20

 

IN SEINEM BÜRO angekommen, wählte Chen sofort Qian Juns Nummer.

»Ach, Oberinspektor Chen. Ich habe gestern abend mehrmals versucht, Sie anzurufen, konnte Sie aber nicht erreichen. Ihre Handy-Nummer hatte ich leider verloren, deshalb habe ich Parteisekretär Li verständigt.«

»So, so, Sie haben meine Handy-Nummer verloren!« Er glaubte Qian kein Wort. Er hätte ja auch eine Botschaft auf dem Anrufbeantworter hinterlassen können. Es war verständlich, daß sich ein ehrgeiziger junger Polizist beim obersten Parteiboß lieb Kind machen wollte. Aber durfte er dabei seinen unmittelbaren Vorgesetzten umgehen? Er begann sich zu fragen, warum ihm Li gerade Qian an die Seite gegeben hatte.

»Haben Sie gehört, was der Frau aus Guangxi zugestoßen ist, Oberinspektor Chen?«

»Ja, Parteisekretär Li hat mir berichtet. Wie haben Sie davon erfahren?«

»Nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte, habe ich mich mit den Kollegen in Qingpu in Verbindung gesetzt. Die haben dann am Abend zurückgerufen.«

»Gibt es heute morgen schon was Neues?«

»Nein. Sie versuchen, den Jeep dieser Männer ausfindig zu machen. Er hatte ein Nummernschild der Armee.«

»Sagen Sie den Kollegen in Qingpu, sie sollen mich verständigen, sobald sie etwas haben. Das fällt in deren Zuständigkeitsbereich«, sagte Chen. »Irgendwelche Hinweise bezüglich der Leiche im Bund-Park?«

»Auch nicht, nur der offizielle Autopsiebericht von Doktor Xia. Es steht nichts Neues darin. Von den Hotels und Nachbarschaftskomitees gibt es ebenfalls keine Rückmeldung. Ich habe einige Hotelmanager befragt, über zwanzig, um genau zu sein. Keiner von ihnen hatte nützliche Hinweise.«

»Ich bezweifle, daß die den Mund aufmachen. Andernfalls würden die Triaden ihnen keine Ruhe mehr lassen.«

»Das stimmt. Vor ein paar Monaten hat ein Cafe-Besitzer einen Drogenhändler bei der Polizei gemeldet, und eine Woche später lag sein ganzes Lokal in Trümmern.«

»Was haben Sie sonst noch vor?«

»Ich werde weitere Hotels und Nachbarschaftskomitees anrufen. Aber bitte sagen Sie mir, was ich weiter tun kann, Oberinspektor Chen.«

»Eine Sache«, sagte Chen leicht gereizt, »gehen Sie in das Krankenhaus, und bitten Sie die Ärzte, ihr Möglichstes für Qiao zu tun. Falls es am Geld liegt, dann zahlen Sie das aus dem Sonderfond.«

»Ich werde hingehen, Chef, aber das mit dem Sonderfond …«

»Kein Aber! Das ist das mindeste, was wir tun können«, versetzte Chen und knallte den Hörer auf die Gabel.

Vielleicht war er zu erregt, um dem jungen Kollegen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er fühlte sich verantwortlich für das, was Qiao zugestoßen war. Sie hatte so viel für ihr Baby auf sich genommen und es am Ende doch verloren. Aber das schlimmste war, daß sie nun keine Kinder mehr bekommen konnte. Das mußte ein schrecklicher Schlag für die arme Frau sein.

Chen brach einen Bleistift in zwei Teile, wie es die Krieger des Altertums mit einem Pfeil taten, wenn sie einen Schwur leisteten. Er mußte Wen finden, und zwar schnell. Das wäre seine Rache an den Menschenschmugglern. An Jia Xinzhi. An dem ganzen üblen Triadenhaufen.

Er grübelte über Qiaos Pech, daß sie ausgerechnet diesen Job in Qingpu gefunden hatte. »Glück bringt Unglück hervor, und Unglück bringt Glück hervor«, hatte Laozi vor vielen tausend Jahren gesagt. Massen von Menschen strömten aus der Provinz nach Shanghai, fanden dort aber keine Arbeit; auch nicht mit Hilfe dieser neuen, marktwirtschaftlichen Einrichtung, der Städtischen Arbeitsvermittlungsstelle. Qiao dagegen war es geglückt, doch dieses Glück hatte sich als Katastrophe erwiesen.

Dann fiel ihm ein, daß er noch ein weiteres Telefongespräch zu führen hatte. Womöglich hatte Wen sich ja bei der Arbeitsvermittlung nach einer Stelle erkundigt, vielleicht als Bedienung oder Kindermädchen, was ihr auch gleich Unterkunft verschaffen würde.

Die Antwort, die er erhielt, war nicht gerade ermutigend. In den Unterlagen gab es niemanden, auf den Wens Beschreibung gepaßt hätte. Eine Schwangere hatte auf dem heutigen Arbeitsmarkt ohnehin kaum Chancen. Doch der Arbeitsvermittler versprach, sich zu melden, falls entsprechende Daten eingingen.

Dann rief Chen im Hotel Peace an. Er war ja weiterhin dazu verpflichtet, Inspektor Rohn Gesellschaft zu leisten, auch wenn gewisse Leute Anstoß daran nahmen. Sie war nicht da, und er hinterließ eine Botschaft. Das war nicht der richtige Moment, um mit einem Blumenstrauß im Hotel aufzutauchen. Nicht, nachdem die Innere Sicherheit die Sache mit der Kette zu den Akten genommen und Parteisekretär Li eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte.

Sie arbeiteten erst wenige Tage zusammen, Catherine war seine zeitweilige Partnerin. Vielleicht war dies einer der unausgesprochenen Gründe, warum Parteisekretär Li die Reise nach Peking vorgeschlagen hatte. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Überall spielte Politik mit hinein, und alles würde nur Wasser auf die Mühlen von Parteisekretär Li sein.

Er beschloß, während der Mittagspause seine Mutter zu besuchen.

Es war nicht weit, aber er ließ sich vom Kleinen Zhou im Mercedes hinbringen. Unterwegs hielten sie am Lebensmittelmarkt. Er feilschte heftig mit den Obsthändlern, bevor er sich für ein kleines Bambuskörbchen mit kandierten Drachenaugen entschied. Dabei fiel ihm Inspektor Rohns Bemerkung über sein Geschick beim Feilschen ein.

Der Anblick des vertrauten alten Gebäudes in der Jiujiang Lu versprach eine kurze Pause von der Politik, die er jetzt dringend nötig hatte. Ein paar seiner früheren Nachbarn grüßten, als er aus dem Mercedes stieg, den er nur seiner Mutter zuliebe benutzte. Sie hatte seine Berufswahl nie gutgeheißen, doch in dieser materialistisch orientierten Nachbarschaft würden sein Kaderstatus und der Chauffeur, der ihm den Schlag öffnete, seiner Mutter Gesicht geben.

Das Gemeinschaftswaschbecken aus Beton vor dem Eingang war noch feucht. Er entdeckte dunkelgrünen Moosbewuchs, der sich im Umkreis des Wasserhahns wie eine Landkarte ausbreitete. Die rissigen Wände hätten dringend eine Generalsanierung nötig. Mehrere Löcher am Fuß der Mauer, in denen er als Kind nach Zikaden gesucht hatte, waren noch immer unverputzt. Das Treppenhaus war dunkel und roch nach Schimmel; auf den Treppenabsätzen stapelten sich alte Kartons und ausrangierte Korbstühle.

Seit er den Fall Wen übernommen hatte, war er nicht mehr bei seiner Mutter gewesen. Als er das kleine, einfach eingerichtete Zimmer unter dem Dach betrat, fand er den Tisch zu seinem Erstaunen reich gedeckt mit einer Auswahl an Brötchen, Würsten und exotisch wirkenden Gerichten in Einwegbehältern.

»Das ist alles aus dem Moscow Suburb«, erklärte ihm seine Mutter.

»Lu, der Überseechinese, kann’s nicht lassen!«

»Er redet mich mit ›Mama‹ an und nennt dich seinen Retter in der Not.«

»Die ganze Zeit reitet er auf dieser alten Geschichte herum.«

»›Ein Freund in der Not ist ein wahrer Freund.‹ Ich habe gerade in einer buddhistischen Schrift gelesen. Wir tun unsere guten Taten in dieser Welt nicht umsonst. Jede unserer Handlungen führt zu etwas, entweder zu dem erwarteten oder zu einem unerwarteten Ergebnis. Manche nennen das Glück, manche sprechen von Karma. Ein anderer Freund von dir, Herr Ma, hat mich auch besucht.«

»Wann denn?«

»Heute morgen. Der alte Mann nennt das regelmäßige medizinische Kontrolle.«

»Das ist aber sehr aufmerksam von ihm«, sagte er. »Gibt es denn Probleme, Mutter?«

»Mein Magen macht mir in letzter Zeit zu schaffen. Herr Ma bestand darauf herzukommen. Diese Treppen sind keine Kleinigkeit für einen alten Mann.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nichts Ernstes. Ungleichgewicht von yin und yang und so weiter. Sogar die Medizin hat er mir gebracht«, sagte sie. »Genau wie Lu möchte er sich dir erkenntlich zeigen, sonst ist ihm nicht wohl. Ein Mann des yiqi.«

»Der alte Herr hat viel durchmachen müssen. Zehn Jahre für ein Exemplar des Doktor Schiwago. Was ich getan habe, war doch nicht der Rede wert.«

»Hat Wang Feng damals nicht einen Artikel über ihn geschrieben?«

»Ja, aber das war ihre Idee.«

»Wie geht es ihr in Japan?«

»Ich habe schon lange nichts mehr von ihr gehört.«

»Gibt es Neuigkeiten aus Peking?«

»Tja, Parteisekretär Li möchte mich auf Urlaub dorthin schicken«, sagte er ausweichend.

Seine Mutter war nicht glücklich über die Beziehung mit Ling, das wußte er. Die alte Dame befürchtete, daß es hoch oben im Jadepalast des Mondes / zu kalt sein könnte. Was den Dichter Su Dongpo schon vor vielen tausend Jahren beunruhigt hatte, beunruhigte jetzt sie. Doch mehr noch mißbilligte sie, daß er, noch immer unverheiratet, unaufhaltsam den Fünfunddreißig zustrebte. Wie ein altes Sprichwort sagte: ›»Alles, was im Gemüsekorb liegt, muß auch als Gemüse bezeichnet werden.‹«

»Das klingt gut«, sagte sie lächelnd.

»Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich weg kann.«

»Du bist dir also nicht sicher …«, sagte sie und ließ den Satz unbeendet. »Herr Ma erzählte mir, daß du eine junge Amerikanerin zu ihm gebracht hast.«

»Sie ist vorübergehend meine Partnerin.«

»Du scheinst viel von ihr zu halten, sagte Herr Ma.«

»Ach Mutter. Ich muß mich eben um sie kümmern. Wenn ihr etwas zustößt, werde ich zur Rechenschaft gezogen.«

»Du wirst es schon wissen, Sohn. Ich bin alt und hoffe nur, daß du endlich eine Familie gründest wie jeder andere auch.«

»Dazu bin ich einfach zu beschäftigt, Mutter.«

»Von deiner Arbeit verstehe ich nichts. Die Welt hat sich so sehr verändert. Aber eine Verbindung mit einer Amerikanerin kann nicht gut tun.«

»Das steht doch gar nicht zur Debatte, Mutter. Da kannst du ganz beruhigt sein.«

Dennoch war er irritiert. Normalerweise mischte seine Mutter sich nicht in seine Angelegenheiten, abgesehen davon, daß sie ständig denselben Konfuzius-Spruch im Munde führte: »Es gibt drei Arten, die Kindespflicht zu vernachlässigen; die schlimmste ist, ohne Nachkommen zu bleiben.« Sie schien mit Parteisekretär Li eine Allianz geschmiedet zu haben.

Wer sich im Gebirge aufhält, kann die Berge nicht klar sehen, hatte Su Dongpo an einen buddhistischen Tempel im Lu-Gebirge geschrieben. Aber Oberinspektor Chen befand sich nicht in den Bergen, zumindest glaubte er das.

Er redete nicht viel, während er seiner Mutter bei den Vorbereitungen für das Mittagessen half. Noch bevor er mit dem Aufwärmen der Gerichte aus dem Moscow Suburb fertig war, klingelte sein Handy.

»Oberinspektor Chen, hier spricht Gu Haiguang.«

»Was gibt es, Generalmanager Gu?«

»Ich habe etwas für Sie. Vor ein paar Tagen war jemand aus Fujian hier. Ich bin mir nicht sicher, ob er zu den Fliegenden Äxten gehört. Auf jeden Fall hat er mit einigen Organisierten hier Kontakt aufgenommen und ist dann wieder verschwunden.«

»Es war nicht dieser Jiao, der Besucher aus Hongkong, den Sie im Club erwähnten?«

»Nein, mit Sicherheit nicht.«

»Was hatte er denn in Shanghai zu tun?«

»Er suchte jemanden.«

»Womöglich die Frau, die ich Ihnen beschrieben habe?«

»Dazu kann ich Ihnen momentan noch nichts Genaues sagen, Oberinspektor Chen, aber ich werde mich bemühen, es herauszufinden.«

»Wann wurde dieser Mann aus Fujian zuletzt gesehen?«

»Am Nachmittag des siebzehnten April. Da haben Leute ihn an einem kleinen Lokal in der Fuzhou Lu Teigtäschchen essen sehen. Ein Auto wartete auf ihn. Es war ein silberner Acura.«

Das Datum paßte. Eine vielversprechende Entwicklung. Womöglich hatte die Sache mit dem Mord im Bund-Park zu tun, oder mit Wen. Vielleicht sogar mit beidem.

»Gut gemacht, Generalmanager Gu. Wie heißt dieses Restaurant?«

»Das weiß ich nicht. Dort machen sie eine besondere Art von Teigtäschchen – yanpi. Es ist nicht weit von der Buchhandlung für fremdsprachige Literatur.« Dann fügte er hinzu: »Und bitte nennen Sie mich Gu, Oberinspektor Chen.«

»Danke Ihnen, Gu. Es dürfte nicht allzu viele silberne Acuras in der Stadt geben. Durch die Verkehrsüberwachung läßt sich das leicht nachprüfen. Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar für den Tip.«

»Nicht der Rede wert. Meiling, Ihre Sekretärin, hat mich heute morgen angerufen. Vielleicht kommt sie vorbei und sieht sich hier mal um. Für einen Club wie den unseren sei ein Parkplatz unerläßlich, meinte sie.«

»Freut mich, daß sie das so sieht.«

»Sie hat mir auch von Ihnen erzählt, Oberinspektor Chen.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Jeder weiß, daß Sie bald Direktor der Verkehrsüberwachungsbehörde werden sollen. Aber bei Ihren Verbindungen auf höchster Ebene bedeutet Ihnen so eine Position vermutlich nicht viel.«

Chen runzelte die Stirn, obgleich er einsah, warum Meiling Gu dies alles erzählt hatte. Immerhin hatte es funktioniert. Gu hatte herumtelefoniert, um diese Informationen für ihn zu beschaffen. Er beendete das Gespräch mit einer nachdrücklichen Einladung.

»Sie müssen unbedingt wiederkommen, Oberinspektor Chen. Gestern sind Sie ja gleich gegangen. Wir müssen auf unsere Freundschaft trinken.«

»Das werde ich«, versprach er.

Seine Mutter mußte etwas bemerkt haben. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie.

»Ja, Mutter, alles bestens. Ich muß nur noch ein Telefongespräch führen.«

Er wählte Meilings Nummer und bat sie, das Kraftfahrzeugmelderegister nach silbernen Acuras durchzusehen. Sie versprach, das umgehend zu erledigen. Dann kam er auf die Sache mit dem Parkplatz zu sprechen. Es handele sich um einen Ermessensfall, erklärte sie. Wenn das Gelände nicht als Parkplatz für den Club ausgewiesen würde, könnte die Stadt vermutlich anderweitig Gewinn damit erzielen. Sie müsse sich da noch einmal genau informieren. Gegen Ende ihres Gesprächs hörte sie seine Mutter im Hintergrund husten und bestand darauf, »Tante Chen« zu begrüßen.

Als das Gespräch zu Ende war, erschien ein resigniertes Lächeln auf dem Gesicht seiner Mutter, und sie begann von neuem, die Gerichte aufzuwärmen. Bald war die Dachkammer erfüllt vom strengen Geruch des kleinen Kohleofens. Weil er so schwer war, konnte sie ihn nicht jedesmal hinaus auf den Treppenabsatz tragen. Bevor er in seine eigene Wohnung gezogen war, hatte es zu seinen Aufgaben gehört, den Ofen hinauszutragen und abends wieder hereinzuholen. Das Treppenhaus war so eng, daß im Dunkeln immer wieder Kinder gegen den Ofen stießen. Aber seine Mutter wollte nicht zu ihm in die Zwei-Zimmer-Wohnung ziehen, obwohl er ihr das angeboten hatte.

Sein Vater blickte, die hohe Stirn von Sorgenfalten gefurcht, melancholisch von dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto auf ihn herab.

Chen probierte von dem Tofu, der mit Sesamöl und gehackten Frühlingszwiebeln angemacht war, und schaufelte geistesabwesend eine Schale wäßrigen Reis in sich hinein.

Als er gerade gehen wollte, klingelte das Handy schon wieder. Er schaltete es an und hörte den Faxton. Das Signal wurde wiederholt. Frustriert schaltete er das Gerät ab.

»Ich sehe, daß du erfolgreich bist, mein Sohn, mit dem Dienstwagen und deinem tragbaren Telefon, auf dem dich diese Sekretärin und ein Generalmanager während der Mittagspause anrufen«, sagte seine Mutter, während sie ihn bis an die Haustür begleitete. »Du bist jetzt Teil des Systems, das verstehe ich.«

»Nein, ich glaube nicht, daß ich Teil davon bin. Aber man muß innerhalb des Systems arbeiten.«

»Dann tu etwas Gutes«, sagte sie. »In den buddhistischen Schriften steht: ›Selbst das Picken eines Vogelschnabels ist vorherbestimmt und hat seine Folgen/«

»Ich werde darüber nachdenken, Mutter«, erwiderte er.

Er glaubte zu verstehen, warum seine Mutter immer wieder von guten Taten und ihren buddhistischen Schriften sprach. Aus Sorge über sein Junggesellentum verbrannte sie täglich Weihrauch für die Göttin Guanyin und betete, daß die Vergeltung für eventuelle Sünden der Familie sie statt ihn treffen sollte.

»Tante Chen! Wie mich das freut!« Der Kleine Zhou sprang mit einem halben Dampfbrötchen in der Hand aus dem Wagen. »Wann immer Sie einmal den Wagen brauchen – Anruf genügt. Wer Oberinspektor Chen fährt, fährt auch Sie!«

Seine Mutter schüttelte den Kopf, während der Wagen davonfuhr, aber sie registrierte die neidischen Blicke der Nachbarn durchaus.

Der Kleine Zhou spielte von einer CD die Internationale in Rock-Version, doch die heroischen Worte konnten Chens Stimmung nicht heben. Er bat den Fahrer, ihn an der Ecke Fuzhou und Shandong Lu aussteigen zu lassen. »Ich möchte mich noch in den Buchläden umsehen. Warten Sie nicht auf mich. Ich werde zu Fuß ins Präsidium gehen.«

Hier in der Nähe gab es gleich mehrere Buchläden, staatseigene und private. Am liebsten wäre er in das Antiquariat gegangen, wo er das Buch seines Vaters über die Zufälligkeit von Geschichte erstanden hatte. Die Argumentation war ihm wieder entglitten, aber er erinnerte sich an die Fabel von der verwöhnten Palastziege, die zum Fall der Jin-Dynastie beigetragen hatte. Auch das Poster mit dem Bikini-Girl fiel ihm wieder ein, das der Buchhändler ihm als Dreingabe hatte geben wollen, das er aber zurückgewiesen hatte. Er war in der Tat ein pietätloser Sohn, der sich weit von den Erwartungen seines Vaters entfernt hatte.

Er widerstand der Versuchung und ging statt dessen in das kleine Lokal auf der anderen Straßenseite, in dem eine besondere Sorte von Teigtäschchen angeboten wurde. Wie das privat geführte Antiquariat, so war auch der Gastraum eine umgebaute Wohnung. Ein einfaches Schild verkündete in schwungvollen Schriftzeichen: YANPI-SUPPE. An der Ladenfront schob ein Mann in mittlerem Alter eine Portion Teigtaschen in einen großen Wok. Das Lokal verfügte über nur drei Tische. Vor einem Trennvorhang im rückwärtigen Teil des Raums stand eine junge Frau und knetete sahnefarbenen Teig, in den sie Reiswein und gehacktes Aalfleisch mischte.

An der Wand hing ein rotes Plakat, auf dem die Ursprünge der yanpi, mit ihrer Teighülle und der Fischfüllung, erklärt wurden. Chen bestellte sich eine Portion, die delikat schmeckte, obwohl die Brühe einen deutlichen Fischgeschmack hatte. Nachdem er mit etwas Essig und gehackte Frühlingszwiebeln abgeschmeckt hatte, war sie gleich noch besser. Er fragte sich, wie andere, nicht in Fujian gebürtige Gäste dieses Gericht fanden. Als er fertig gegessen hatte, fiel ihm noch etwas anderes auf.

Das Lokal lag in der Nähe von Wen Lihuas Wohnung, der Wohnung also, in der auch die verschwundene Schwester Wen aufgewachsen war. Zu Fuß waren es keine fünf Minuten dorthin.

Er ging zu dem Besitzer, der noch immer an seinem Wok stand. »Erinnern Sie sich an einen Gast, der vor ein paar Tagen mit einem teuren Auto hier vorgefahren ist?«

»Wir sind die einzigen in der Stadt, die echte yanpi anbieten. Da kann es schon vorkommen, daß die Leute für eine Schale quer durch Shanghai fahren. Ich kann mir doch nicht alle Kunden merken, bloß weil sie besondere Autos fahren.«

Chen streckte ihm seinen Dienstausweis zusammen mit einem Foto des Ermordeten aus dem Park hin. »Kennen Sie diesen Mann?«

Der Besitzer schüttelte erstaunt den Kopf. Die junge Frau trat zu ihnen, warf einen Blick auf das Bild und sagte, sie könne sich an einen Gast erinnern, der eine lange Narbe im Gesicht gehabt habe, war sich aber nicht sicher, ob es derselbe Mann war.

Chen bedankte sich bei ihr. Er beschloß, zu Fuß zum Büro zurückzugehen. Manchmal klärten sich beim Gehen seine Gedanken, doch nicht an diesem Nachmittag. Im Gegenteil, als er sein Büro erreichte, war er verwirrter denn je.

Dort erwartete ihn nur eine Nachricht, und zwar von der Städtischen Arbeitsvermittlungsstelle, die ihm einige Namen und Telefonnummern von privaten Job-Agenturen zusammengestellt hatte. Nachdem er eine Stunde lang herumtelefoniert hatte, kam er zu dem Ergebnis, daß die Lage auf dem privaten Vermittlungssektor praktisch dieselbe war. Für eine Schwangere mittleren Alters war es nahezu unmöglich, in Shanghai eine Stelle zu finden.

Gus Metapher kam ihm wieder in den Sinn, während er die Papiere auf seinem Schreibtisch ordnete. Das Telefon klingelte unaufhörlich, und der allgemeine Druck verstärkte sich. Er stand auf und machte ein paar Tai-Chi-Sequenzen in seinem winzigen Büro. Doch auch das konnte seine Spannung nicht lösen, die Übungen ließen vielmehr die Bilder von dem ungelösten Bund-Park-Mord wieder in ihm aufsteigen. Er hätte wohl all die Jahre regelmäßig üben sollen; wie der ältliche Buchhalter, der jetzt inneren Frieden genoß und im Einklang mit seinem qi und der Welt lebte.

Was hätte sein können, tauchte wie eine Blume im Spiegel oder wie der Mond im Wasser vor ihm auf, so lebensecht, daß er danach greifen zu können glaubte, und doch war es Illusion.

Und wie sollte er sich zu dem Vorschlag mit dem »Urlaub« in Peking verhalten? Es handelte sich nicht, wie Parteisekretär Li vermutete, um eine persönliche Entscheidung, die nur sein Privatleben betraf. In China war das Private kaum je vom Politischen zu trennen. Natürlich hätte er mehr um Ling werben können, aber ihr privilegierter Status hielt ihn davon ab, weitere Schritte zu unternehmen.

War es wirklich so schwer, sich ein Herz zu fassen und jene zu ignorieren, die ihn einen politischen Aufsteiger nannten?

Spontan griff er zum Hörer und versuchte, sich an ihre Pekinger Nummer zu erinnern, rief dann aber statt dessen Inspektor Rohn an.

»Ich habe schon den ganzen Nachmittag versucht, Sie zu erreichen, Oberinspektor Chen.«

»Tatsächlich?«

»Sie hatten wohl Ihr Handy ausgeschaltet.«

»Ja, ich habe mehrmals nur einen Faxton gehört und habe es daraufhin ausgeschaltet. Dann muß ich es wohl vergessen haben.«

»Weil ich Sie nicht erreichen konnte, habe ich es bei Hauptwachtmeister Yu probiert.«

»Was gibt es denn?«

»Wen wurde gesehen, wie sie am Abend des fünften April das Dorf verlassen hat. Statt den Bus zu nehmen ist sie per Anhalter gefahren und ein Lastwagen hat sie fast bis zum Bahnhof mitgenommen. Der Laster mußte einige Kilometer vorher abbiegen. Dort ist Wen ausgestiegen. Der Fahrer hat sich heute morgen im Polizeirevier gemeldet. Die Beschreibung paßt, nur war er sich nicht sicher, ob die Frau schwanger war.«

»Das ist schon möglich. Wen ist ja erst im vierten Monat. Hat sie erwähnt, wohin sie wollte?«

»Nein, sie könnte ohne weiteres noch in Fujian sein, aber es ist wohl wahrscheinlicher, daß sie die Provinz verlassen hat.«

Er meinte, im Hintergrund eine Lokomotive pfeifen zu hören. »Wo sind Sie, Inspektor Rohn?«

»Auf dem Shanghaier Bahnhof. Können Sie mich hier treffen? Nach Hauptwachtmeister Yus Angaben gibt es einen Zug, der am sechsten April um zwei Uhr nachts von Fuzhou Richtung Shanghai abfuhr. Die Fahrkarten waren natürlich schon lange vorher ausverkauft, aber der Verkäufer erinnert sich, daß unter denjenigen, die ihn nach einem Not-Fahrschein gefragt haben, auch eine Frau war. Yu meinte, wir sollten uns hier bei der Eisenbahnverwaltung erkundigen. Da bin ich jetzt, aber ich bin nicht autorisiert, Fragen zu stellen.«

»Bin schon unterwegs.«

Die Recherchen auf dem Bahnhof dauerten länger als gedacht. Der Zug aus Fujian traf erst am späten Nachmittag auf dem Shanghaier Bahnhof ein. Sie mußten über eine Stunde warten, um den Zugbegleiter sprechen zu können. Drei Fahrgäste ohne Karte waren in Fujian in den frühen Morgenstunden des sechsten April eingestiegen. Die Fahrpreise, die sie bezahlten, ließen vermuten, daß zwei von ihnen nach Shanghai wollten. Der Dritte stieg offenbar vorher aus. Der Schaffner erinnerte sich, daß eine Frau darunter war, denn die beiden anderen waren Geschäftsleute, die sich die ganze Fahrt über unterhalten hatten. Die Frau war still neben einer der Türen gehockt. Der Schaffner hatte nicht registriert, wo sie ausgestiegen war.

Dieser Hinweis brachte sie also auch nicht weiter. Keiner wußte, wann die Frau den Zug verlassen hatte und ob es tatsächlich Wen gewesen war.