2
»SIE HABEN es weit gebracht, Genosse Oberinspektor Chen.« Parteisekretär Li Guohua vom Shanghaier Polizeipräsidium begrüßte ihn lächelnd und ließ sich dann in seinen dunkelbraunen Lederdrehstuhl zurücksinken, der am Fenster stand. Von seinem geräumigen Büro aus überblickte man die ganze Shanghaier Innenstadt.
Oberinspektor Chen saß auf der anderen Seite des Mahagonischreibtischs und blies in eine Schale grünen Drachenbrunnentees, ein Genuß, wie er im Büro des einflußreichen Parteisekretärs nur wenigen zuteil wurde.
Als aufstrebender Kader mit Aussicht auf weitere Beförderungen war Chen seinem Mentor in vielfacher Weise verbunden. Li hatte bei Chens Parteieintritt als Bürge fungiert, hatte ihm die internen Machtverhältnisse entschlüsselt und ihn auf seinen derzeitigen Posten gehievt. Als ein mittlerweile fünfzigjähriger Polizist, der seine Arbeit von der Pieke auf gelernt hat, hatte Li im Präsidium alle Ebenen durchlaufen, bevor er seine jetzige leitende Position übernahm. Dabei hatte er viele politische Bewegungen und Parteikämpfe hinter sich gebracht und offenbar immer auf die Sieger gesetzt. Daß er Chen nun als seinen Nachfolger aufbaute, werteten die Kollegen als weiteren klugen Schachzug, zumal nachdem einige Eingeweihte von dessen Beziehung zu Ling, der Tochter eines Pekinger Politbüromitglieds, erfahren hatten. Doch fairerweise mußte man Li zugestehen, daß er selbst erst nach Chens Beförderung davon gehört hatte.
»Vielen Dank, Parteisekretär Li. Wie der Weise sagt: ›Ein Mann ist bereit, sein Leben zu opfern für jemanden, der ihn schätzt; eine Frau dagegen macht sich schön für denjenigen, der sie schätzt.‹«
Nach wie vor galten Konfuzius-Zitate nicht gerade als politisch korrekt, doch Chen vermutete, daß Li durchaus Gefallen daran fand.
»Die Partei hatte immer eine hohe Meinung von Ihnen«, sagte Li in bestem Kaderton. Seine Mao-Jacke war trotz des warmen Wetters bis zum Kinn geknöpft. »Das ist eine Aufgabe für Sie, Oberinspektor Chen, und für keinen anderen.«
»Sie haben also schon davon gehört?« Es überraschte Chen nicht, daß jemand seinem Vorgesetzten den Mordfall des heutigen Morgens bereits gemeldet hatte.
»Sehen Sie sich dieses Foto an.« Li zog einen Abzug aus einem braunen Umschlag auf dem Schreibtisch. »Das ist Inspektor Catherine Rohn, eine Mitarbeiterin des U. S. Marshals Service.«
Das Bild zeigte eine hübsche junge Frau Ende Zwanzig, deren intelligente blaue Augen in die Sonne blitzten.
»Ziemlich jung noch.« Chen betrachtete das Foto mit einiger Verwirrung.
»Inspektor Rohn hat an der Universität Chinesisch gelernt. Sie ist eine Art China-Expertin beim U.S. Marshals Service. Und Sie sind der Gelehrte in unserer Mannschaft.«
»Moment mal, Parteisekretär Li, von welcher Aufgabe sprechen Sie?«
Vor dem Bürofenster war in der Ferne die eine oder andere Sirene zu hören.
»Inspektor Rohn wird Wen Liping in die Vereinigten Staaten begleiten. Und Ihre Aufgabe wird es sein, sie bei dieser Mission zu unterstützen.« Li räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Eine überaus wichtige Funktion, Oberinspektor Chen, und wir wissen, daß wir uns auf Sie verlassen können.«
Chen wurde klar, daß Li von etwas völlig anderem sprach.
»Wer ist diese Wen Liping? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie von mir wollen, Parteisekretär Li.«
»Wen Liping ist die Frau von Feng Dexiang.«
»Und wer ist Feng Dexiang?«
»Ein Bauer aus Fujian und jetzt wichtiger Zeuge in einem Fall von illegaler Einwanderung in Washington.«
»Was ist denn so Besonderes an diesem Feng?«
Li füllte Chens Teeschale mit heißem Wasser auf. »Haben Sie schon einmal von Jia Xizhi gehört?«
»Jia Xizhi – natürlich, der berüchtigte Triaden-Boß aus Taiwan.«
»Jia ist in eine Reihe internationaler Kriminalfälle verwickelt. Er ist ein sogenannter Schlangenkopf, betreibt also Menschenschmuggel im großen Stil. In New York konnte er im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten verhaftet werden. Um ihn verurteilen zu können, brauchen die amerikanischen Behörden einen Zeugen, der seine Verbindung zu dem Flüchtlingsschiff Goldene Hoffnung bestätigt.«
»Ach, ich erinnere mich, vor ein paar Monaten über diesen schrecklichen Vorfall gelesen zu haben. Das Schiff ist mit über dreihundert Chinesen an Bord an der amerikanischen Küste gestrandet. Als die Küstenwache vor Ort ankam, war nur noch eine kranke, schwangere Frau auf dem Schiff. Sie war zu schwach gewesen, um in eines der Fischerboote zu springen, die die Leute an Land bringen sollten. Später wurden die Leichen derer entdeckt, die die Boote verfehlt hatten.«
»Genau, das war das Schiff«, bestätigte Li. »Sie sind also über die Hintergründe im Bilde. Jia ist der Eigner der Goldenen Hoffnung.«
»Gegen diesen Menschenschmuggel muß etwas unternommen werden«, sagte Chen und stellte seine Schale ab, in der die Teeblätter plötzlich nicht mehr so grün leuchteten. »Die Lage hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr zugespitzt. Besonders in den Küstengebieten. Das ist nicht die Art und Weise, wie sich Chinas Öffnung vollziehen sollte.«
»Feng Dexiang war einer der Passagiere der Goldenen Hoffnung. Er konnte sich in ein Fischerboot retten. Dann hat er in New York Tag und Nacht als Schwarzarbeiter malocht, um die Überfahrt abzubezahlen.«
»Ich habe gehört, wie diese Leute schuften müssen. Den meisten ist nicht klar, was sie dort erwartet. Wir müssen den Schlangenköpfen das Handwerk legen.«
»Jia ist schlüpfriger als ein Aal. Die Amerikaner sind seit Jahren hinter ihm her. Jetzt sehen sie endlich eine Chance, ihn wegen der ertrunkenen Passagiere dranzukriegen«, erklärte Li. »Feng wurde wegen einer Bandenschlägerei in New York verhaftet. Nachdem ihm Verurteilung und Deportation drohten, hat er sich mit den Behörden auf einen Handel eingelassen und will als Zeuge gegen Jia aussagen.«
»War Feng der einzige Passagier der Goldenen Hoffnung, den man gefunden hat?«
»Nein, man hat noch einige andere erwischt.«
»Warum ist man dann bloß mit ihm handelseinig geworden?«
»Illegale Einwanderer aus China ersuchen normalerweise um politisches Asyl, sobald sie geschnappt werden, und zwar mit der Begründung, daß durch die Zwangsabtreibungen im Rahmen der Ein-Kind-Politik ihre Menschenrechte verletzt würden. Da ihnen das in aller Regel gewährt wird, sind sie auf einen solchen Kuhhandel mit den amerikanischen Behörden nicht angewiesen. Feng aber hatte keine Basis für einen Asylantrag. Sein einziger Sohn ist vor einigen Jahren gestorben, daher hat er sich zur Kooperation entschlossen.«
»Was für ein schlauer Fuchs!« sagte Chen. »Aber Jia ist nicht nur ein Schlangenkopf, der mit illegaler Einwanderung Geld verdient, er ist auch ein Drachenkopf – der Boß einer international operierenden Geheimgesellschaft. Sobald Fengs Identität ans Licht kommt, muß Feng mit gnadenloser Vergeltung rechnen.«
»Da seine Zeugenaussage für Jias Verurteilung unerläßlich ist, haben die Amerikaner Feng in ihr Zeugenschutzprogramm aufgenommen, das in Zusammenarbeit mit den U.S. Marshals läuft. Ferner haben sie seinem Antrag auf Familienzusammenführung mit seiner schwangeren Frau Liping stattgegeben. Und deswegen brauchen sie unsere Hilfe.«
»Wenn diese Verurteilung dazu beitragen kann, die Flut illegaler Auswanderer aus China zu stoppen, dann nützt das beiden Staaten.« Chen tastete in seiner Tasche nach der Zigarettenschachtel. »Ich hasse diese westliche Propaganda, die unsere Regierung als Drahtzieher im Hintergrund hinstellt.«
»Es ist unserer Regierung nicht leichtgefallen, diesem Ersuchen nachzukommen.«
»Warum?«
»Nun, einige der alten Genossen mögen die Art nicht, wie die Amerikaner alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen.« Li bot ihm aus seinem Silberetui eine Filterzigarette der Marke »Panda« an, die nur höheren Kadern zugänglich war. »Auch wird es unseren Versuch, die illegale Auswanderung zu stoppen, nicht gerade fördern, wenn wir den Leuten auch noch ihre Familien nachschicken. Daß wir den Nachzug behindert haben, war eine unserer effektivsten Maßnahmen gegen den Menschenschmuggel. Die Leute brauchen Jahre, um dort als Asylanten anerkannt zu werden. Und wenn wir dann Schwierigkeiten mit dem Familiennachzug machen, dauert es noch viel länger.«
»Also müssen sie sich vorher gut überlegen, ob sie eine so lange Trennung in Kauf nehmen wollen.«
»Genau. Könnte Wen ihrem Mann jetzt schon folgen, würde das völlig falsche Signale setzen. Dennoch haben sich unsere Regierungen nach langen Debatten auf höchster Ebene zu dieser Kooperation entschlossen.«
»Sie erfolgt also im Interesse beider Staaten.« Chen wählte seine Worte mit Bedacht. »Wenn wir nicht kooperieren, werden die Amerikaner denken, wir hätten ein Interesse an der Fortführung des illegalen Menschenschmuggels.«
»Das ist genau das, was ich heute morgen bei einer Telekonferenz mit dem Ministerium gesagt habe.«
»Da die Einigung nun mal erzielt wurde, muß Wens Ausreise erfolgen.« Chen griff erneut nach dem Foto. »Aber warum müssen die U.S. Marshals dafür eine Beamtin bis nach Shanghai schicken?«
»Unsere lokale Polizei hat ziemlich lange gebraucht, um die nötigen Dokumente und Genehmigungen einzuholen. Feng seinerseits beteuert, er werde nur aussagen, wenn seine Frau vor dem Verhandlungstermin eintrifft. Die Amerikaner werden langsam nervös. Inspektor Rohns Reise dient angeblich dazu, Wen bei ihrem Visumantrag zu helfen, in Wirklichkeit aber will man uns unter Druck setzen.«
»Wann soll die Verhandlung beginnen?«
»Am vierundzwanzigsten April. Und heute haben wir den achten.«
»Dann müssen wir uns beeilen. In Ausnahmefällen können Visum und Paß doch sicher innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausgestellt werden. Warum ist das eine Aufgabe für mich?«
»Weil Fengs Frau verschwunden ist. Das Ministerium in Peking hat erst gestern abend davon erfahren, und Inspektor Rohn ist bereits unterwegs.«
»Aber wie konnte das passieren?«
»Wir haben keine Ahnung. Wie auch immer, ihr Verschwinden bringt uns in eine höchst peinliche Lage. Die Amerikaner werden vermuten, daß wir die Abmachungen unterlaufen wollen.«
Oberinspektor Chen runzelte die Stirn. Für einen Normalbürger konnte die Ausstellung eines Passes Monate dauern, doch da die Zentralregierung grünes Licht gegeben hatte, hätte die lokale Polizeidienststelle sofort aktiv werden können. Und warum war Wen jetzt, nach dieser unerklärlichen Verzögerung, auch noch verschwunden? Womöglich war das Ganze ein abgekartetes Spiel. Wenn es um nationale Interessen ging, war alles möglich. Trotzdem war ein solches Szenario unwahrscheinlich. Peking hätte sich ja von Anfang an weigern können, mit den amerikanischen Behörden zu kooperieren. Ein Rückzieher zum jetzigen Zeitpunkt würde nur Gesichtsverlust bedeuten.
Doch statt Li seine Gedanken mitzuteilen, fragte Chen: »Und was sollen wir jetzt unternehmen, Parteisekretär Li?«
»Wir müssen Wen finden. Die lokale Polizei hat bereits mit der Suche begonnen, und Sie werden die Operation leiten.«
»Soll ich Inspektor Rohn nach Fujian begleiten?«
»Nein, die Ermittlungen werden von den Dienststellen in Shanghai und Fujian gemeinsam durchgeführt. Vorerst werden Sie Inspektor Rohn in Shanghai betreuen.«
»Wie kann ich Ermittlungen in Fujian leiten, wenn ich eine Amerikanerin in Shanghai betreuen soll?«
»Sie ist unser Ehrengast. Dies ist die erste chinesisch-amerikanische Zusammenarbeit in Sachen illegaler Einwanderung«, erläuterte Li. »Was kann sie in Fujian schon ausrichten? Außerdem könnte es dort gefährlich werden. Ihre Sicherheit hat oberste Priorität. Sie werden dafür sorgen, daß ihr Aufenthalt in Shanghai sicher und zu ihrer Zufriedenheit abläuft. Sorgen Sie für gute Unterhaltung, und halten Sie sie auf dem laufenden.«
»Zählt das zu den Aufgaben eines Oberinspektors der chinesischen Polizei?« Chen blickte auf die Fotos, die die Wände von Lis Büro zierten – die steile, ereignisreiche Karriere eines Politikers, der die Hände anderer Politiker schüttelt, Reden auf Parteikongressen hält, für das Polizeipräsidium repräsentiert, einen Termin nach dem anderen wahrnimmt. Li war der führende Parteikader des Präsidiums, dennoch zeigte ihn keines der Bilder bei der Ermittlungsarbeit.
»Aber selbstverständlich. So etwas gehört sogar zu den besonders wichtigen Aufgaben. Die chinesische Regierung ist entschlossen, den Menschenschmuggel zu unterbinden. Amerika darf daran nicht den geringsten Zweifel haben. Wir müssen Inspektor Rohn überzeugen, daß wir unser Bestes tun. Sie wird viele Fragen stellen, und wir werden sie informieren, soweit das möglich ist. Eine solche Aufgabe kann nur einem erfahrenen Beamten wie Ihnen anvertraut werden. Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, daß es dabei eine Grenze zwischen innen und außen zu beachten gilt.«
»Und wo verläuft diese Grenze?« unterbrach ihn Chen, der seine Zigarette in einem Kristallaschenbecher in Schwanenform ausdrückte.
»Inspektor Rohn könnte zum Beispiel Zweifel hinsichtlich der Paßbewilligung hegen. Natürlich ist das Vorgehen unserer Behörden manchmal etwas bürokratisch, aber das ist doch überall auf der Welt so. Man sollte das nicht weiter hochspielen. Wir müssen immer den makellosen Ruf unserer Regierung im Auge haben. Sie werden schon wissen, was Sie sagen müssen, Oberinspektor Chen.«
Er wußte keineswegs, was er sagen sollte. Es würde nicht leicht sein, eine amerikanische Kollegin zu überzeugen, wenn selbst er seine Zweifel hatte. Das Eis unter seinen Füßen war dünn. Politik – Oberinspektor Chen hatte langsam genug davon. Entschieden stellte er seine Teeschale ab.
»Tut mir leid, Parteisekretär Li, aber ich kann diese Aufgabe nicht übernehmen. Ich bin nämlich gekommen, um über einen anderen Fall mit Ihnen zu sprechen. Heute morgen wurde im Bund-Park eine Leiche gefunden. Die Verletzungen weisen auf einen Triaden-Mord hin.«
»Ein Triaden-Mord im Bund-Park?«
»Ja, Hauptwachtmeister Yu und ich sind zu demselben Schluß gekommen. Wir haben allerdings noch keinen Hinweis, welche der Banden für den Mord verantwortlich sein könnte. Ich muß mich auf diesen Mordfall konzentrieren. Er könnte dem Ruf unseres neuen Shanghai schweren Schaden zufügen …«
»Da haben Sie recht«, unterbrach ihn Li. »Das dürfte ein Fall für Ihre Spezialabteilung sein, aber die Sache mit Wen ist dringlicher. Der Mord im Bund-Park kann warten, bis Inspektor Rohn wieder abgereist ist. Das würde keine allzu lange Verzögerung bedeuten.«
»Ich glaube nicht, daß ich der richtige Mann für die Ermittlungen im Fall Wen bin. Ein Beamter der Inneren Sicherheit oder des Auswärtigen Amtes wäre da bestimmt geeigneter.«
»Lassen Sie mich offen sprechen, Oberinspektor Chen. Es handelt sich um eine Entscheidung des Ministeriums in Peking. Minister Huang persönlich hat während der Telekonferenz Ihren Namen ins Spiel gebracht.«
»Aber warum, Parteisekretär Li?«
»Inspektor Rohn spricht Chinesisch. Daher legt Minister Huang größten Wert darauf, daß ihr Ansprechpartner nicht nur politisch verläßlich ist, sondern auch gut Englisch kann. Und Sie sind ein junger Kader mit hervorragenden Englischkenntnissen, der außerdem Erfahrung mit der Betreuung westlicher Gäste hat.«
»Wenn sie Chinesisch spricht, dann sehe ich nicht, warum ihr Partner auf unserer Seite Englisch können muß. Und was meine Erfahrungen als Betreuer angeht, so beschränken sie sich auf den Schriftstellerverband. Das ist etwas völlig anderes; da haben wir über Literatur diskutiert. Für diese Aufgabe wäre ein intelligenter Polizeibeamter bestens geeignet.«
»Inspektor Rohns Chinesischkenntnisse sind begrenzt. Einige unserer Leute hatten in Washington mit ihr zu tun. Sie hat sie bestens betreut, aber für Pressekonferenzen und ähnliches mußte ein professioneller Dolmetscher engagiert werden. Wir gehen davon aus, daß Sie die meiste Zeit Englisch sprechen werden.«
»Es ehrt mich, daß Minister Huang an mich gedacht hat«, sagte Chen langsam, während er nach einer offiziell klingenden Ausrede suchte. »Aber ich bin viel zu jung und unerfahren für eine solche Aufgabe.«
»Wollen Sie damit sagen, das sei ein Job für einen alten Hasen wie mich?« Li seufzte, im Morgenlicht wirkten seine Tränensäcke noch größer. »Lassen Sie die Jahre nicht ungenutzt verstreichen. Vor vierzig Jahren habe auch ich mich für Poesie interessiert. Erinnern Sie sich an die Zeilen von General Yue Fei? ›Verschwende deine Jugend nicht mit Müßiggang /ist dein Haupt erst weiß, / so bereust du es umsonst.‹«
Chen war verblüfft. Noch nie hatte Li mit ihm über Poesie gesprochen, geschweige denn ein Gedicht zitiert.
»Im Ministerium kam noch ein anderes Kriterium zur Sprache«, fuhr Li fort. »Der Kandidat soll ein positives Bild unserer Polizeikräfte vermitteln.«
»Was genau soll das heißen?«
»Finden Sie nicht auch, daß Inspektor Rohn ausgesprochen vorzeigbar ist?« Li warf einen Blick auf das Foto. »Und Sie werden auf ideale Weise die chinesische Polizei repräsentieren. Ein modernistischer Dichter und Übersetzer, der mit westlicher Literatur vertraut ist.«
Das Ganze wurde allmählich immer absurder. Was erwartete man eigentlich von ihm? Er sollte Schauspieler, Touristenführer, Dressman, PR-Experte sein – nur nicht Polizist.
»Das genau ist der Grund, warum ich diese Aufgabe nicht übernehmen sollte, Parteisekretär Li. Man zerreißt sich über meine Beschäftigung mit westlicher Literatur ohnehin bereits das Maul, spricht von bürgerlicher Dekadenz und schlechten Einflüssen. Wenn ich jetzt eine amerikanische Kollegin betreue, mit ihr essen gehe und sie zum Einkaufen und zu Besichtigungen begleite, anstatt meine Arbeit zu tun, was wird man dann erst von mir sagen?«
»Oh, Sie werden genug zu tun haben.«
»Was denn?«
»Wen Liping stammt ursprünglich aus Shanghai. In den frühen siebziger Jahren war sie eine jugendliche Intellektuelle, die aufs Land verschickt wurde. Sie hätte nach Shanghai zurückkehren können. Sie werden also auch hier einiges zu ermitteln haben.«
Das klang wenig überzeugend. Es bedurfte keines Oberinspektors, um Wens mögliche Kontaktpersonen zu überprüfen, allenfalls wenn man eine Amerikanerin damit beeindrucken wollte, überlegte Chen.
Li erhob sich und legte eine Hand auf Chens Schulter. »Das ist ein Auftrag, dem Sie sich nicht entziehen können, Genosse Chen Cao. Er liegt im Interesse der Partei.«
»Im Interesse der Partei!« Chen erhob sich ebenfalls. Unten auf der Fuzhou Lu war der Verkehr fast zum Erliegen gekommen.
Weiteres Argumentieren war zwecklos. »Sie haben wie immer das letzte Wort, Parteisekretär Li.«
»Das liegt wohl eher bei Minister Huang. In all den Jahren hat die Partei Ihnen immer vertraut. Wie lautete gleich das Konfuzius-Zitat, das Sie eingangs zitierten?«
»Ja schon, aber …« Er wußte nicht, wie er fortfahren sollte.
»Wir sehen ein, daß Sie den Fall zu einem kritischen Zeitpunkt übernehmen. Das Ministerium wird Sie daher mit Sondermitteln ausstatten. Ihr Budget ist unbegrenzt. Führen Sie Inspektor Rohn in die besten Restaurants, besuchen Sie Theater, machen Sie Bootsfahrten – was immer Sie für richtig halten. Geben Sie aus, soviel Sie können. Die Amerikaner sollen merken, daß hier nicht alle Leute arme boatpeople sind. Auch das ist internationale Verbindungsarbeit.«
Die meisten würden sich um eine solche Aufgabe reißen. Erstklassige Hotels, Unterhaltung, Bankette. China muß vor westlichen Besuchern sein Gesicht wahren, diese Maxime war Chen beim Training für auswärtige Zusammenarbeit immer wieder eingebleut worden. Doch eine solche Aufgabe hatte auch ihre Schattenseiten. Die Innere Sicherheit würde im Hintergrund über ihn wachen.
»Ich werde mein Bestes tun, Parteisekretär Li, aber ich habe noch eine Bitte.«
»Nur zu.«
»Ich möchte Hauptwachtmeister Yu Guangming als Partner.«
»Hauptwachtmeister Yu ist ein erfahrener Polizist, aber er spricht kein Englisch. Falls Sie Hilfe brauchen sollten, würde ich jemand anderen vorschlagen.«
»Ich möchte Hauptwachtmeister Yu nach Fujian schicken. Ich bin nicht unterrichtet, was die dortige Polizei bislang unternommen hat. Wir müssen herausfinden, weshalb Wen verschwunden ist«, sagte Chen und versuchte, Lis Gesichtsausdruck zu deuten. »Hauptwachtmeister Yu kann mich über die neuesten Entwicklungen dort auf dem laufenden halten.«
»Was werden die Kollegen in Fujian davon halten?«
»Sagten Sie nicht, daß ich die Ermittlungen leite?«
»Aber natürlich. Sie koordinieren die Operation. Es wurden bereits entsprechende Schritte veranlaßt.«
»Dann soll Yu heute nachmittag nach Fujian fliegen.«
»Wenn Sie darauf bestehen«, lenkte Li ein. »Brauchen Sie hier nicht auch Unterstützung? Sie werden Ihre gesamte Zeit Inspektor Rohn widmen müssen.«
»Doch. Außerdem habe ich noch andere Dinge auf dem Schreibtisch liegen. Und dann wäre da die Leiche im Park.«
»Wollen Sie sich diesen Mord im Bund-Park tatsächlich aufbürden? Ich glaube nicht, daß Ihnen dazu Zeit bleibt, Oberinspektor.«
»Zumindest müssen die Ermittlungen anlaufen. Das kann nicht warten.«
»Was halten Sie von Wachtmeister Qian Jun? Er könnte vorübergehend Ihr Assistent sein.«
Chen mochte Qian, einen jungen Polizeischulabgänger mit politischer Spürnase, nicht besonders. Doch konnte er Lis Vorschlag nicht schon wieder zurückweisen. »Gut. Ich werde die meiste Zeit mit Inspektor Rohn unterwegs sein. Wenn sich Hauptwachtmeister Yu aus Fujian meldet, kann Qian die Informationen an mich weiterleiten.«
»Außerdem kann er Ihnen mit dem Papierkram zur Hand gehen«, fügte Li hinzu und fuhr dann grinsend fort: »Ach, und für diesen Auftrag gibt es einen Bekleidungszuschuß. Vergessen Sie nicht, bei der Zahlstelle vorbeizugehen.«
»Ich dachte, so was gibt es bloß bei Auslandseinsätzen?«
»Auch für Besucher, die aus dem Ausland kommen, muß man seinen besten Anzug aus dem Schrank holen. Vergessen Sie nicht, daß Sie unser Aushängeschild sind. Wir werden Ihnen ein Zimmer im Hotel Peace besorgen. Dort wird auch Inspektor Rohn absteigen. Das ist praktischer für Sie.«
»Na ja …« Die Aussicht, in diesem berühmten Hotel zu wohnen, war verlockend. Und ein Zimmer mit Blick auf den Bund würde nicht nur ihm zugute kommen. Als man ihn einmal im Hotel Jinjiang einquartiert hatte, hatte er Yu und seine Familie zu einem heißen Bad eingeladen. Die meisten Familien in Shanghai besaßen kein eigenes Badezimmer, geschweige denn fließend heißes Wasser. Dennoch würde es keinen guten Eindruck machen, wenn er im selben Hotel wohnte wie die amerikanische Kollegin. »Das wird nicht nötig sein, Parteisekretär Li. Ich wohne nur zehn Minuten von dort. Das Geld kann das Präsidium sich sparen.«
»Recht so. Wir sollten immer der bewährten Parteimaxime folgen: Lebe einfach und arbeite hart.«
Als er Lis Büro verließ, überkam ihn eine flüchtige Erinnerung daran, was er vor nicht allzu langer Zeit in einem anderen Hotel erlebt hatte.
Wie kann Erinnerung wiederbringen, was damals längst verlorenging?
Er hämmerte gegen den Aufzugknopf. Wieder einmal war der Aufzug steckengeblieben.