32
CHEN WAR NOCH IMMER in düsterer Stimmung, und diese schien ansteckend zu sein. Auch Catherine wirkte bedrückt, als sie die qingzeitliche Landschaft des Yi-Gartens betraten.
Sie spürte, daß ihn etwas beschäftigte, und auch sie quälten unbeantwortete Fragen. Immerhin hatten sie Wen gefunden.
Im Augenblick wollte sie diese Fragen lieber nicht stellen. Es gab auch noch einen anderen Grund für ihr Unbehagen, als sie neben ihm durch den Garten spazierte. In den vergangenen Tagen hatte er die Führungsrolle übernommen, hatte zu allem etwas zu sagen gewußt, egal ob es um Modernismus, Konfuzianismus oder Kommunismus ging. Am heutigen Nachmittag aber hatten sie die Rollen getauscht; sie hatte die Initiative ergriffen, und nun fragte sie sich, ob er ihr das übelnahm.
Im Garten war es ruhig; außer ihnen schien niemand unterwegs zu sein. Der Klang ihrer Schritte war das einzige Geräusch.
»So ein schöner Garten«, sagte sie. »Aber er ist völlig verwaist.«
»Das liegt an der Tageszeit.«
Dämmerung senkte sich auf die Gartenwege; die Sonne hing wie ein Stempelabdruck über den geschwungenen Dachtraufen der ehrwürdigen Steinpavillons. Sie gingen durch ein kürbisförmiges Tor zu einer Bambusbrücke, von wo aus sie die Goldkarpfen im ruhigen Wasser eines Teiches betrachteten.
»Ihr Kopf ist ganz woanders, Oberinspektor Chen.«
»Nein, ich genieße jede Minute hier – in Ihrer Gegenwart.«
»Sie müssen mir nicht schmeicheln.«
»Sie sind kein Fisch«, entgegnete er. »Woher wollen Sie also wissen, was ein Fisch fühlt?«
Sie gelangten zu einer weiteren kleinen Brücke und sahen am anderen Ufer ein Teehaus mit zinnoberroten Säulen und dem großen schwarzen Schriftzeichen für Tee, das auf ein gelbes Seidenbanner gestickt war. Vor dem Teehaus war ein Steingarten aus seltsam geformten Felsbrocken arrangiert.
»Sollen wir reingehen?« schlug sie vor.
Nach dem ursprünglichen Plan des Architekten war das Teehaus wohl der offizielle Empfangssaal des Anwesens, ein eleganter, großzügiger Raum, der dennoch düster wirkte. Spärliches Licht drang durch das farbige Glas der Fenster. Unter der Decke hing eine horizontal angebrachte Holztafel mit den Schriftzeichen: Rückkehr des Frühlings. Neben einem Lackparavant in der Ecke stand eine alte Frau hinter einer Glastheke. Sie reichte ihnen eine bambusummantelte Thermosflasche, zwei Schalen mit grünen Teeblättern, einen Teller in Soja gedämpften Tofu und eine Schachtel mit kleinen grünen Kuchen. »Wenn Sie mehr Wasser brauchen, können Sie hier nachfüllen.«
Sie waren die einzigen Gäste, und die alte Frau kümmerte sich nicht weiter um sie. Nachdem sie an einem der Mahagonitische Platz genommen hatten, verschwand sie hinter dem Wandschirm.
Der Tee war ausgezeichnet. Vielleicht lag es an den Teeblättern, vielleicht auch am Wasser und der friedvollen Atmosphäre. Auch der in aromatischer brauner Soße gegarte Tofu schmeckte gut. Lieber waren ihr allerdings die grünen Kuchen; sie hatten einen süßen, ungewöhnlichen Geschmack, den sie nie zuvor gekostet hatte.
»Das ist das perfekte Abendessen für mich«, sagte sie, ein winziges Teeblatt zwischen den Lippen.
»Für mich auch«, entgegnete er und goß Wasser in ihre Schale nach. »In der Kunst des Teetrinkens gilt die erste Schale nicht als die beste. Das optimale Aroma entfaltet sich erst im zweiten und dritten Aufguß. Deshalb bekommt man in diesen Teehäusern immer eine Thermoskanne, damit man in Ruhe den Tee genießen kann, während man die Gartenlandschaft betrachtet.«
»Ja, der Blick ist überwältigend.«
»Der Hui-Kaiser aus der Song-Dynastie liebte seltsam geformte Felsen. Deshalb ordnete er eine landesweite Suche nach solchen Steinen an – huashigang. Aber dann wurde er von den Jin-Invasoren gefangengenommen, noch bevor die Steine in die Hauptstadt gebracht werden konnten. Einige davon sind angeblich hier in Suzhou geblieben«, erzählte Chen. »Schauen Sie sich den da drüben an. Man nennt ihn ›Himmelspforte‹.«
»Wirklich! Da kann ich keine Ähnlichkeit entdecken.« Dieser Name schien ihr nicht die passende Bezeichnung für so einen kantigen, spitz aufragenden Stein, der eher einer Bambussprosse im Frühling glich. Es ließ sie keinesfalls an ein prächtiges Himmelstor denken.
»Sie müssen den Stein aus der richtigen Perspektive betrachten«, sagte er. »Er kann allem möglichen ähneln – einem im Wind schaukelnden Bambus ebenso wie einem im Schnee angelnden Alten, einem Hund, der den Mond anbellt, oder einer Frau, die auf die Rückkehr ihres Liebhabers wartet. Es kommt nur auf den Blickwinkel an.«
»Ja, es ist eine Frage des Blickwinkels«, sagte sie, obwohl sie keines dieser Bilder in dem Stein erkennen konnte. Aber sie war froh, daß er wieder die Rolle des Fremdenführers übernommen hatte, auch wenn ihr dadurch die unliebsame Rolle der Touristin zufiel.
Der Anblick des Felsens hatte sie wieder in die Realität zurückgeholt. Trotz eines Sinologiestudiums würde ein amerikanischer Marshal nie dasselbe sehen wie sein chinesischer Kollege. Das war die ernüchternde Erkenntnis, die sie zu akzeptieren hatte. »Ich muß Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Oberinspektor Chen.«
»Nur zu, Inspektor Rohn.«
»Warum haben Sie das weitere nicht den Kollegen überlassen, nachdem Sie von Liu aus die örtliche Dienststelle verständigt hatten? Man hätte Liu zur Kooperation zwingen können.«
»Das hätte man, aber diese Vorstellung behagte mir nicht. Schließlich hat Liu Wen nicht gegen ihren Willen festgehalten«, erwiderte Chen. »Und außerdem war da eine Reihe unbeantworteter Fragen, die ich noch mit den beiden klären wollte.«
»Haben Sie Ihre Antworten erhalten?«
»Einige zumindest«, sagte Chen und spießte einen Tofu-Würfel auf einen Zahnstocher. »Lius Reaktion war nicht vorauszusehen. Er ist ein hoffnungsloser Romantiker. Bertrand Russell sagt, romantische Leidenschaft erreicht ihren Höhepunkt, wenn Liebende gegen den Rest der Welt kämpfen.«
»Da kennen Sie sich offenbar gut aus, Oberinspektor Chen. Was wäre passiert, wenn Sie die beiden nicht hätten überreden können?«
»Als Polizist hätte ich dann einen objektiven Bericht an meine Dienststelle schreiben müssen.«
»Und die hätte sie zur Kooperation gezwungen, stimmt’s?«
»Ja. Woran Sie sehen, daß mein Verhalten im Grunde lächerlich war.«
»Nun, es ist Ihnen aber gelungen, sie zu überzeugen. Wen ist jetzt bereit, das Land zu verlassen«, sagte Catherine. »Können Sie mir noch mehr über die Beziehung zwischen Liu und Wen erzählen? Ich blicke da immer noch nicht ganz durch. Vielleicht haben Sie Liu ja Ihr Stillschweigen zugesichert, aber erzählen Sie mir soviel Sie verantworten können.«
Sie nippte an ihrer Teeschale, während er begann, war jedoch bald so fasziniert, daß der Tee kalt wurde. Er umriß die entscheidenden Fakten und ergänzte Einzelheiten aus Yus Befragung, die vor allem Wens elendes Leben mit Feng betrafen.
Catherine waren einige dieser Informationen bereits bekannt, aber nun fügten sie sich zu einem schlüssigen Bild zusammen. Nachdem er geendet hatte, starrte sie mehrere Minuten lang schweigend in ihre Teeschale. Als sie den Blick wieder hob, erschien ihr die Halle noch düsterer als zuvor. Jetzt wußte sie, warum er so deprimiert gewesen war.
»Nur noch eine Frage, Oberinspektor Chen«, sagte sie. »Die Verbindung zwischen der Polizei in Fujian und den Fliegenden Äxten: Ist das wirklich wahr?«
»Es ist zumindest sehr wahrscheinlich. Ich mußte ihr das sagen«, sagte Chen ausweichend. »Ich würde sie höchstens eine Woche lang schützen können, nicht länger. Sie hat keine andere Wahl, als in die Staaten zu gehen.«
»Das hätten Sie mir früher sagen sollen.«
»Sie verstehen wohl, daß es einem chinesischen Beamten nicht leichtfällt, so etwas zuzugeben.«
Sie ergriff seine Hand.
Der Moment der Stille wurde von der alten Frau unterbrochen, die hinter dem Wandschirm Kürbiskerne knabberte.
»Gehen wir hinaus«, sagte Chen.
Sie nahmen ihre Teeschalen und den Kuchen mit nach draußen. Über die Brücke gelangten sie in einen Pavillon mit roten Säulen und einem Dach aus gelbglasierten Ziegeln. Zwischen den Säulen verlief ein Holzgeländer mit einer umlaufenden Marmorbank. Sie stellten die Thermosflasche auf den Boden und arrangierten die Kuchen und Teeschalen zwischen sich auf der Bank. Kleine Vögel tschilpten in der Grotte hinter ihnen.
»Die Suzhouer Gartenlandschaften wurden geschaffen«, erklärte er, »um poetische Gefühle in den Menschen zu wecken.«
Obgleich sie sich alles andere als poetisch fühlte, genoß sie den Augenblick. Irgendwann in naher Zukunft würde sie an diese frühabendliche Stimmung in Suzhou als an etwas Besonderes zurückdenken. Sie lehnte sich seitlich an eine Säule und nahm plötzlich eine veränderte Atmosphäre wahr, so als hätte ein erneuter Rollenwechsel zwischen ihnen stattgefunden. Chen benahm sich wieder so, wie sie ihn kannte, und sie selbst wurde allmählich sentimental.
Was wohl Wen und Liu in diesem Moment taten?
»Wen und Liu müssen sich nun bald voneinander verabschieden«, sagte sie nachdenklich.
»Vielleicht reist Liu ja eines Tages in die Staaten…«
»Aber er wird sie nicht finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Das läßt unser Programm nicht zu.«
»Oder sie kommt eines Tages zurück, auf Besuch vielleicht …« Doch dann unterbrach er sich. »Nein, das wäre zu gefährlich.«
»Unmöglich.«
»Schwer ist es, sich zu treffen, schwerer noch, zu scheiden. / Der Ostwind weht matt, die Blumen welken …«, murmelte er. »Entschuldigung, ich zitiere schon wieder Lyrik.«
»Was ist daran verkehrt, Oberinspektor Chen?«
»Es ist sentimental.«
»Dann haben Sie sich in einen Einsiedlerkrebs verwandelt, der sich in seine rationale Schale zurückzieht.«
Sofort merkte sie, daß sie zu weit gegangen war. Warum war sie damit herausgeplatzt? War es die Irritation über den Ausgang des Falls, über die Unmöglichkeit, Wen wirklich helfen zu können? Oder war es die unbewußte Parallele, die ihr plötzlich aufgegangen war? Bald würde nämlich auch sie China verlassen.
Er sagte nichts.
Sie bückte sich, um ihren schmerzenden Knöchel zu massieren.
»Hier, nehmen Sie«, sagte er und bot ihr das letzte Stück Kuchen an.
»Was für ein seltsamer Name, Grüner Bambusblätterkuchen«, sagte sie, die Aufschrift entziffernd.
»Vielleicht werden bei der Herstellung Bambusblätter verwendet. Der Bambus ist ein fester Bestandteil der chinesischen Kultur. In jedem Landschaftsgarten gibt es einen Bambushain, und ein Gericht mit Bambussprossen darf bei keinem Bankett fehlen.«
»Interessant«, sagte sie. »Sogar chinesische Verbrecher führen das Wort im Namen ihrer Organisation.«
»Wie meinen Sie das, Inspektor Rohn?«
»Erinnern Sie sich an das Fax, das man mir am Sonntag ins Hotel geschickt hat? Es enthielt Hintergrundinformationen über internationale Triaden, die mit Menschenschmuggel zu tun haben. Eine davon nennt sich Grüner Bambus.«
»Haben Sie das Fax bei sich?«
»Nein, ich habe es im Hotel Peace gelassen.«
»Aber Sie sind sich sicher?«
»Ja, an diesen Namen erinnere ich mich ganz genau«, sagte sie.
Sie veränderte ihre Haltung. Ihm zugewandt, lehnte sie sich an die Säule. Er nahm die Teeschalen weg, worauf sie aus den Schuhen schlüpfte und die Füße auf die Bank zog. Ihr Kinn ruhte auf den Knien, die nackten Fußsohlen standen auf der kühlen Marmorfläche.
»Ihr Knöchel hat sich noch nicht völlig erholt«, sagte er. »Die Bank ist zu kalt für Sie.«
Sie fühlte, wie er ihren Fuß auf seinen Schoß bettete, mit den Handflächen ihre Fußsohle umschloß und mit den so erwärmten Händen ihren Knöchel massierte.
»Vielen Dank«, sagte sie und bewegte unwillkürlich die Zehen unter seinen Händen.
»Ich möchte Ihnen ein Gedicht rezitieren, Inspektor Rohn, dessen Teile sich während der letzten Tage in meinem Kopf zusammengefügt haben.«
»Ein Gedicht von Ihnen?«
»Eigentlich mehr die Imitation von ›Sonnenlicht über dem Garten‹ von MacNeice. Es handelt von Menschen, die dankbar sind für die Zeit, die sie miteinander verbringen dürfen, auch wenn der Moment ein flüchtiger ist.«
Die Hand auf ihrem Knöchel, begann er zu sprechen:
»Das Sonnenlicht brennt golden,
wir können den Tag nicht
hinüberretten vom alten Garten
auf ein Albumblatt.
Ergreifen wir ihn also,
die Stunde wartet nicht…«
»Sonnenlicht über dem Garten«, wiederholte sie.
»Das zentrale Bild der ersten Strophe fiel mir im Moscow Suburb ein. Dann, nachdem ich Lius Gedicht über den Loyalitätstanz gelesen hatte, besonders nachdem wir Wen und Liu begegnet waren, kamen weitere Zeilen hinzu«, erklärte er.
»Ist dann alles gesagt,
weiß keiner zu sagen,
wer antwortet und wer fragt.
Wer hält in seinem Bann –
Tanz oder Tänzer?«
»Der Tanz und der Tänzer, ich verstehe«, sagte sie nickend. »Für Liu war es Wen, die den Loyalitätstanz zu einem Wunder werden ließ.«
»Das Gedicht von MacNeice handelt von der Hilflosigkeit der Menschen.«
»Ich weiß, daß MacNeice einer Ihrer liebsten modernistischen Dichter ist.«
»Woher denn?«
»Ich habe Nachforschungen betrieben, Oberinspektor Chen. In einem Ihrer jüngsten Interviews sprechen Sie von seiner Melancholie. Sein Brotberuf erlaubte es ihm nicht, sich so auf seine Dichtung zu konzentrieren, wie er es gern getan hätte. Zugleich bedauerten Sie Ihre eigenen verpaßten Chancen als Dichter. Die Menschen sagen in ihren Texten, was sie im täglichen Leben nicht ausdrücken können.«
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«
»Sie brauchen nichts zu sagen, Oberinspektor Chen. In ein paar Tagen reise ich ab. Unsere Mission ist beendet.«
Im Garten stieg Nebel auf.
»Dann lassen Sie mich statt dessen die letzte Strophe rezitieren«, sagte er.
»Betrübt, nicht länger traurig zu sein,
wappnet das Herz sich von neuem.
Nicht auf Vergebung hoffend,
sondern dankbar und froh,
über deine Gegenwart
und das Sonnenlicht, verloren im Garten.«
Sie glaubte zu wissen, warum er ihr dieses Gedicht vortrug.
Nicht nur wegen Wen und Liu.
Da saßen sie, schweigend, während die letzten Sonnenstrahlen ihre Silhouetten vor dem Hintergrund des Gartens zeichneten. Und sie empfand einen unauslöschlichen Moment der Dankbarkeit.
Der Abend entfaltete sich wie ein traditionelles chinesisches Rollbild: Ein sich wandelndes und doch unwandelbares Panorama, das sich kühl und frisch gegen den Horizont abhebt, die fernen Berge in weichen Dunst gehüllt.
Derselbe poetische Garten, dieselbe Brücke im mingzeitlichen Stil, dieselbe ersterbende, qingzeitliche Sonne.
Hunderte von Jahren zuvor.
Hunderte von Jahren später.
Es war so still, daß sie das Platzen der Luftblasen hören konnten, die die Würmer im grünen Wasser des Teiches aufsteigen ließen.