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Lius BÜRO war um einiges größer als das von Chen im Shanghaier Polizeipräsidium. Und bei weitem luxuriöser eingerichtet: ein riesiger U-förmiger Stahlrohrtisch, ein drehbarer Schreibtischstuhl aus Leder und mehrere Ledersessel, dazu Regale voll gebundener Bücher. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner Computerturm mit Laserdrucker. Liu setzte sich in einen Sessel und bot Chen einen anderen an.
Auf den Regalbrettern bemerkte Chen mehrere vergoldete Buddha-Statuetten. Jede von ihnen war in eine farbige Seidenrobe gehüllt. Das erinnerte ihn an eine Szene, die er zusammen mit seiner Mutter in einem efeuüberwachsenen Tempel in Hangzhou erlebt hatte. Eine vergoldete Gipsstatue Buddhas thronte hoch auf einer Mauer, während Pilger in Lumpen vor ihr knieten und ihr goldene und silberne Seidengewänder darbrachten. Diese Zeremonie nannte man die »Einkleidung Buddhas«, hatte ihm seine Mutter erklärt, und je teurer die dargebrachten Gewänder, desto devoter der Pilger. Buddha würde den Gaben gemäß seine Wunder vollbringen. Er hatte es seiner Mutter nachgetan und Räucherstäbchen angezündet, wobei er sich auf drei Wünsche konzentrierte. Was diese Wünsche gewesen waren, hatte er längst vergessen, nicht aber die Verwirrung, die er dabei empfunden hatte.
Glaube daran, und alles wird möglich. Oberinspektor Chen konnte nicht ahnen, ob Liu an die Kraft dieser Figürchen glaubte oder ob er sie lediglich dekorativ fand. Jedenfalls schien er überzeugt zu sein, daß er das Richtige tat.
»Tut mir leid, daß ich so heftig geworden bin«, sagte Liu. »Diese amerikanische Beamtin hat ja keine Ahnung, wie die Dinge hier in China laufen.«
»Dafür kann sie nichts. Auch ich habe erst gestern abend detaillierteren Einblick in Wens früheres Leben bekommen.
Inspektor Rohn weiß davon nichts. Deshalb wollte ich mit Ihnen allein sprechen.«
»Wenn Sie wissen, wie dieses Scheusal von Ehemann ihr das Leben zur Hölle gemacht hat, wie können Sie sie dann zu ihm schicken? Sie können sich nicht vorstellen, wie wir Wen damals in der Schulzeit verehrt haben. Sie war in allem unsere Anführerin, ihre langen Zöpfe flatterten um ihre Brust, ihre Wangen waren rosiger als Pfirsichblüten im Frühlingswind … Aber warum erzähle ich Ihnen das?«
»Bitte erzählen Sie mir soviel wie möglich, damit ich einen ausführlichen Bericht für das Präsidium schreiben kann«, sagte Chen und holte sein Notizbuch hervor.
»Gut, wenn Ihnen das weiterhilft«, sagte Liu überrascht.
»Von Anfang an. Von Ihrer ersten Begegnung mit Wen.«
Liu war 1967 in die weiterführende Schule gekommen, zu einer Zeit, als man seinen Vater, den Besitzer einer Parfümfabrik, als Klassenfeind denunzierte. Liu selbst wurde daher von seinen Kameraden, unter ihnen auch Wen, zu den verachteten »Schwarzen Welpen« gerechnet. Sie gingen in dieselbe Klasse. Wie viele andere war auch er von ihrer Schönheit fasziniert, hatte jedoch nie gewagt, sich ihr zu nähern. Als Sohn einer »Schwarzen Familie« war er einer Rotgardistin nicht würdig. Das Wen auch Kader der Roten Garden war, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen noch. Wen sang mit der Klasse Revolutionslieder, ließ sie politische Slogans skandieren und die Worte des Vorsitzenden Mao studieren, das einzige Schulbuch, das damals erlaubt war. Daher sah er in ihr eine Art aufsteigende Sonne, die er aus der Ferne verehrte.
In jenem Jahr war sein Vater wegen einer Augenoperation ins Krankenhaus gekommen. Selbst auf den Stationen schwärmten die Roten Garden oder Roten Rebellen umher wie zornige Wespen. Man zwang seinen Vater, aufzustehen und mit verbundenen Augen vor dem Bild Maos Selbstkritik zu üben. Das war eine Unmöglichkeit für einen Kranken, der weder stehen noch sehen konnte. Also mußte Liu ihm helfen, indem er zunächst eine Selbstkritik für ihn schrieb. Keine leichte Aufgabe für einen Dreizehnjährigen. Nachdem er sich eine Stunde lang den Kopf zerbrochen hatte, standen lediglich zwei oder drei Zeilen auf dem Papier. In seiner Verzweiflung rannte er mit Papier und Füller auf die Straße hinaus, wo er zufällig Wen Liping und ihrem Vater begegnete. Sie begrüßte ihn lächelnd, und ihre Fingerspitzen berührten den Füllhalter. Die goldene Kappe des Füllers begann im Sonnenlicht zu leuchten. Er kehrte nach Hause zurück und beendete die Rede mit dem einzigen funkelnden Schatz, den er auf dieser Welt besaß. Danach ging er ins Krankenhaus, stützte seinen Vater und las, ungerührt von der Erniedrigung, wie ein Roboter die Selbstkritik vor. Dieser Tag vereinte für ihn den hellsten und den dunkelsten Moment.
Die drei Jahre Oberschule verflossen wie Wasser und mündeten in eine Flut, die sich Landverschickung nannte. Er landete mit einer Gruppe seiner Klassenkameraden in der Provinz Heilongjiang. Sie ging allein nach Fujian. Es war am Tag ihrer Abfahrt vom Shanghaier Bahnhof, als er das Wunder seines Lebens erlebte, indem er mit ihr zusammen das rote Papierherz mit dem Schriftzeichen »loyal« hielt. Wens Finger hielten nicht nur das rote Pappeherz empor, sondern hoben auch ihn aus dem verachteten Status eines »Schwarzen Welpen«, so daß er ihr endlich auf Augenhöhe gegenüberstand.
Das Leben in Heilongjiang war hart. Doch die Erinnerung an den Loyalitätstanz bedeutete für ihn ein unfehlbares Licht am Ende des endlos scheinenden Tunnels. Als er von ihrer Heirat erfuhr, war er am Boden zerstört. Ironischerweise brachte ausgerechnet das ihn dazu, erstmals über seine eigene Zukunft nachzudenken, eine Zukunft, in der er in der Lage sein wollte, sie zu unterstützen. Daraufhin begann er, mit wilder Entschlossenheit zu lernen.
Wie viele andere kehrte auch Liu 1978 nach Shanghai zurück. Dank der Selbststudien, die er in Heilongjiang betrieben hatte, bestand er die Aufnahmeprüfung und konnte sich noch im selben Jahr an der Pädagogischen Hochschule Ostchina immatrikulieren. Neben seinen intensiven Studien forschte er nach ihr, doch sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Keiner wußte etwas über sie. Während seiner vier Studienjahre kam sie kein einziges Mal nach Shanghai zurück. Nach dem Abschluß bekam er eine Stelle als Reporter bei der Wenhui-Zeitung. Er war für die Berichterstattung über die Shanghaier Industrie zuständig und schrieb nebenher Gedichte. Eines Tages erfuhr er, daß seine Zeitung einen Sonderbericht über eine kommuneeigene Fabrik in Fujian machen wollte. Er bekundete Interesse an der Aufgabe und wurde losgeschickt. Er kannte den Namen des Dorfes nicht, in dem Wen lebte, und eigentlich hatte er auch nicht vor, nach ihr zu suchen. Der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein, genügte ihm. Doch es gibt keine Geschichten ohne Zufälle. Als er die Werkshalle ihrer Fabrik betrat, war er schockiert.
Nach der Besichtigung führte er ein langes Gespräch mit dem Fabrikleiter. Dieser mußte etwas bemerkt haben, denn er erzählte ihm, wie krankhaft eifersüchtig und gewalttätig Feng sei. In jener Nacht dachte er lange nach. Nach all den Jahren verspürte er noch immer dieselbe unstillbare Leidenschaft für sie. In seinem Kopf schien eine drängende Stimme zu sagen: Erklär ihr alles. Es ist noch nicht zu spät.
Doch am folgenden Morgen erwachte er in der Realität und verließ eilends das Dorf. Er war ein erfolgreicher Reporter, der Gedichtbände veröffentlichte und jüngere Freundinnen hatte. Sich ausgerechnet eine verheiratete Frau mit Kind auszusuchen, die nicht einmal mehr hübsch war, dazu fürchtete er zu sehr die Kommentare anderer.
Nach Shanghai zurückgekehrt, reichte er seine Reportage ein. Sein Chef fand sie poetisch. »Eine revolutionäre Poliererin poliert das Antlitz unserer Gesellschaft auf Hochglanz.« Die Metapher wurde vielfach zitiert. Die Reportage war wohl auch in der Fujianer Lokalpresse nachgedruckt worden, und er fragte sich, ob sie sie gelesen hatte. Er dachte daran, ihr zu schreiben. Doch was hätte er sagen können? Statt dessen verarbeitete er seine Erlebnisse in einem Gedicht, das in der Zeitschrift Sterne veröffentlicht und zum besten Gedicht des Jahres gekürt wurde.
Dieser Vorfall nahm ihm seine Illusionen über den Journalistenberuf und trug dazu bei, daß er bei der Zeitung kündigte. Er hätte keinen besseren Zeitpunkt wählen können, denn in den frühen achtziger Jahren waren noch nicht viele bereit, die Sicherheit der eisernen Reisschale, also die Anstellung in einem staatseigenen Betrieb, aufzugeben. Das gab ihm gute Startbedingungen, und die guanxi, die er sich während seiner Zeit als Wenhui-Reporter verschafft hatte, halfen ebenfalls. Er verdiente unheimlich viel Geld. Dann traf er die Studentin Zhenzhen. Sie verliebte sich in ihn, sie heirateten, bekamen im Jahr darauf eine Tochter, und seine Geschäfte florierten. Als die Anthologie mit den besten Gedichten schließlich erschien, hatte er keine Zeit mehr für Lyrik. Aus einem Impuls heraus schickte er Wen ein Exemplar zusammen mit seiner Visitenkarte. Er erhielt keine Antwort, aber das hatte er auch gar nicht erwartet.
Einmal bat er einen Geschäftsmann aus Fujian, ihr anonym dreitausend Yuan zukommen zu lassen. Aber sie nahm das Geld nicht an. Sein täglicher Geschäftsalltag ließ ihm keine Zeit für Gefühle, und er glaubte, sie vergessen zu haben.
Um so erstaunter war er, als sie vor einigen Tagen plötzlich in sein Büro trat. Sie hatte sich sehr verändert, man hätte sie für eine ganz normale Bauersfrau halten können. Doch vor seinem geistigen Auge war sie noch immer die Sechzehnjährige von damals; dasselbe ovale Gesicht, dieselbe Zärtlichkeit im Blick, dieselben schlanken Finger, die seinerzeit das rote Pappherz hochgehalten hatten. Er hatte nicht eine Sekunde lang gezögert. Sie war ihm im dunkelsten Augenblick seines Lebens zu Hilfe gekommen. Jetzt war die Reihe an ihm.
Liu hielt inne und nahm einen Schluck Tee.
»Dann ist sie für Sie also eine Art Symbol Ihrer verlorenen Jugend«, sagte Chen. »Daher ist es gleichgültig, daß sie nicht länger jung und hübsch ist.«
»Im Gegenteil, die Veränderung ihres Äußeren macht es nur um so anrührender.«
»Und um so romantischer.« Chen nickte. »Was hat sie Ihnen über sich erzählt?«
»Daß sie sich für ein paar Tage aus dem Dorf fernhalten muß.«
»Haben Sie sie nach dem Grund gefragt?«
»Sie sagte, daß sie Feng nicht in die Vereinigten Staaten folgen wolle, aber befürchte, keine andere Wahl zu haben.«
»Was meinte sie damit?« wollte Chen wissen. »Wenn sie keine Wahl hatte, warum hat sie dann die weite Reise zu Ihnen gemacht?«
»Ich wollte sie nicht bedrängen. Sie brach während unseres Gesprächs ein paarmal in Tränen aus. Ich denke, es ist wegen ihrer Schwangerschaft.«
»Dann hat sie Ihnen ihre Beweggründe also nie wirklich erklärt?«
»Jedenfalls muß sie welche gehabt haben. Vielleicht wollte sie sich über ihre Zukunft klar werden und konnte das in ihrem Dorf nicht.«
»Hat sie mit Ihnen über ihre Pläne gesprochen?«
»Nein. Sie scheint es nicht eilig zu haben.« Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Nachdem sie mit einem Monster wie Feng verheiratet ist, wundert es mich nicht, daß sie ihre Absichten geändert hat.«
»Tja …« Chen spürte, daß es nutzlos war, weiter in Liu zu dringen. Er hätte sie auch ohne jede Erklärung bei sich aufgenommen. »Ich will Ihnen etwas erzählen, das Sie offenbar noch nicht wissen. Sie ist aus dem Dorf geflohen, nachdem sie einen Anruf von Feng bekam, der ihr sagte, ihr Leben werde von Gangstern bedroht.«
»Das hat sie mir nicht erzählt. Ich habe sie nicht gefragt, und sie war nicht dazu verpflichtet.«
»Es ist verständlich, daß sie Ihnen nicht alles gesagt hat, aber wir wissen, daß sie mit der Absicht kam, ein paar Tage hierzubleiben – nicht um nachzudenken, sondern um sich vor der örtlichen Geheimgesellschaft zu verstecken.«
»Ich bin froh, daß sie sich in ihrer Not an mich gewandt hat.« Liu zündete sich eine Zigarette an.
»Nach unseren Informationen hätte sie Feng, ihren Mann, anrufen sollen, sobald sie an einem sicheren Ort wäre. Bislang hat sie das nicht getan. Und jetzt will sie trotz unserer Sicherheitsgarantien nicht zu ihm. Ihr Entschluß scheint festzustehen.«
»Hier kann sie bleiben, so lange sie möchte«, erwiderte Liu darauf. »Glauben Sie denn, daß sie dort ein gutes Leben hätte?«
»Viele Leute würden das so sehen. Schauen Sie sich nur die langen Wartelisten für Visa beim amerikanischen Konsulat in Shanghai an. Nicht zu reden von denen, die illegal ausreisen wie Wens Mann.«
»Ein gutes Leben an der Seite dieses Schweins?«
»Sie ist immer noch mit ihm verheiratet. Und wenn sie hierbleibt, bei Ihnen, was werden dann die Leute denken?«
»Mir ist allein wichtig, was sie denkt«, sagte Liu. »Als sie sich in ihrer Notlage an mich wandte, mußte ich ihr zumindest ein Obdach anbieten.«
»Sie haben viel für Wen getan. Ich habe das Bild auf ihrem Paßantrag gesehen. Heute sieht sie völlig verändert aus. Man glaubt kaum, daß es dieselbe Person ist.«
»Ja, sie ist wieder auferstanden. Sie werden diese Formulierung wohl für zu romantisch halten.«
»Nein, sie beschreibt die Sache genau, nur daß wir heutzutage nicht mehr in einem romantischen Zeitalter leben.«
»Romantik findet nicht dort draußen statt, Oberinspektor Chen. Romantik existiert nur im Geist«, sagte Liu und schüttelte den Kopf. »Sie wollten, daß ich Ihnen erzähle, was ich weiß, und das habe ich getan. Was haben Sie mir darauf zu sagen?«
»Lassen Sie mich gleichziehen«, sagte Chen, obwohl er wußte, daß er dazu nicht in der Lage war. »Ich bewundere Ihre Entschlossenheit, Wen zu helfen, deshalb erlaube ich mir, jetzt etwas ganz Persönliches zu äußern.«
»Bitte, nur zu.«
»Sie spielen mit dem Feuer.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wen weiß um Ihre Gefühle für sie, nicht wahr?«
»Ich habe sie immer gemocht, schon in der Oberschule. Das ist lange her. Ich muß die Vergangenheit nicht wegwischen.«
»Aber Ihre Gefühle sind dieselben geblieben; Sie empfinden für die Mittvierzigerin, die mit dem Kind eines anderen schwanger ist, dasselbe wie für die Schulprinzessin von damals«, sagte Chen. »Sie sind ein Großverdiener, und es ist nur natürlich, daß eine Frau Ihnen zu Füßen liegt, zumal nach all dem, was Sie für Wen getan haben. Sie kann gar nicht anders, als Ihre Sympathie erwidern.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Oberinspektor Chen.«
»Nein, das verstehen Sie nicht. Und zwar deshalb, weil Sie weiter Ihrem Jugendtraum nachhängen und diese Frau nur als Teil dieser schönen Erinnerung sehen. Solange Wen mit ihrer Rolle als irreale Traumfee zufrieden ist, mag das auch funktionieren zwischen Ihnen beiden. Doch nach einer Weile wird die reale Frau aus Fleisch und Blut dahinter zum Vorschein kommen. Eines romantischen Abends wird sie sich Ihnen in die Arme werfen. Und was werden Sie dann tun?« Chen konnte seinen Sarkasmus nicht unterdrücken. »Werden Sie nein sagen? Das wäre gar zu grausam. Und wenn Sie ja sagen, was geschieht dann mit Ihrer Familie?«
»Wen weiß, daß ich verheiratet bin. Ich glaube nicht, daß sie so etwas tun würde.«
»Das glauben Sie nicht? Also werden Sie die alte Schulfreundin über Monate, womöglich über Jahre hier wohnen lassen. Ja, Sie schätzen sich glücklich, ihr helfen zu können. Aber wird sie es auch schätzen, ständig ihre Gefühle unterdrücken zu müssen?«
»Was schlagen Sie denn verdammt noch mal vor? Soll ich sie vielleicht vor die Tür setzen? Sie einem Ehemann in die Arme treiben, der sie mißhandelt?« erwiderte Liu wütend. »Oder sie einer Bande ausliefern, die sie wie ein Kaninchen jagt?«
»Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.«
»Worüber?«
»Über die Drohungen der Geheimgesellschaft. Während wir hier sitzen, sind diese Kerle fieberhaft auf der Suche nach ihr. Wie auch immer das Präsidium auf meinen Bericht reagieren wird, ich kann nicht umhin, ihn zu schreiben. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß die Triade sehr bald herausfinden wird, daß Wen sich hier aufhält.«
»Wie denn?« wollte Liu wissen. »Die Polizei wird doch die Information nicht an diese Kriminellen weiterleiten?«
»Das nicht, aber Triaden haben ihre Maulwürfe. Genauso wie sie von dem Handel erfahren haben, auf den Feng sich eingelassen hat, werden sie auch Wens Aufenthaltsort rauskriegen. Während der letzten paar Tage sind Inspektor Rohn und ich ständig beschattet worden.«
»Wirklich?«
»Am ersten Tag wurde Inspektor Rohn beinahe von einem Motorrad überfahren. Am zweiten brach eine Treppenstufe durch, als wir das Haus eines Zeugen verließen. Am dritten wurde, nur wenige Stunden nach unserem Besuch, eine Schwangere aus Guangxi entführt, die die Bande offenbar für Wen gehalten hatte. Hauptwachtmeister Yu wurde in seinem Hotel in Fujian beinahe vergiftet. Und vorgestern gerieten wir fast in eine Polizeirazzia, die nur inszeniert war, um uns auf dem Huating-Markt zu überraschen.«
»Und Sie sind sicher, daß all diese Zwischenfälle auf das Konto dieser Banditen gehen?«
»Derartige Zufälle gibt es nicht. Diese Leute haben ihre Ohren bei den Dienststellen in Shanghai und Fujian. Die Lage ist ernst.«
Liu nickte. »Sie machen sich zunehmend auch in der Geschäftswelt breit. Einige Firmen haben solche Gangster angeheuert, um Schulden für sie einzutreiben.«
»Jetzt verstehen Sie mich vielleicht besser, Liu. Nach meinen jüngsten Informationen werden die Kerle sie auch nach dem Verhandlungstermin nicht in Ruhe lassen, unabhängig davon, ob Feng mitspielt oder nicht.«
»Aber warum? Das verstehe ich nicht.«
»Fragen Sie nicht nach dem Warum. Nach allem, was ich weiß, sind sie entschlossen, sie aufzustöbern und ein Exempel an ihr zu statuieren. Und ich bezweifle nicht, daß ihnen das gelingen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit. Sie macht sich etwas vor, falls sie meint, alles würde gut werden, wenn sie hier bei Ihnen bleibt.«
»Können denn Sie als Oberinspektor nichts für sie tun, für eine schwangere Frau?«
»Ich wünschte, ich könnte es, Liu. Glauben Sie vielleicht, es fällt mir leicht, meine Machtlosigkeit einzugestehen? Ich bin ein lächerlicher Polizist, dem die Hände gebunden sind. Nichts würde mich mehr freuen, als ihr helfen zu können.«
In seiner Stimme schwang seine ganze Frustration mit. Für einen Polizisten bedeutet das Eingeständnis seiner Machtlosigkeit mehr als bloßen Gesichtsverlust. Immerhin entdeckte er Sympathie in Lius Blick.
»Wenn Sie dies alles in Betracht ziehen«, fuhr Chen mit tiefem Ernst fort, »dann müssen Sie sehen, daß es in Wens eigenem Interesse ist, das Land zu verlassen. Sie haben keine Möglichkeit, sie noch länger zu schützen.«
»Aber ich kann sie doch nicht zu diesem Scheusal schicken, damit der sie den Rest seines Lebens quält.«
»Ich glaube nicht, daß sie das zulassen wird. Die vergangenen Tage hier haben sie verändert. Sie ist auferstanden, wie Sie das ausgedrückt haben. Ich bin sicher, daß sie neuen Halt gefunden hat.« Dann fügte er hinzu: »Außerdem wird Inspektor Rohn sich dort um sie kümmern. Sie wird in Wens Interesse handeln. Dafür werde ich sorgen.«
»Dann sind wir also wieder da, wo wir angefangen haben. Wen muß gehen.«
»Nein. Wir überblicken die Situation jetzt besser als zuvor. Ich werde versuchen, ihr das alles zu erklären, und dann soll sie selbst entscheiden.«
»Einverstanden, Oberinspektor Chen«, sagte Liu. »Reden Sie mit ihr.«