Ich werde in meinem Bericht an die Regierung die großartige Zusammenarbeit mit dem Shanghaier Polizeipräsidium hervorheben, Parteisekretär Li«, sagte sie, bevor sie sich an Chen wandte. »In der verbleibenden Zeit würde ich dem Oberinspektor gerne noch ein paar Fragen stellen. Bei einer Tasse Kaffee. Ich habe gestern abend lange über meiner Zusammenfassung gebrütet, und Sie sind sicher erschöpft von der Reise.«

»Sie sagen es«, entgegnete Chen.

»Ja, Sie beide gehen ins Flughafencafe. Das ist das mindeste, was das Präsidium tun kann«, sagte Li mit seinem verbindlichsten Lächeln. »Wir haben mittlerweile ein Auge auf Wen.«