19
CHEN ERWACHTE am frühen Morgen mit einer Andeutung von Kopfschmerz. Er rieb sich die Augen und überflog in der Zeitung vom Vorabend die Ergebnisse des letzten Go-Turniers zwischen China und Japan. Dieses eskapistische Vergnügen hatte er sich nun schon mehrere Tage lang versagt.
An diesem Morgen meinte er, sich das gestatten zu dürfen. Es handelte sich nämlich um die Begegnung der beiden Landesmeister. Der Japaner war angeblich Zen-Meister und daher in der Lage, sich während des Spiels jeglicher Emotion zu enthalten. Das klang paradox, denn schließlich war ein Go-Spieler auf den Sieg aus, genauso wie ein Polizist auf die Lösung seines Falls. Der Ausgang dieser Partie galt als politisch signifikant, ganz wie der Ausgang seines Falls. Doch das Klingeln des Telefons unterbrach jeden weiteren Gedanken an den Kampf auf dem Spielbrett. Es war Parteisekretär Li.
»Kommen Sie in mein Büro, Oberinspektor Chen.«
»Gibt es Neuigkeiten im Fall Wen?«
»Wir reden darüber, sobald Sie hier sind.«
»Ich esse nur noch schnell etwas.«
Es war früh, noch nicht mal halb acht. Also mußte es dringend sein. Normalerweise tauchte Li nicht vor halb zehn in seinem Büro auf.
Chen öffnete seinen kleinen Kühlschrank. Das einzige, was er fand, war ein Dampfbrötchen aus der Kantine, zwei Tage alt und steinhart. Er weichte es in einer Schale mit heißem Wasser auf. Von seinem Monatsgehalt war kaum noch etwas übrig. Nicht alle Ausgaben im Zusammenhang mit Inspektor Rohn konnte er sich zurückerstatten lassen; zum Beispiel den Jadeanhänger. Das Image der chinesischen Polizei hochzuhalten kostete seinen Preis.
Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war es Minister Huang aus Peking. Noch nie hatte ihn der Minister zu Hause angerufen; offenbar war er besorgt über die Entwicklungen.
»Das ist ein wichtiger Fall«, sagte Huang, »wichtig vor allem für die Beziehungen unserer beiden Staaten. Eine erfolgreiche Kooperation mit den Amerikanern wird dazu beitragen, Spannungen abzubauen. Sie wissen schon, der Tiananmen-Zwischenfall.«
»Ich verstehe, Minister Huang. Wir tun unser Bestes, aber es ist schwierig, jemanden in so kurzer Zeit zu finden.«
»Die Amerikaner sehen, daß wir es ernst meinen, aber sie erwarten einen Durchbruch. Sie haben schon mehrmals hier angerufen.«
Chen überlegte, ob er dem Minister seine Vermutungen mitteilen sollte, vor allem was die Verbindungen der Bande zur Polizei in Fujian betraf. Er entschied sich jedoch, es nicht zu tun, zumindest nicht direkt. Womöglich gab es auch hier politische Implikationen. Falls sich der Minister bemüßigt fühlte, die örtlichen Polizeikräfte in Schutz zu nehmen, würde das die Ermittlungen nur erschweren.
»Hauptwachtmeister Yu hat es nicht leicht in Fujian. Die örtliche Polizei gibt ihm keinerlei Hinweise. Man scheint dort mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Yu kann es nicht allein mit diesen Kriminellen aufnehmen. Und mir sind, Tausende von Kilometern entfernt, die Hände gebunden.«
»Keineswegs, Oberinspektor Chen. Sie haben volle Befehlsgewalt. Ich werde mich persönlich mit Dienststellenleiter Hong in Verbindung setzen. Treffen Sie die politischen Entscheidungen, die Sie für nötig halten. Das Ministerium steht hinter Ihnen.«
»Vielen Dank, Minister Huang.« Bislang hatte er noch keine politischen Entscheidungen treffen müssen und ihm war nicht klar, was der Minister damit meinte.
»Polizeiarbeit kann enorme Probleme mit sich bringen. Man braucht fähige Mitarbeiter, um solche Situationen zu meistern, und junge Beamte wie Sie sind heutzutage selten.«
Dann legte er noch eins drauf: »Die Partei zählt auf Sie, Genosse Oberinspektor Chen.«
»Verstehe. Ich werde tun, was die Partei von mir erwartet, auch wenn es gilt, einen Berg aus Schwertern und ein Meer aus Feuer zu bezwingen.« Zwei Zeilen aus einem Tang-Gedicht kamen ihm in den Sinn. Für dich, der du mich zum General auf goldener Bühne gemacht hast, / werde ich das Drachenschwert aus Jade schwingen und bis zum bitteren Ende kämpfen. Der alte Minister hatte ihn nicht nur für diese Aufgabe empfohlen, sondern ihn auch persönlich zu Hause angerufen, um den Fall zu besprechen. »Ich werde Sie nicht enttäuschen, Minister Huang.«
Doch während Oberinspektor Chen den Hörer auflegte, fühlte er sich ganz und gar nicht wie einer, der das Drachenschwert aus Jade schwingt.
Minister Huang hätte besser Parteisekretär Li anrufen sollen. Der Ausdruck »enorme Probleme« klang im Zusammenhang mit den Ermittlungen nicht gerade ermutigend. Chen hatte das ungute Gefühl, daß der alte Minister hinterm Berg gehalten hatte. Was mochte es für seine eigene Karriere bedeuten, daß der Minister Parteisekretär Li absichtlich übergangen hatte?
Zwanzig Minuten später betrat er Lis Büro, und zwar keineswegs so emotionslos, wie der in der Xinming-Zeitung beschriebene Go-Spieler.
»Ich werde den Tag über mit Sitzungen beschäftigt sein«, sagte Li und blies in eine Schale heiße Sojasprossensuppe. »Deshalb wollte ich jetzt mit Ihnen reden.«
Zunächst berichtete Oberinspektor Chen über das Gespräch mit Qiao, der Schwangeren aus Guangxi.
»Sie haben sich große Mühe gegeben, Oberinspektor Chen, aber die Themen dieses Gesprächs scheinen mir schlecht gewählt.«
»Wie kommen Sie darauf, Parteisekretär Li?«
»Es ist in Ordnung, wenn Sie Inspektor Rohn an der Befragung von Wens Verwandten teilnehmen lassen, doch es war wohl keine gute Idee, sie zu dieser Schwangeren aus Guangxi mitzunehmen. Die Amerikaner machen doch regelmäßig ein großes Geschrei wegen unserer Bevölkerungspolitik.«
Chen beschloß, ihren Besuch bei Gu vorerst nicht zu erwähnen. Unmoralisches Gewerbe, Triaden-Verbindungen, Polizistenbestechung – das würde ebenfalls kein vorteilhaftes Bild vom sozialistischen China vermitteln.
»Ich wußte ja nicht, daß es sich so entwickeln würde«, sagte er. »Außerdem habe ich Inspektor Rohn die Grundlagen unserer Bevölkerungspolitik auseinandergesetzt.«
»Ich habe keinen Zweifel daran, daß Sie Ihren Prinzipien treu geblieben sind«, sagte Li langsam und griff nach dem gläsernen Schwan, der ihm als Aschenbecher diente. Er funkelte in seiner Hand wie die Kristallkugel eines Wahrsagers. »Wissen Sie, was nach Ihrem Besuch mit der Frau aus Guangxi geschehen ist?«
»Nein, warum?«
»Sie wurde von unbekannten Männern entführt; ganze zwei, drei Stunden, nachdem Sie weg waren. Später fand man sie bewußtlos in einem Wäldchen unweit des Dorfes. Keiner weiß, wer sie dort zurückgelassen hat. Obwohl sie weder geschlagen noch vergewaltigt wurde, hatte sie eine Fehlgeburt. Man hat sie umgehend ins nächste Krankenhaus gebracht.«
»Ist sie in Lebensgefahr?«
»Nein, aber sie hatte so schwere Blutungen, daß ein Eingriff nötig wurde. Sie wird keine Kinder mehr bekommen können.«
Chen fluchte kaum hörbar. »Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Entführer?«
»Es waren keine Ortsansässigen. Sie kamen in einem Jeep und behaupteten, die Frau sei aus dem Süden geflohen. Niemand hat versucht, sie aufzuhalten.«
»Die müssen sie für Wen gehalten und freigelassen haben, sobald sie ihren Irrtum bemerkten.«
»Das ist möglich.«
»Es ist empörend! Am hellichten Tag eine schwangere Frau zu entführen, und das in Qingpu, nahe Shanghai.« Chens Gedanken überschlugen sich. Sie waren von Anfang an verfolgt worden, den ganzen Weg bis nach Qingpu. Daran gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Der Zwischenfall mit dem Motorrad. Die durchgebrochene Treppenstufe, die Lebensmittelvergiftung. Und jetzt die Entführung von Qiao. »Nur zwei, drei Stunden nach unserem Besuch! Diese Banditen müssen Hinweise von Insidern erhalten haben. Es gibt eine undichte Stelle hier im Präsidium.«
»Nun, zumindest schadet es nicht, vorsichtig zu sein.«
»Die haben uns den Krieg erklärt. Und dann ist da noch die Leiche vom Bund-Park. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Shanghaier Polizei! Wir müssen etwas unternehmen, Parteisekretär Li.«
»Das werden wir auch. Aber es ist eine Frage der Zeit und der Prioritäten. Augenblicklich geht die Sicherheit von Inspektor Rohn vor. Wenn wir die Triaden jetzt in die Enge treiben, könnten sie Vergeltung üben.«
»Dann sollen wir also die Hände in den Schoß legen, bis sie erneut zuschlagen?«
Auf diese Frage antwortete Li nicht. »Im Verlauf dieser Ermittlungen könnte es zu unvorhergesehenen Konfrontationen mit Bandenmitgliedern kommen. Die sind zu allem fähig. Sollte Inspektor Rohn etwas zustoßen, wäre das eine enorme Belastung für uns.«
»Eine enorme Belastung«, murmelte er und dachte an die »enormen Probleme«, von denen Minister Huang gesprochen hatte. »Aber wir sind doch Polizisten, oder?«
»So dürfen Sie das nicht sehen, Oberinspektor Chen.«
»Wie denn sonst, Parteisekretär Li?«
»Hauptwachtmeister Yu ermittelt in Fujian. Wenn Sie das für zu wenig halten, können wir jederzeit Verstärkung hinschicken«, sagte Li. »Und was die Vernehmungen hier in Shanghai betrifft, so frage ich mich, ob sie wirklich so viel bringen. Inspektor Rohn muß nicht unbedingt daran teilnehmen. Sie müssen sie lediglich auf dem laufenden halten. Ich glaube nicht, daß diese Banditen ihr zu nahe treten, wenn sie am Bund Sightseeing macht.«
»Aber sie glauben offenbar, daß Wen sich hier versteckt hält, andernfalls hätten sie die Schwangere in Qingpu nicht entführt.«
»Wenn sich neue Hinweise ergeben, kann Qian sich darum kümmern. Sie müssen sich wirklich kein Bein ausreißen. Solange Inspektor Rohn überzeugt ist, daß wir unser Bestes tun, genügt das völlig – politisch gesehen.«
»Auch ich habe mir meine Gedanken über diesen Fall gemacht – politisch gesehen. Die Beziehungen zwischen China und Amerika sind durch die Vorfälle im Sommer 1989 schwer belastet. Könnten wir Wen den U. S. Marshals planmäßig übergeben, so wäre das ein Schritt in die richtige Richtung.«
Eine solche Argumentation würde Parteisekretär Li eher einleuchten. Den Anruf des Ministers erwähnte er besser nicht.
»Das ist wahr«, erwiderte Li und nahm einen Schluck von seiner Sojasprossensuppe. »Dann meinen Sie also, wir sollten Inspektor Rohn auch weiterhin an den Ermittlungen teilnehmen lassen?«
»Als Sie mich damals überredeten, den Fall anzunehmen, haben Sie Yue Fei zitiert«, sagte Chen und drückte seine Zigarette aus. »Die beiden letzten Zeilen gefallen mir am besten: Erst wenn ich Berge und Flüsse befriedet habe, / verneige ich mich vor dem Himmel.«
»Ich sehe, was Sie meinen, aber einige Leute verstehen das nicht.« Li trommelte einen Moment lang mit den Fingern auf die Tischplatte, bevor er fortfuhr: »Einige Leute zerreißen sich das Maul, weil Sie Inspektor Rohn ein Geschenk gemacht und es ihr vor dem Hotel um den Hals gelegt haben.«
»Das ist doch absurd«, protestierte Chen und versuchte zu begreifen, was diese Information bedeutete. Einige Leute. Damit konnte nur die Innere Sicherheit gemeint sein – eine Polizei innerhalb der Polizei. Dieser winzige Anhänger war bedeutungslos, aber in einem Bericht der Inneren Sicherheit konnte er sich mit Bedeutung aufladen. – Oberinspektor Chen hat die Parteilinie verlassen und flirtet mit einer amerikanischen Geheimagentin. »Warum die Innere Sicherheit?«
»Machen Sie sich keine Gedanken, von wem der Bericht stammt, Oberinspektor Chen. Wenn Sie sich nichts vorzuwerfen haben, besteht auch kein Grund zur Beunruhigung.«
»Das war nach der Peking-Oper. Auf Ihren Vorschlag hin habe ich Inspektor Rohn zum Hotel gebracht. Am Bund versuchte ein Händler, ihr einen Anhänger zu verkaufen. Manche von diesen Straßenhändler sind darauf aus, Touristen auszunehmen; so steht es jedenfalls in den Zeitungen. Also habe ich die Kette für sie heruntergehandelt. Und sie hat mich gebeten, sie ihr umzulegen.«
Er sagte nicht, daß er sie auch bezahlt hatte. Da er nicht vorhatte, den Betrag auf seine Spesenrechnung zu setzen, wäre das für die Dienststelle ohne Bedeutung.
»Ja, die Amerikaner benehmen sich oft sehr – ungewöhnlich.«
»Als Repräsentant der chinesischen Polizei muß ich ihr gegenüber Gastfreundschaft bekunden. Ich verstehe nicht, wer zum Teufel …« Er hätte noch so manches zu sagen gehabt, doch der Ausdruck in Lis Gesicht hielt ihn davon ab. Jetzt war nicht der richtige Moment, um Dampf abzulassen; vor allem nicht, wenn die Innere Sicherheit ein Auge auf ihn hatte.
Für Oberinspektor Chen war es nicht das erste Mal.
Beim Fall mit der nationalen Modellarbeiterin mochte die Einmischung der Inneren Sicherheit noch gerechtfertigt gewesen sein. Immerhin stand damals das ewig makellose Bild der Partei auf dem Spiel. Aber bei diesen Ermittlungen hatte Oberinspektor Chen nichts getan, was den Interessen der Partei in irgendeiner Weise geschadet hätte.
Es sei denn, jemand wollte der Fahndung ein Ende setzen. Nicht im Interesse der Partei, sondern im Interesse der Triaden.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber«, sagte Li. »Ich habe dem Informanten klar gesagt: Dies ist ein besonderer Fall. Was immer Oberinspektor Chen tut, das tut er im Interesse unseres Landes.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Parteisekretär Li.«
»Nicht der Rede wert. Schließlich sind Sie kein gewöhnlicher Parteifunktionär. Sie haben noch einen langen Weg vor sich.« Li erhob sich. »Ich weiß, daß es nicht einfach für Sie ist. Sie bekommen Druck von allen Seiten. Ich habe mit Dienststellenleiter Zhao gesprochen. Wir werden Ihnen nächsten Monat einen Urlaub ermöglichen. Sie sollten sich eine Woche frei nehmen. Fahren Sie nach Peking, besuchen Sie die Große Mauer, die Verbotene Stadt, den Sommerpalast. Das Präsidium übernimmt alle Kosten.«
»Das wäre sehr schön«, sagte Chen und stand ebenfalls auf. »Aber jetzt muß ich an die Arbeit. Wie haben Sie übrigens von dem Vorfall in Qingpu erfahren, Parteisekretär Li?«
»Ihr Assistent, Qianjun, hat mich gestern abend davon unterrichtet.«
»Ach so.«
Li begleitete Chen noch zur Tür und sagte, die eine Hand auf den Türrahmen gestützt: »Vor einer Woche habe ich aus Versehen Ihre alte Nummer gewählt und hatte daraufhin ein langes Gespräch mit Ihrer Frau Mutter. Wir Alten machen uns so unsere Sorgen.«
»Tatsächlich! Davon hat sie mir gar nichts erzählt.« Chen mußte immer wieder Lis Gabe bewundern, der Parteipolitik einen menschlichen Anstrich zu geben.
»Sie findet, es wäre Zeit für Sie, eine Familie zu gründen. Sie wissen schon, was die alte Dame meint. Natürlich liegt eine solche Entscheidung ganz bei Ihnen, aber ich kann ihr da nur zustimmen.«
»Vielen Dank, Parteisekretär Li.« Chen war klar, worauf Li hinauswollte. Auch der Vorschlag mit dem Urlaub in Peking ging in diese Richtung. Er hatte Ling dabei im Auge. Die Absicht mochte ehrenhaft sein, aber der Zeitpunkt war denkbar ungünstig gewählt.
Warum war Li gerade heute darauf verfallen?
Kaum hatte er das Büro des Parteisekretärs verlassen, zog Chen eine Zigarette aus der Packung, steckte sie dann aber wieder zurück. Am Ende des Korridors stand ein Wasserspender. Er trank, zerknüllte den Pappbecher und warf ihn in den Abfalleimer.