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»HAUPTWACHTMEISTER YU!« Chen packte Yus Hand.
»Schön, Sie zu sehen, Chef.« Mehr brachte Yu vor lauter Aufregung nicht heraus.
Catherine ergriff Yus andere Hand. Ihr Gesicht war verschmiert, die Bluse an der Schulter zerrissen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Hauptwachtmeister Yu.«
»Ganz meinerseits, Inspektor Rohn.«
»Ich dachte, Sie seien längst auf dem Rückweg nach Shanghai«, sagte Chen.
»Mein Flugzeug hatte Verspätung. Als ich vor dem Abflug ein letztes Mal meine Mailbox abhörte, bekam ich die Botschaft von Inspektor Rohn, daß niemand Sie am Bahnhof abgeholt hat.«
»Wann haben Sie denn diesen Anruf gemacht, Inspektor Rohn?«
»Während Sie das Mietauto besorgt haben.«
»Es kam mir merkwürdig vor, daß die Kollegen nicht am Bahnhof waren«, sagte Yu. »Je mehr ich darüber nachdachte, desto verdächtiger wurde mir die Sache. Nach all diesen Unfällen, Sie wissen schon …«
»Ja, ich weiß.« Hier mußte Chen den Hauptwachtmeister unterbrechen. Das Ganze war mehr als verdächtig, das wußte Chen. Und Inspektor Rohn wußte es auch. Die Tatsache, daß sie bei ihrem Anruf die Abwesenheit der hiesigen Polizei erwähnt hatte, sprach für sich. Dennoch wollte er die Angelegenheit nicht in ihrer Gegenwart erörtern.
»Daraufhin habe ich mich an die Flughafenpolizei gewandt. Sie haben mir einen Jeep zur Verfügung gestellt. Einige der Kollegen haben mich begleitet. Ich hatte das Gefühl, daß ich sie brauchen würde.«
»Da hat Ihr Gefühl Sie nicht getrogen.«
Während sie redeten, hörte Chen weitere Fahrzeuge und Personen ankommen. Als er aufblickte, sah er zu seiner Überraschung Dienststellenleiter Hong vom Präsidium in Fuzhou an der Spitze einer Gruppe bewaffneter Beamter auf sie zukommen.
»Es tut mir schrecklich leid, Oberinspektor Chen«, sagte Hong entschuldigend. »Wir haben Sie am Bahnhof verpaßt. Mein Assistent hatte die falsche Ankunftszeit notiert. Auf dem Rückweg zum Präsidium erfuhren wir dann von der Schießerei und sind sofort losgefahren.«
»Keine Sorge, Dienststellenleiter Hong. Es ist alles gelaufen.«
Das verspätete Eintreffen von Hong und seinen Leuten setzte nur noch eine Fußnote unter ein bereits abgeschlossenes Kapitel.
War es Chen möglich, die Situation hier und jetzt zu klären? Die Antwort lautete nein. Als Außenseiter konnte er von Glück reden, daß es nicht schlimmer gekommen war. Sie hatten ihre Mission erfüllt, niemand war zu Schaden gekommen, und eine Handvoll Verbrecher hatte ihre gerechte Strafe erhalten. Also sagte er bloß: »Die Fliegenden Äxte waren jedenfalls gut informiert. Kaum hatten wir das Dorf betreten, da griffen sie uns an.«
»Ein Dorfbewohner muß Wen erkannt und die Bande verständigt haben.«
»Dann bekamen sie die Information offenbar noch vor der örtlichen Polizei.« Chen mußte sich beherrschen, um nicht sarkastisch zu werden.
»Jetzt sehen Sie, Oberinspektor, wie schwer uns die Arbeit hier gemacht wird«, sagte Hong und wandte sich dann kopfschüttelnd an Inspektor Rohn. »Es tut mir leid, Sie unter solchen Umständen zu treffen. Ich muß mich im Namen der hiesigen Kollegen bei Ihnen entschuldigen.«
»Bei mir müssen Sie sich nicht entschuldigen, Dienststellenleiter Hong«, entgegnete Inspektor Rohn. »Ich danke Ihnen im Namen des U.S. Marshals Service für Ihre Kooperation.«
Weitere Beamte kamen und räumten das Schlachtfeld. Einige der Fliegenden Äxte lagen verwundet am Boden. Mindestens einer von ihnen war bereits tot. Chen wollte gerade einen der Verletzten, der einem lokalen Beamten etwas zuraunte, befragen, als Hong ihn bat: »Können Sie ein chinesisches Sprichwort für mich erklären, Oberinspektor Chen? Mogao yichi, daogao yizhang.«
»Wörtlich übersetzt heißt das: ›Der Teufel mißt einen Fuß, der Weg, oder die Gerechtigkeit, dagegen mißt hundert Fuß.‹ Anders gesagt, wie mächtig das Böse auch immer sein mag, am Ende siegt die Gerechtigkeit. Aber das ursprüngliche Sprichwort lautete genau anders herum. Offenbar war der chinesische Weise des Altertums eher pessimistisch, was die Macht des Bösen angeht.«
»Die chinesische Regierung tut alles«, erklärte Hong großspurig, »um den kriminellen Elementen das Handwerk zu legen.«
Chen nickte bloß, während er aus dem Augenwinkel beobachtete, wie ein Polizist mutwillig auf einen verwundet am Boden liegenden Verbrecher eintrat und dabei schimpfte: »Hör mit deinem verdammten Mandarin auf.«
Der Verbrecher stieß einen markerschütternden Schrei aus, der wie eine fliegende Axt in die Unterhaltung schnitt.
»Ich muß mich entschuldigen, Inspektor Rohn«, sagte Hong.
»Diese Banditen sind ein schändlicher Abschaum der Gesellschaft.«
»Jeder Tag, den ich hier verbrachte, war voller Entschuldigungen«, bemerkte Hauptwachtmeister Yu verbittert und verschränkte die Arme vor der Brust. »Meine ganz spezielle Fujian-Erfahrung!«
Doch Oberinspektor Chen war klug genug, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Vordergründig ließ sich alles durch Zufälle erklären. Es hatte also keinen Sinn, Inspektor Rohn und Wen noch länger warten zu lassen.
»Der hiesigen Polizei sind die Hände gebunden«, sagte Hong und blickte Chen direkt in die Augen. »Das wissen Sie doch genauso gut wie ich, Oberinspektor Chen.«
Sollte das ein Hinweis auf übergeordnete politische Interessen sein?
Die Zweifel, die Chen schon am Anfang der Ermittlungen gehegt hatte, regten sich erneut. Wens Verschwinden war zwar nicht von oben veranlaßt worden, doch war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob den Behörden wirklich daran gelegen war, sie an die Amerikaner auszuliefern. Was Chen nun zu tun übrigblieb, glich wohl eher einem traditionellen Schattenspiel mit der entsprechend lebhaften Geräuschkulisse und Dramatik, aber wenig Inhalt. Doch in seinem Bestreben, ein vorbildlicher chinesischer Oberinspektor zu sein, war er längst hinter der Bühne hervorgetreten.
Eventuell lag die Schießerei im Dorf tatsächlich außerhalb des Machtbereichs der örtlichen Polizei, wie ihm Dienststellenleiter Hong zu verstehen gegeben hatte.
Vielleicht waren die Anordnungen »auf höchster Ebene« getroffen worden.
Doch das wollte er lieber nicht glauben.
Die Wahrheit würde er vermutlich nie erfahren. Am besten gab er sich mit der Rolle eines dieser hirnlosen chinesischen Bullen aus den Hollywood-Filmen zufrieden und vermittelte auch Inspektor Rohn den Eindruck, er sei ein solcher.
Er konnte ihr seinen Verdacht nicht anvertrauen, denn sonst würde ein weiterer Bericht der Inneren Sicherheit auf Parteisekretär Lis Schreibtisch landen, noch bevor er selbst in Shanghai eingetroffen wäre.
»Der Fall ist abgeschlossen«, erklärte Hong mit eilfertigem Lächeln; er schien nur allzu bestrebt, das Thema zu wechseln. »Sie haben Wen gefunden. Alles ist gut. Ein Grund zum Feiern. Nur die beste Fujian-Küche, ein Bankett mit hundert Fischen aus dem Südchinesischen Meer.«
»Nein danke, Dienststellenleiter Hong«, entgegnete Chen. »Aber ich muß Sie um einen Gefallen bitten.«
»Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, Oberinspektor Chen.«
»Wir müssen unverzüglich nach Shanghai zurück. Die Zeit wird knapp.«
»Kein Problem. Wir können direkt zum Flughafen fahren. Nach Shanghai gehen mehrere Flüge pro Tag. Sie können den nächsten nehmen. Ich bin sicher, daß noch Plätze frei sein werden.«
Hong und seine Leute fuhren im Jeep voraus. Yu folgte mit Wen in dem Wagen, den er sich am Flughafen besorgt hatte. Chen beschloß die Kolonne mit Catherine im Dazhong.
Die Tüte mit den restlichen Lychee lag noch auf dem Sitz, doch die Früchte hatten ihre Frische verloren. Einige wirkten mehr schwärzlich als rot. Oder hatte sich weniger die Farbe der Lychee als vielmehr Chens Stimmung geändert?
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Was denn?«
»Ich hätte Wens Wunsch nicht unterstützen sollen.«
»Ich habe mich ja auch nicht dagegen ausgesprochen«, sagte er. »Ich muß mich ebenfalls entschuldigen, Inspektor Rohn.«
»Und wofür?«
»Für alles.«
»Wie konnte die Bande uns so schnell aufspüren?«
»Das ist eine gute Frage.« Mehr sagte er nicht. Es war eine Frage, die Dienststellenleiter Hong zu beantworten hatte.
»Sie haben von Suzhou aus das Präsidium in Fuzhou angerufen«, sagte sie ruhig. Der entsprechende Ausdruck im Tai Chi lautete: Es genügt, den Punkt zu berühren. Sie brauchte nicht tiefer zu bohren.
»Das war mein Fehler. Aber Wen habe ich dabei nicht erwähnt.« Er war verwirrt. Nur die Polizei in Suzhou hatte gewußt, daß Wen bei ihnen war. Dennoch fuhr er fort: »Vielleicht hat jemand im Dorf die Banditen verständigt, nachdem wir dort eintrafen. Das ist zumindest Hongs Theorie.«
»Vielleicht.«
»Ich kann die Verhältnisse hier schlecht einschätzen.« Er ertappte sich dabei, daß er ähnlich ausweichend mit ihr redete wie Hong mit ihm. Doch was hätte er sagen sollen? »Vielleicht hat die Bande auf Wen gewartet; so wie der alte Bauer, der darauf wartete, daß ein Kaninchen gegen seinen Baum rannte.«
»Alte Bauern hin oder her, die Fliegenden Äxte waren jedenfalls zur Stelle, die Polizei nicht.«
»Es gibt da noch ein Sprichwort: ›Auch der mächtigste Drache kann gegen einheimische Schlangen nichts ausrichten^«
»Eines möchte ich doch wissen. Warum waren die einheimischen Schlangen nur mit Äxten bewaffnet, Oberinspektor Chen?«
»Vermutlich wurden sie überraschend alarmiert und nahmen, was gerade an Waffen zur Hand war.«
»Überraschend? Das glaube ich nicht. Dazu waren es zu viele, und außerdem trugen sie Masken.«
»Da haben Sie recht«, sagte er. Und ihre Bemerkung provozierte gleich die nächste Frage. Warum hatten sie es für nötig gehalten, sich zu maskieren? Ihre Äxte verrieten ohnehin, wer sie waren. Wie bei der Leiche im Bund-Park handelte es sich um ein signiertes Verbrechen.
»Jetzt, wo unsere Mission beendet ist, brauchen uns solche Fragen nicht mehr zu kümmern«, entgegnete er.
»Und auch nicht die Antworten darauf.« Sie spürte, daß er nicht bereit war, weiter darüber zu reden.
Ihr Kommentar klang wie eine sarkastische Replik aufsein Gedicht in den Gärten von Suzhou.
Er fühlte ihre unmittelbare Nähe, und doch war sie so weit entfernt von ihm.
Chen schaltete das Autoradio an. Der Lokalsender sendete im Fujian-Dialekt, von dem er nicht ein Wort verstand.
Endlich kam der Flughafen in Sicht.
Als sie sich der Halle für Inlandsflüge näherten, sahen sie einen Straßenhändler in taoistischer Robe, der seine Waren auf einem am Boden ausgebreiteten Tuch feilbot. Er hatte ein vielfältiges Angebot an getrockneten Kräutern sowie einige aufgeschlagene Bücher, Broschüren und Abbildungen vor sich liegen. Sie alle erläuterten die Heilwirkung der heimischen Kräuter. Der begnadete Kleinunternehmer trug einen weißen Bart, der perfekt zum Bild eines taoistischen Einsiedlers paßte, der in wolkenverhangenen Bergen nach Kräutern sucht, sich dem Trubel der Welt durch Meditation entzieht und ein langes Leben im Einklang mit der Natur genießt.
Er richtete ein paar Worte an sie, doch weder Catherine noch Chen verstanden ihn. Als er ihre fragenden Blicke bemerkte, sprach er sie auf mandarin an.
»Hier, sehen Sie. Fuling-Pilze, eine Spezialität aus Fujian, die Ihrem Körper Kraft und Energie verleiht«, erklärte er.
Der Taoist erinnerte Chen an den Wahrsager in dem Tempel in Suzhou. Ironischerweise hatte sich dessen kryptisches Gedicht doch noch bewahrheitet.
Als sie die Halle betraten, wurde gerade der nächste Flug angesagt, erst auf mandarin, dann im Fujian-Dialekt und schließlich auf englisch.
Da kam Chen eine Erkenntnis.
Etwas lief hier grundlegend falsch.
»Verdammt!« stieß er hervor und sah auf seine Uhr. Es war zu spät.
»Was ist, Oberinspektor Chen?«
»Nichts«, sagte er.