8
CHEN STAND neben dem Mercedes und sah Catherine Rohn durch die Drehtür des Hotels kommen. In ihrem weißen Kleid sah sie aus wie ein Apfelbaum, der in der Aprilsonne Shanghais seine Blüten entfaltet. Sie wirkte gut ausgeschlafen und lächelte, als sie ihn sah.
»Das ist Genosse Zhou Jing, ein Fahrer des Präsidiums«, stellte Chen den Chauffeur vor. »Er wird uns begleiten.«
»Freut mich, Genosse Zhou«, sagte sie auf chinesisch.
»Willkommen, Inspektor Rohn«, erwiderte Zhou, der sich breit grinsend über die Schulter zu ihr umsah. »Man nennt mich Kleiner Zhou.«
»Und mich nennt man Catherine.«
»Kleiner Zhou ist unser bester Fahrer.« Chen setzte sich neben sie in den Fond.
»Und das ist unser bester Wagen«, sagte Zhou. »Wir bieten unser Bestes auf, Inspektor Rohn, andernfalls wäre Oberinspektor Chen jetzt nicht hier.«
»Wirklich!«
»Er ist unser Spitzenmann, müssen Sie wissen, der aufsteigende Stern des Präsidiums.«
»Ist mir durchaus bewußt«, entgegnete sie.
»Übertreiben Sie nicht so, Kleiner Zhou«, mischte sich Chen ein. »Konzentrieren Sie sich lieber auf den Weg.«
»Keine Sorge. In diesem Viertel kenne ich mich aus. Wir nehmen eine Abkürzung.«
Dann begann Chen, Englisch zu sprechen. »Haben Sie neue Informationen?«
»Ed Spencer, mein Chef, hat den Lebensmittelladen überprüfen lassen, in dem Feng eingekauft hat. Feng kann nicht Auto fahren; er hat auch keine Freunde in D.C. Sein Radius beschränkt sich auf ein paar chinesische Läden in der unmittelbaren Umgebung. Es handelt sich um ein alteingesessenes Geschäft, das, soweit uns bekannt, keine Verbindungen zu Geheimgesellschaften unterhält. Der Kassenzettel beweist, daß Feng an dem Tag, als er seine Frau angerufen hat, in dem Laden gewesen ist. Er hat Nudeln gekauft und sich ein paar chinesische Videos ausgeliehen. Auf dem Heimweg war er noch in einem chinesischen Geschenke- und Kräuterladen und beim Friseur. Also könnte die Warnung auch in diesen Geschäften in seine Tasche gesteckt worden sein.«
»Ich habe mit Parteisekretär Li über die neuesten Entwicklungen gesprochen. Wir müssen unbedingt herausfinden, wie die Gangster Fengs Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht haben.«
»Das ist mir ein Rätsel. Unsere Sondergruppe besteht lediglich aus Ed und mir. Unser Übersetzer, Shao, ist ein erprobter CIA-Mitarbeiter«, sagte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine undichte Stelle auf unserer Seite gibt.«
»Die Entscheidung, Wen in die Vereinigten Staaten ausreisen zu lassen, wurde auf höchster Regierungsebene getroffen. Weder Parteisekretär Li noch ich selbst hatten bis zum Tag Ihrer Ankunft je von Feng oder Wen gehört«, gab Chen zurück.
»Fengs Anruf zeigt, daß er kein Vertrauen mehr in unser Programm hat. Er hat seine Frau angerufen, ohne uns vorher zu informieren. Ed ist dabei, ihm eine neue Tarnadresse zu verschaffen.«
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Inspektor Rohn. Lassen Sie ihn, wo er ist, und verstärken Sie lieber die Bewachung. Vielleicht wird die Geheimgesellschaft noch einmal Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Das könnte gefährlich für ihn werden.«
»Wenn sie vorhatten, ihn umzubringen, dann hätten sie das ohne vorherige Warnung getan. Ich glaube, sie wollten ihn einschüchtern, damit er nicht gegen Jia aussagt. Sie werden ihn nur dann töten, wenn sie keine andere Wahl haben.«
»Da haben Sie vermutlich recht, Oberinspektor Chen. Ich werde mit meinem Chef darüber sprechen.«
Dank Zhous Abkürzung erreichten sie kurz darauf die Shandong Lu, wo Wen Lihua, der Bruder von Wen Liping, mit seiner Familie wohnte. Es war eine schmale Straße mit alten, heruntergekommenen Häusern, die um die Jahrhundertwende erbaut worden sein mochten. Diese Straße im Bezirk Huangpu hatte früher zur Französischen Konzession gehört, doch mittlerweile war sie von vielen neuen Gebäuden umgeben und wirkte wie ein Schandfleck. Am Eingang der Straße wurde die Zufahrt von falschgeparkten Fahrrädern, Autos und den illegal gelagerten Stahl- und Eisenteilen einer kleinen Nachbarschaftsfabrik versperrt. Kleiner Zhou mußte heftig manövrieren, bis er sie vor einem zweistöckigen Haus absetzen konnte. Die Nummer auf der morschen Eingangstür war so verblichen, daß man sie kaum erkennen konnte.
Das Treppenhaus war steil, eng, verdreckt und selbst am Tage dunkel. Die Dielen knarrten unter ihren Schritten und zeugten vom schlechten Zustand mancher Stufen. Am Geländer war die Farbe größtenteils abgeblättert. Catherine nahm in ihren hochhackigen Schuhen vorsichtig eine Stufe nach der anderen und wäre beinahe gestolpert.
»Tut mir leid«, sagte Chen und faßte sie am Ellenbogen.
»Da können Sie doch nichts dafür, Oberinspektor Chen.«
Er sah, wie sie sich die Hände an ihrem Taschentuch abputzte, als sie den ersten Stock glücklich erreicht hatten. Vor ihnen lag ein länglicher Raum, der mit Gerümpel vollgestellt war: kaputte Korbstühle, ausrangierte Kohleöfen, ein Tisch mit fehlendem Bein und ein uraltes Möbel, das als Geschirrschrank gedient haben mochte. In einer Ecke stand ein Eßtisch mit mehreren Stühlen.
»Ist das ein Abstellraum?« fragte sie.
»Nein. Ursprünglich war dies das Wohnzimmer, aber inzwischen dient es als Gemeinschaftsraum für die drei oder vier Familien, die auf diesem Stockwerk wohnen. Jede kann einen Teil des Raums nutzen.«
Von dem Gemeinschaftsraum gingen mehrere Türen ab. Chen klopfte an die erste. Eine alte Frau, die aufgebundenen Füßen angehumpelt kam, öffnete.
»Sie möchten Lihua sprechen? Das ist die letzte Tür.«
Die fragliche Tür wurde von jemandem geöffnet, der sie offenbar kommen gehört hatte; ein Mann Mitte Vierzig, groß, schlaksig, kahlköpfig, aber mit dichten Augenbrauen und einem Schnauzbart. Er trug ein weißes T-Shirt, Khaki-Shorts, Gummilatschen und ein Pflaster auf der Stirn. Es war Wen Lihua.
Sie betraten einen Raum, der nicht mehr als fünfzehn oder sechzehn Quadratmeter maß. Die Möblierung war ärmlich. Das altmodische Bett hatte ein blaugestrichenes Kopfteil aus Metall, geschmückt mit einem laminierten Poster des Großen Vorsitzenden. Er winkte vom Tor des Himmlischen Friedens herab; die ursprüngliche Dekoration war nicht mehr sichtbar. In der Mitte des Zimmers stand ein rotlackierter Tisch. Der Plastikbehälter mit Stiften und der Bambusköcher mit Eßstäbchen, die dort nebeneinander standen, zeugten von vielfältigem Gebrauch. Ferner gab es einige fadenscheinige Sessel. Einzig der silberne Bilderrahmen mit dem Familienfoto schien neu zu sein. Es zeigte einen Mann, eine Frau und ein paar Kinder, die ein kollektives Lächeln vereinte. Das Bild mußte vor mehreren Jahren aufgenommen worden sein, denn Lihua hatte damals noch Haare, die auf verwegene Weise in die Stirn gekämmt waren.
»Können Sie sich denken, warum wir heute hier sind, Genosse Wen Lihua?« Chen hielt ihm seinen Dienstausweis hin.
»Soweit ich weiß, geht es um meine Schwester. Mein Chef hat mir den Tag freigegeben, damit ich Ihnen behilflich sein kann.« Lihua bot ihnen Platz am Eßtisch an und brachte Teeschalen. »Was hat sie denn ausgefressen?«
»Ihre Schwester hat nichts Unrechtes getan. Sie hat einen Paß beantragt, um ihrem Mann in die Vereinigten Staaten zu folgen«, sagte Catherine Rohn auf chinesisch und zeigt ihm ebenfalls ihren Ausweis.
»Feng ist in Amerika?« Lihua kratzte sich den kahlen Schädel und fügte dann hinzu: »Oh, Sie sprechen Chinesisch.«
»Ja, aber nicht sehr gut«, erwiderte sie. »Oberinspektor Chen wird die Vernehmung führen. Kümmern Sie sich nicht weiter um mich.«
»Inspektor Rohn hilft mir bei den Ermittlungen«, sagte Chen. »Ihre Schwester ist verschwunden. Wir würden gerne wissen, ob sie Kontakt mit Ihnen aufgenommen hat.«
»Verschwunden! Nein, sie hat sich nicht bei mir gemeldet. Ich höre heute zum ersten Mal, daß Feng im Ausland ist und sie ihm folgen will.«
»Auch wenn Sie in letzter Zeit nichts von ihr gehört haben«, sagte Chen, »alles, was Sie uns über Ihre Schwester sagen können, könnte von Nutzen sein.«
Catherine holte einen kleinen Kassettenrekorder hervor.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich habe seit mehreren Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen«, Lihua seufzte in seine Teeschale. »Dabei ist sie meine einzige Schwester.«
Chen bot ihm eine Zigarette an. »Bitte erzählen Sie.«
»Wo soll ich anfangen?«
»Wo Sie wollen.«
»Also, unsere Eltern hatten nur uns zwei Kinder, mich und meine Schwester. Meine Mutter ist früh gestorben. Vater hat uns aufgezogen – in diesem Zimmer hier. Ich bin ein einfacher Mann. Über mich gibt es nichts zu sagen. Jetzt nicht und damals nicht. Bei ihr war das anders. So hübsch und so begabt. Alle ihre Lehrer in der Grundschule sagten ihr eine strahlende Zukunft im sozialistischen China voraus. Sie sang wie eine Lerche, tanzte wie eine Wolke. Die Leute sagten immer, sie müsse unter einem Pfirsichbaum zur Welt gekommen sein.«
»Unter einem Pfirsichbaum?« fragte Catherine.
»Wir vergleichen hübsche Mädchen mit Pfirsichblüten«, erklärte ihr Chen, »und außerdem gibt es den Aberglauben, daß, wer unter einem Pfirsichbaum geboren wird, zu einer Schönheit heranwächst.«
»Pfirsichbaum hin oder her«, fuhr Lihua mit einem von Zigarettenrauch umwölkten Seufzer fort, »jedenfalls kam sie im falschen Jahr zur Welt. Die Kulturrevolution brach aus, als sie in die sechste Klasse ging. Sie wurde Kader bei den Roten Garden und Leiterin der Sing- und Tanzgruppe unseres Distrikts. Schulen und Betriebe luden sie zu Darbietungen ein. Sie sang Revolutionslieder und tanzte den Loyalitätstanz.«
»Loyalitätstanz?« fragte Catherine erneut. »Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche.«
»Während dieser Jahre war Tanzen in China verboten«, sagte Chen. »Außer in einer ganz bestimmten Weise. Man tanzte mit dem ausgeschnittenen Schriftzeichen für Loyalität in der Hand oder mit einem roten Papierherz, auf dem dieses Zeichen stand, und brachte durch alle erdenklichen Gesten seine Treue gegenüber dem Vorsitzenden Mao zum Ausdruck.«
»Dann folgte die Kampagne, bei der Mittel- und Oberschüler aufs Land verschickt wurden«, nahm Lihua seine Erzählung wieder auf. »Wie viele andere folgte sie bereitwillig diesem Ruf ihres Führers. Sie war damals erst sechzehn. Vater machte sich Sorgen. Er bestand darauf, daß sie nicht mit ihren Klassenkameraden ging, sondern nach Changle, einem Dorf in Fujian kam, wo wir einen Verwandten hatten, der sich um sie kümmern sollte. Das hofften wir zumindest. Zunächst schien alles ganz gut zu laufen. Wir bekamen regelmäßig Briefe, in denen sie betonte, daß die harte Arbeit ihrer Umerziehung nutze. Sie pflanzte Reis in den Naßfeldern, schnitt Feuerholz in den Bergen, pflügte mit Ochsen im Regen … Damals glaubten viele junge Leute an Mao, als wäre er ein Gott.«
»Was geschah dann?«
»Plötzlich blieben ihre Briefe aus. Telefonisch konnten wir sie nicht erreichen. Wir schrieben dem Verwandten, und er antwortete ausweichend, daß alles in Ordnung sei. Nach mehreren Monaten erhielten wir einen kurzen Brief von ihr, in dem sie uns mitteilte, daß sie mit Feng Dexiang verheiratet sei und ein Kind erwarte. Daraufhin ist Vater hingefahren. Es war eine lange, beschwerliche Reise. Als er zurückkam, war er ein gebrochener Mann, weißhaarig und verzweifelt. Mir hat er nicht viel erzählt. Er hatte so große Hoffnungen in sie gesetzt.«
»Danach hörten wir kaum noch von ihr.« Lihua rieb sich mit einer Hand heftig die Stirn, als wolle er sein Gedächtnis beleben. »Vater machte sich Vorwürfe. Wenn sie mit ihren Klassenkameraden zusammengeblieben wäre, hätte sie vielleicht irgendwann zurückkehren können. Diese Überzeugung hat ihn früh ins Grab gebracht. Nur ein einziges Mal ist sie nach Shanghai zurückgekommen: zu Vaters Beisetzung.«
»Hat sie mit Ihnen gesprochen, als sie zurückkam?«
»Nur ein paar belanglose Floskeln. Sie war völlig verändert. Ich bezweifle, daß Vater sie wiedererkannt hätte in ihrer schwarzen Bauernkluft und dem weißen Trauertuch um den Kopf. Wie konnte der Himmel so ungerecht sein? Sie weinte sich die Augen aus, aber geredet hat sie mit kaum jemandem. Mit mir jedenfalls nicht. Nicht einmal mit Zhu Xiaoying, ihrer besten Freundin aus der Oberschule. Zhu kam zur Beisetzung und brachte uns eine Steppdecke.«
Chen sah, daß Catherine sich Notizen machte.
»Danach hat sie noch seltener geschrieben«, sagte Lihua gepreßt. »Wir haben erfahren, daß sie eine Stelle in der Kommunefabrik angenommen hat, aber das war weder eine sichere noch ausreichende Versorgung. Dann starb ihr Sohn bei einem Unfall. Ein weiterer Schicksalsschlag. Den letzten Brief von ihr erhielten wir vor zwei Jahren.«
»Gibt es jemand anderen in Shanghai, der mit ihr in Kontakt stehen könnte?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Letztes Jahr gab es ein Klassentreffen, eine große Party im Hotel Jinjiang, die von einem dieser Senkrechtstarter ausgerichtet wurde. Alle erhielten gedruckte Einladungskarten, und wer nicht kommen konnte, durfte statt dessen ein Familienmitglied schicken. Wen ist nicht zu diesem Treffen erschienen. Daher wollte Zhu, daß ich für sie hingehe. Ich hatte noch nie ein Fünf-Sterne-Hotel von innen gesehen. Während des Banketts kamen mehrere ihrer Klassenkameraden zu mir und fragten mich, was mit ihr sei. Das überraschte mich nicht. Sie hätten sie in der Oberschule sehen sollen. Alle Jungen waren in sie verknallt.«
»Hatte sie einen festen Freund damals?« fragte Inspektor Rohn.
»Nein, das war in jenen Jahren nicht denkbar. Als Kader der Roten Garden war sie viel zu sehr mit der Revolution beschäftigt.« Dann fügte Lihua hinzu: »Heimliche Verehrer vielleicht, aber keinen festen Freund.«
»Also, sagen wir Verehrer«, präzisierte Chen. »Können Sie uns einen von ihnen nennen?«
»Davon gab es eine Menge. Einige waren auch bei dem Klassentreffen. Die sind zum Teil ziemlich fertig, so wie Su Shengyi, völlig mittellos. Seinerzeit war auch er ein Kader bei den Roten Garden; er kam oft zu uns nach Hause. Er ist bloß wegen dem kostenlosen Essen zu dieser Party gekommen, genau wie ich. Nach ein paar Gläsern hat er mir mit feuchten Augen erklärt, wie er Wen damals bewunderte. Auch Qiao Xiaodong war da. Er ist schon in Frührente, grauhaarig und völlig desillusioniert.
Qiao hat den Li Yuhe in der Revolutionsoper Die Rote Laterne gespielt. Die beiden waren in derselben Sing- und Tanzgruppe. Wie sich die Zeiten doch ändern.«
»Und was ist mit dem Senkrechtstarter, der das Klassentreffen finanziert hat?«
»Liu Qing. Er ist 1978 an die Uni gegangen und war dann Reporter bei der Wenhui-Zeitung. Hat auch Gedichte veröffentlicht. Inzwischen hat er seine eigene Firma mit Filialen in Shanghai und Suzhou. Der ist Millionär.«
»Zählte Liu auch zu ihren heimlichen Verehrern?«
»Nein, das glaube ich nicht. Er hat nicht mit mir geredet. War zu beschäftigt, den anderen Klassenkameraden zuzuprosten. Zhu hat gesagt, daß dieser Liu in der Oberschule ein Niemand war. Ein Bücherwurm mit schwarzem Familienhintergrund. So einer hätte sich nicht angemaßt, Wen zu bewundern. Das wäre ja, als ob einer häßlichen Kröte beim Anblick eines weißen Schwans das Maul tropfte. Das Rad des Schicksals dreht sich wirklich schnell; es braucht längst keine sechzig Jahre.«
»Ein anderes Sprichwort«, erklärte Chen. ›»Das Rad des Schicksals dreht sich alle sechzig Jahre um sich selbst.‹«
Catherine nickte.
»Meine arme Schwester war mit sechzehn praktisch am Ende. Sie war zu stolz, um zu diesem Klassentreffen zu kommen.«
»Sie hat einfach zu viel gelitten«, schaltete sich Catherine ein. »Manche Menschen ziehen sich nach traumatischen Erlebnissen völlig in sich zurück. Aber wo Leben ist, da ist immer auch Hoffnung. Gibt es niemanden in Shanghai, mit dem Ihre Schwester hätte Kontakt aufnehmen können?«
»Allenfalls Zhu Xiaoying.«
»Haben Sie Zhus Adresse?« fragte Chen. »Und die Adressen anderer Klassenkameraden wie Su Shengyi und Qiao Xiaodong?«
Lihua holte ein Adreßbuch und schrieb ein paar Zeichen auf ein Blatt Papier. »Fünf von ihnen habe ich hier drin. Was Bai Bing betrifft, bin ich mir nicht sicher. Er wohnte nur vorübergehend dort. Er zieht ständig um, verkauft gefälschte Markenartikel in Shanghai und anderswo. Und von Liu Qing habe ich keine Adresse, aber die werden Sie leicht rauskriegen.«
»Noch eine Frage. Warum hat sie nach der Kulturrevolution nicht versucht, nach Shanghai zurückzukommen?«
»Das hat sie in ihren Briefen nie erwähnt.« Seine Stimme schwankte leicht. Diesmal fuhr er sich mit der Hand über den Mund. »Zhu kann Ihnen vielleicht mehr dazu sagen. Sie selbst ist Anfang der achtziger Jahre zurückgekommen.«
Als sie aufstanden, sagte Lihua zögernd: »Ich bin noch immer ganz verwirrt, Oberinspektor Chen.«
»Verstehe. Haben Sie noch Fragen?«
»Heutzutage gehen so viele Leute ins Ausland – legal oder illegal. Vor allem Leute aus Fujian. Ich habe schon so manches davon gehört. Was macht den Fall meiner Schwester so wichtig für Sie?«
»Die Situation ist ziemlich kompliziert«, sagte Chen und schrieb seine Handy-Nummer auf eine Visitenkarte. »Sagen wir so. Ihre sichere Ankunft dort drüben ist sowohl im Interesse Chinas wie auch der Vereinigten Staaten. Womöglich sucht eine Geheimgesellschaft aus Fujian nach ihr. Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn diese Leute sie finden. Also sagen Sie uns sofort Bescheid, falls sich Ihre Schwester bei Ihnen meldet.«
»Das werde ich, Oberinspektor Chen.«