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CATHERINE KONNTE trotz Übermüdung nicht einschlafen, und die Zeiger der Cloisonne-Uhr auf dem Nachttisch waren bereits in einen neuen Tag hinübergewandert.

Schließlich schlug sie entnervt die Decke zurück, stand auf und trat ans Fenster. Die Lichter des Bund blinkten grüßend zu ihr herauf.

Shanghai. Der Bund. Der Huangpu. Das Hotel Peace… Was für eine angenehme Überraschung, daß die Shanghaier Polizei dieses Hotel für sie ausgesucht hatte. Doch sie war nicht in der Stimmung, die Aussicht zu genießen. Ihre Aufgabe hier in China hatte sich grundlegend geändert.

Ursprünglich war alles ganz einfach gewesen. Sie hätte Wen zur örtlichen Paßstelle begleiten, ihr beim Ausfüllen der Formulare auf dem Amerikanischen Konsulat helfen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zusammen mit ihr ein Flugzeug besteigen sollen. Laut Ed Spencer, ihrem Vorgesetzten in Washington, sollte sie, falls nötig, durch ihre Präsenz als U.S. Marshai ein wenig Druck ausüben, damit die Chinesen die Sache beschleunigten. Ed hatte noch im Scherz gesagt, er werde sie dann am Wochenende in D.C. zum Essen einladen. Selbst wenn man kleinere Verzögerungen einrechnete, hätte die Angelegenheit in vier bis fünf Tagen erledigt sein müssen. Nun allerdings war ungewiß, wie lange sie in Shanghai bleiben würde.

War der Bericht von Wens plötzlichem Verschwinden eine Lüge? Denkbar wäre das, denn die Chinesen waren über Wens Nachzug in die Staaten nicht glücklich. Wenn Jia Xinzhi, der Kopf des Schmugglerrings, verurteilt würde, gäbe das internationale Schlagzeilen. Die schmutzigen Details dieses üblen Geschäfts würden das Ansehen der chinesischen Regierung im Ausland nicht gerade verbessern. Man vermutete schon länger, daß örtliche Polizeikräfte am Menschenschmuggel beteiligt waren. Wie konnte es den Schmugglern in einem so rigide überwachten Staat gelingen, Tausende von Menschen illegal außer Landes zu bringen, ohne daß die Behörden etwas merkten? Während des Fluges hatte sie in einem Bericht gelesen, daß Hunderte von illegalen Auswanderern sogar auf Militärlastern aus Fuzhou in den Hafen gebracht worden waren, von wo ihre Schiffe auslaufen sollten. Vielleicht versuchten die chinesischen Behörden jetzt, Wen am Verlassen des Landes zu hindern, um das Gerichtsverfahren platzen zu lassen und damit ihre Komplizenschaft zu vertuschen. Erst die unerklärlichen Verzögerungen, dann das noch unerklärlichere Verschwinden Wens. War das ein letzter Versuch der Chinesen, sich aus dem Handel, auf den sie sich eingelassen hatten, herauszuschwindeln? Wenn dem so wäre, dann wäre auch ihre Mission zum Scheitern verurteilt.

Sie kratzte einen juckenden Moskitostich an ihrem Arm.

Auch dieser Oberinspektor Chen war ihr nicht geheuer, obgleich die Tatsache, daß gerade er ihr als Partner zugeteilt worden war, die Kooperationsbereitschaft der Chinesen demonstrieren sollte. Dafür sprach nicht nur sein Dienstgrad, es war noch etwas anderes; er erschien ihr aufrichtig. Er konnte natürlich auch ausgesucht worden sein, um sie in Sicherheit zu wiegen. Womöglich war er ja gar kein Oberinspektor, sondern ein Geheimagent mit dem Auftrag, sie einzuwickeln.

Sie rief in Washington an. Ed Spencer war nicht in seinem Büro. Sie hinterließ eine Nachricht und gab ihre Nummer im Hotel an.

Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie sich die Akten an, die Chen dagelassen hatte. Über Feng erfuhr sie nicht viel Neues, aber die Informationen über Wen waren aktuell, ausführlich und gut aufbereitet.

Sie brauchte fast eine Stunde, um alles zu lesen. Trotz ihrer Vorkenntnisse stieß sie auf einige Ausdrücke, die sie nicht verstand. Sie unterstrich sie in der Hoffnung, am nächsten Tag in einem Lexikon nachschlagen zu können. Dann versuchte sie, sich einen Bericht für ihren Vorgesetzten zurechtzulegen.

Was gab es für sie hier in China zu tun?

Sie konnte nur abwarten, wie Oberinspektor Chen es vorgeschlagen hatte. Andererseits konnte sie auch ihre Mitarbeit anbieten. Es handelte sich um einen wichtigen Fall. Sie benötigten Fengs Zeugenaussage, und um diese zu bekommen, mußten sie seine Frau zu ihm bringen, vorausgesetzt sie lebte noch. Sie beschloß, daß es das Beste sein würde, sich in die Ermittlungen einzuschalten. Die Chinesen hatten keinen Grund, ihr das zu verweigern, sofern sie nichts zu verbergen hatten. Chen schien sicher zu sein, daß Wen noch lebte. War sie aber getötet worden, so konnte niemand sagen, wie sich das auf Fengs Aussage auswirken würde.

Inspektor Rohn war in ihrer Eigenschaft als China-Expertin beim U.S. Marshals Service noch kaum zum Zuge gekommen, obgleich diese Fachkenntnisse ihr die Stelle dort verschafft hatten. Wenn sie sich hier an den Ermittlungen beteiligte, würde sie beweisen können, daß ihr Abschluß in Sinologie für diese Stelle tatsächlich von Bedeutung war, außerdem hätte sie endlich Gelegenheit, die Realität chinesischen Alltagslebens kennenzulernen.

Also schrieb sie ein Fax an Ed Spencer. Nachdem sie ihn über die unerwarteten Ereignisse in Kenntnis gesetzt hatte, bat sie um Überprüfung der Aufzeichnungen von Fengs Anrufen am fünften April und wies auf die Möglichkeit einer kodierten Botschaft hin. Dann erbat sie sein Einverständnis für ihre Beteiligung an den laufenden Ermittlungen. Und schließlich forderte sie Informationen über Oberinspektor Chen Cao an.

Bevor sie in das Kommunikationszentrum des Hotels hinunterging, fügte sie noch hinzu, Ed möge ihr seine Antwort um zehn Uhr Shanghaier Zeit faxen, damit sie neben der Faxmaschine darauf warten konnte. Obgleich das Fax in Englisch verfaßt sein würde, wollte sie vermeiden, daß jemand anderer es in die Hand bekäme.

Nachdem sie ihren Text abgeschickt hatte, ging sie auf einen schnellen Imbiß ins Hotelrestaurant. Zurück im Zimmer stellte sie sich noch einmal unter die Dusche. Sie war noch immer nicht müde. In ihr Badetuch gewickelt, blickte sie wieder hinunter auf den erleuchteten Fluß. Sie entdeckte ein Schiff mit gestreifter Flagge, konnte aber aus der Entfernung den Namen nicht erkennen; vermutlich war es ein amerikanisches Kreuzfahrtschiff, das über Nacht auf dem Huangpu vor Anker gegangen war.

Gegen vier Uhr früh nahm sie zwei Dramamin-Tabletten. Sie hatte sie gegen Reisekrankheit mitgenommen, doch jetzt war es ihr einschläfernder Effekt, den sie brauchte. Zusätzlich holte sie sich ein Budweiser aus dem Kühlschrank; der chinesische Name Baiwei bedeutete »hundertmal machtvoller«. Die Brauerei Anheuser-Busch betrieb ein Joint Venture in Wuhan.

Als sie sich vom Fenster abwandte, erinnerte sie sich an ein Gedicht aus der Song-Dynastie, das sie während ihres Studiums analysiert hatte. Es handelte von der Einsamkeit eines Reisenden, die dieser angesichts herrlichster Landschaft empfunden hatte. Während sie versuchte, sich die Zeilen ins Gedächtnis zu rufen, schlief sie ein.

Der Wecker auf dem Nachttisch weckte sie. Sie rieb sich die Augen und fuhr hoch, ohne zu wissen, wo sie war. Es war 9 Uhr 45. Keine Zeit für eine Dusche. Sie zog ein T-Shirt und eine alte Jeans über und verließ ihr Zimmer in den Wegwerfschlappen des Hotels, die papierdünn waren und aus demselben Material gemacht zu sein schienen wie die durchsichtigen Regenmäntel. Auf dem Weg zum Kommunikationszentrum fuhr sie sich im Aufzug noch schnell mit einem Taschenkamm durchs Haar.

Das Fax für sie traf genau zur verabredeten Zeit ein, und sein Inhalt war ergiebiger, als sie erwartet hatte. Fengs Anruf am fünften April wurde bestätigt und war auf Band mitgeschnitten worden. Ed hatte den Inhalt übersetzen lassen. Als künftiger Zeuge war es Feng nicht gestattet, Informationen über seinen Status im Schutzprogramm weiterzugeben. Ed konnte sich nicht vorstellen, daß Feng etwas gesagt hatte, das Wens Verschwinden verursacht haben könnte. Ferner wurde ihrem Vorschlag nach einer Beteiligung an den Ermittlungen zugestimmt. Was die Hintergrundinformationen über Chen betraf, so schrieb Ed: »Ich habe mich mit der CIA in Verbindung gesetzt. Sie werden uns Oberinspektor Chens Akte zuschicken. Nach dem, was ich vorab erfahren konnte, muß man ihn im Auge behalten. Er wird dem liberalen Reformflügel der Partei zugerechnet. Außerdem ist er Mitglied des Schriftstellerverbandes. Er gilt als ehrgeiziger und aufstrebender Parteikader.«

Als sie mit dem Fax in der Hand aus dem Büro trat, sah sie Chen in der Lobby sitzen und eine englische Illustrierte durchblättern. Ein Blumenstrauß lag auf dem Stuhl neben ihm.

»Guten Morgen, Inspektor Rohn.« Chen erhob sich, und sie bemerkte, daß er größer war als die meisten Leute in der Hotelhalle. Er hatte eine hohe Stirn, wachsame schwarze Augen und ein intelligentes Gesicht. In seinem schwarzen Anzug hätte man ihn eher für einen Intellektuellen denn für einen Polizisten gehalten. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt von dem, was sie gerade über ihn gelesen hatte.

»Guten Morgen, Oberinspektor Chen.«

»Das ist für Sie.« Chen überreichte ihr die Blumen. »Gestern ging im Präsidium alles drunter und drüber, und bei meiner überstürzten Fahrt zum Flughafen hatte ich keine Zeit mehr, einen Begrüßungsstrauß für Sie zu besorgen. Hier, anläßlich Ihres ersten Morgens in Shanghai.«

»Vielen Dank. Die sind wunderschön.«

»Ich habe in Ihrem Zimmer angerufen, aber niemand meldete sich. Also habe ich hier auf Sie gewartet. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

Sie hatte nichts dagegen. Die Blumen waren eine Überraschung. Dennoch fühlte sie sich, wie sie so in ihren Plastiklatschen und mit zerzaustem Haar neben ihm stand, irritiert von seiner förmlichen Höflichkeit. Das erwartete sie nicht von einem Kollegen; sie schätzte es nicht, wenn man ihr durch die Blume zu verstehen gab, daß sie »nur« eine Frau war.

»Gehen wir hinauf in mein Zimmer, dort können wir reden.«

Als sie ins Zimmer traten, forderte sie ihn auf, sich zu setzen, und nahm eine Vase von einem Beistelltischchen. »Ich versorge nur eben die Blumen.«

»Haben Sie gut geschlafen?« fragte Chen und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

»Nicht wirklich, aber es muß genügen.« Sie weigerte sich, die Unordnung im Zimmer als peinlich zu empfinden. Das Bett war ungemacht, ihre Strümpfe waren auf dem Bettvorleger verstreut, auf dem Nachttisch lagen Pillenschachteln, und ihren verknitterten Hosenanzug hatte sie über eine Stuhllehne geworfen. »Ich mußte ein Fax abholen«, entschuldigte sie sich kurz.

»Ich hätte mich vorher anmelden sollen. Ich muß mich entschuldigen.«

»Sie sind sehr zuvorkommend, Genosse Oberinspektor Chen«, erwiderte sie und versuchte, ihre Stimme nicht sarkastisch klingen zu lassen. »Ich könnte mir vorstellen, daß auch Sie gestern spät ins Bett gekommen sind.«

»Nachdem ich Sie verlassen hatte, habe ich den Fall mit Hong Liangxing, dem Dienststellenleiter der Provinzpolizei Fujian, durchgesprochen. Es war ein langes Gespräch. Früh am Morgen hat mich dann mein Assistent, Hauptwachtmeister Yu, angerufen. Er sagte mir, daß es in seinem Hotel nur ein einziges Telefon gibt, und das steht an der Rezeption. Um elf Uhr abends wird es vom Hotelinhaber abgeschlossen, der anschließend ins Bett geht.«

»Warum muß er das Telefon abschließen?«

»Auf dem Land sind Telefone rar«, erklärte Chen. »Das ist nicht wie hier in Shanghai.«

»Gibt es heute morgen neue Informationen?«

»Ich konnte immerhin eine Antwort auf Ihre Frage nach der Verzögerung des Paßantrags erhalten.«

»Und die lautet, Oberinspektor Chen?«

»Wen hätte ihren Paß schon vor mehreren Wochen bekommen können, aber sie hatte keine Heiratsurkunde, kein amtliches Dokument, das ihre Beziehung zu Feng hätte bestätigen können. Sie ist 1971 bei ihm eingezogen. Alle Ämter waren damals geschlossen.«

»Warum waren die Ämter geschlossen?«

»Mao hat viele Kader als sogenannte ›Kap-Wegler‹, also kapitalistische Renegaten, abgestempelt. Sogar Liu Shaoqi, der damalige designierte Nachfolger Maos, wurde ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis geworfen. Die sogenannten Revolutionskomitees hatten die Macht im Staat übernommen.«

»Ich habe über die Kulturrevolution gelesen, aber das mit den Ämtern war mir nicht bekannt.«

»Daher mußten die Leute vom Paßamt in den Archiven der Kommune nachforschen, was den Vorgang vermutlich verzögert hat.«

»Vermutlich«, wiederholte sie und bog den Kopf dabei leicht zur Seite. »In China muß also jede Vorschrift aufs genaueste befolgt werden – auch wenn es sich um einen besonderen Fall handelt?«

»Ich gebe nur weiter, was ich erfahren habe. Außerdem hat Wen ihren Antrag erst Mitte Februar gestellt, nicht schon im Januar.«

»Aber Feng hat uns gesagt, daß sie ihn im Januar beantragt hätte, Mitte Januar.«

»So lautet meine Information. In jedem Fall ist es eine lange Zeit, das gebe ich zu. Vielleicht haben andere Dinge eine Rolle gespielt. Wen hat keine guanxi in Fujian. Man könnte dieses Wort mit ›Beziehungen‹ übersetzen, aber guanxi bedeutet noch weit mehr. Es geht nicht nur um die Leute, die man kennt, sondern vor allem um Leute, die einem bei den eigenen Belangen weiterhelfen können.«

»Die Schmiere, die die Räder am Laufen hält, sozusagen.«

»Wenn Sie so wollen, ja. Und die Räder der Bürokratie laufen überall auf der Welt langsam, wenn nicht ein bißchen Schmiermittel für die Bürokraten im Spiel ist. Dazu braucht man guanxi. Wen ist all die Jahre eine Außenseiterin geblieben, also verfügte sie über keinerlei guanxi.«

Chens Offenheit überraschte sie. Er machte nicht den Versuch, die Korruptheit des Systems zu verschleiern. Das schien ihr nicht unbedingt typisch für einen »aufstrebenden Parteikader«.

»Ach, da ist noch etwas anderes. Eine Nachbarin hat ausgesagt, daß am Nachmittag des sechsten April ein Fremder nach Wen gesucht hat.«

»Wer könnte das gewesen sein?«

»Seine Identität konnte noch nicht festgestellt werden, aber es war mit Sicherheit kein Einheimischer. Gibt es Neues von Ihrer Seite, Inspektor Rohn?«

»Feng hat am fünften April telefoniert. Wir sind dabei, das Gespräch zu übersetzen und zu analysieren. Ich werde Sie informieren, sobald ich Genaueres erfahre.«

»Darin mag die Antwort für Wens Verschwinden liegen«, sagte Chen und blickte auf seine Uhr. »Was sind Ihre Pläne für den Vormittag?«

»Ich habe keine Pläne.«

»Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Nein, noch nicht.«

»Sehr gut. Dann sieht mein Plan als erstes ein gutes Frühstück vor«, sagte Chen. »Nach meinem langen Gespräch mit Hauptwachtmeister Yu heute morgen bin ich ohne Frühstück aus dem Haus gegangen.«

»Wir können unten im Hotel etwas essen«, schlug sie vor.

»Vergessen Sie das Hotelrestaurant. Ich zeige Ihnen Plätze, wo es wirklich chinesisch schmeckt. Typische Shanghaier Atmosphäre, und das nur wenige Minuten zu Fuß von hier.«

Sie suchte nach Gründen, nicht mit ihm auszugehen, fand aber keine. Außerdem würde es bei einem deftigen Frühstück leichter sein, ihm zu eröffnen, daß sie sich in die Ermittlungen einschalten wollte. »Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen, Oberinspektor Chen. Polizist, Dichter, Übersetzer, und jetzt auch noch Feinschmecker«, sagte sie. »Ich werde mich nur kurz umziehen.«

Sie brauchte einige Minuten, um zu duschen, ein weißes Sommerkleid überzuziehen und ihr Haar zu bändigen.

Bevor sie das Zimmer verließen, hielt Chen ihr ein Handy hin. »Das steht zu Ihrer Verfügung.«

»Ein Motorola!«

»Wissen Sie, wie man hier dazu sagt?« fragte Chen. ›»Großer Bruder‹, und wenn die Besitzerin eine Frau ist, heißt es ›Große Schwestern‹. Es ist das Symbol des Aufstiegs im neuen China.«

»Interessante Bezeichnung.«

»In der Kung-Fu-Literatur wird so der Chef einer Bande bezeichnet. Reiche Leute heißen Mister Großer Dollar, und Großer Bruder und Große Schwester haben dieselbe Konnotation.

Ich habe auch ein solches Mobiltelefon. Es wird unsere Kommunikation vereinfachen.«

»Dann machen Große Schwester und Großer Bruder jetzt also einen Gang durch Shanghai«, sagte sie lächelnd.

Während sie die Nanjing Lu entlanggingen, kam der Verkehr dort völlig zum Erliegen. Fußgänger und Radfahrer schlängelten sich durch die kleinsten Lücken zwischen den Autos, so daß die Fahrer ständig bremsen mußten.

»Die Nanjing Lu ist wie ein großes Einkaufszentrum. Die Stadtverwaltung hat hier strenge Verkehrsbeschränkungen erlassen«, erklärte Chen in seiner Fremdenführerstimme. »Vielleicht wird die Straße demnächst zur Fußgängerzone erklärt.«

In nur fünf Minuten erreichten sie die Kreuzung Sichuan Lu. An der Ecke sah sie ein weißes Restaurant in westlichem Stil. Junge Leute nippten hinter den getönten Scheiben an ihrem Kaffee.

»Das Cafe Deda«, sagte Chen. »Der Kaffee dort ist hervorragend, aber wir gehen zu dem Straßenmarkt, der dahinter liegt.«

Sie hob den Blick und sah am Eingang das Schild ZENTRALMARKT. Es kennzeichnete eine schmale, schäbige Gasse. Neben einer Vielzahl von Verkaufsbuden, die ihre Waren auf Tresen oder Tischen am Bürgersteig feilboten, entdeckte sie in einer Ecke auch einige Imbißstände und winzige Restaurants.

»Ursprünglich war das ein Markt für billige und gebrauchte Waren, das, was man bei Ihnen einen Flohmarkt nennen würde«, dozierte er weiter. »Nachdem der Markt von so vielen besucht wurde, haben sich auch Eßstände hier etabliert. Sie sind praktisch und billig, und jeder hat seine eigene Geschmacksrichtung.«

Die Imbißbuden, Straßenküchen und Restaurants schienen die Luft fühlbar mit Energie aufzuladen. Die meisten von ihnen boten billige, einfache Gerichte an, ein denkbarer Kontrast zum Hotel Peace. Am Randstein briet ein fliegender Händler über einem improvisierten Grill Lammspießchen, die er immer wieder mit einer Gewürzmischung bestreute. Ein hagerer Kräuterarzt wog Heilkräuter in eine Reihe von irdenen Töpfen ab, in denen brodelnder Sud kochte. Über ihm hing ein Seidenbanner, das in großen Schriftzeichen HEILGERICHTE FÜR ALLE GEBRECHEN versprach.

Das war es, was sie hatte sehen wollen, diesen lauten, chaotischen Winkel der Stadt, der tatsächlich noch Geschichten über das alte Shanghai erzählte. Fische, Kalamares und Wasserschildkröten, alle lebend in Holzbottichen oder Plastikwannen; Aale, Wachteln und Froschschenkel, die in Woks brutzelten. Und überall gab es reichlich Kundschaft.

Sie fanden einen freien Tisch in einem der kleinen Restaurants. Chen reichte ihr eine abgegriffene Speisekarte. Nachdem sie eine Weile auf die sonderbaren Namen gestarrt hatte, gab sie auf. »Wählen Sie. Ich kenne keines dieser Gerichte.«

Chen bestellte eine Portion jiaozi, gebratene Teigtäschchen mit Schweinefleischfüllung, dazu Krabbenbällchen mit einer durchsichtigen Haut aus Klebreis, fermentierten Tofu am Spieß, Reisbrei mit tausendjährigen Eiern, eingelegten weißen Kürbis, gepökeltes Entenfleisch und Guilin-Tofu mit gehackten Frühlingszwiebeln. Alles wurde auf kleinen Tellerchen gereicht.

»Das ist ja ein Festmahl«, sagte sie.

»Und es kostet weniger als ein westliches Frühstück in Ihrem Hotel«, erwiderte er.

Der fermentierte Tofu kam zuerst, aufgespießt auf Holzspießchen wie Kebab. Nach ein paar Bissen gewöhnte sie sich an den ungewohnt scharfen, nussigen Geschmack.

»Essen war immer ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Kultur«, murmelte Chen kauend. »Wie schon Konfuzius sagte: ›Die Freude am Essen und am Sex liegt in der menschlichen Natur.‹«

»Was Sie nicht sagen!« Dieses Zitat war ihr nie untergekommen. Hatte er sich das etwa bloß ausgedacht? Sie meinte, ein Andeutung von Humor in seiner Stimme wahrzunehmen.

Bald bemerkte sie auch die neugierigen Blicke der Gäste an den Nachbartischen – eine Amerikanerin, die in Begleitung eines Chinesen diese einfachen Gerichte in sich hineinschlang. Ein untersetzter Passant grüßte sie sogar, als er mit einem riesigen Reisknödel in der Hand an ihrem Tisch vorbeikam.

»Jetzt habe ich ein paar Fragen an Sie, Oberinspektor Chen. Meinen Sie, daß Wen diesen Feng, einen Bauern, geheiratet hat, weil sie eine so überzeugte Maoistin war?«

»Das ist möglich. Aber was die Beziehungen zwischen Mann und Frau angeht, so kann Politik nicht alles erklären.«

»Sind viele der gebildeten Jugendlichen auf dem Land geblieben?« fragte sie und knabberte am letzten Stück ihres Tofu.

»Nach der Kulturrevolution sind die meisten von ihnen in die Stadt zurückgekehrt. Hauptwachtmeister Yu und seine Frau zum Beispiel wurden nach Yunnan verschickt und sind Anfang der achtziger Jahre nach Shanghai zurückgekommen.«

»Sie haben hier wirklich eine interessante Arbeitsteilung, Oberinspektor Chen. Hauptwachtmeister Yu läuft sich in Fujian die Hacken ab, und Sie verspeisen mit einem amerikanischen Gast köstliche Snacks.«

»Es gehört zu meinen Verpflichtungen als Oberinspektor, Sie anläßlich Ihrer ersten Reise nach China willkommen zu heißen, zumal dies die erste Zusammenarbeit unserer beiden Staaten im Kampf gegen den Menschenschmuggel ist. Parteisekretär Li legt besonderen Wert darauf, daß Ihr Aufenthalt in Shanghai sicher und zu Ihrer Zufriedenheit verläuft. Das war der genaue Wortlaut seiner Anweisung.«

»Vielen Dank«, erwiderte sie. Seine Selbstironie war jetzt nicht mehr zu überhören. Das machte es einfacher für sie. »Wenn ich nach Hause komme, soll ich also von Völkerfreundschaft schwärmen und die Parolen Ihrer Zeitungen nachbeten.«

»Das liegt ganz bei Ihnen, Inspektor Rohn. Es gehört zur chinesischen Tradition, daß man einen Gast aus der Ferne freundlich empfängt.«

»Und was werden Sie noch unternehmen, außer mich gut zu betreuen?«

»Ich habe eine Liste mit Wens möglichen Kontaktpersonen in Shanghai zusammengestellt. Qian Jun, mein zeitweiliger Assistent, wird für heute nachmittag und morgen früh Termine mit ihnen vereinbaren, damit ich sie befragen kann. Zwischendurch werde ich Sie über die Entwicklungen auf dem laufenden halten.«

»Ich soll also im Hotel sitzen und auf Anrufe warten wie ein Telefonfräulein?«

»Nein, das müssen Sie natürlich nicht. Nachdem das Ihre erste Reise nach China ist, sollten Sie unbedingt Besichtigungen machen. Den Bund, die Nanjing Lu. Über das Wochenende werde ich Ihnen dann als Vollzeit-Fremdenführer zur Verfugung stehen.«

»Lieber wäre es mir, ich könnte Sie bei Ihrer Arbeit begleiten, Oberinspektor Chen.«

»Sie meinen, bei den Interviews?«

»Ja.« Sie sah ihm direkt in die Augen.

»Eigentlich spricht nichts dagegen. Nur sprechen die meisten Leute hier Shanghai-Dialekt.«

Eine diplomatische Antwort, dachte sie, aber dennoch ein Ausweichmanöver.

»Im Flugzeug hatte ich auch keine Probleme, mich mit den Leuten zu unterhalten. Sie haben alle Mandarin mit mir gesprochen. Können wir Ihre Interviewpartner nicht bitten, dasselbe zu tun? Und falls nötig, könnten Sie mir helfen.«

»Ich kann es versuchen. Aber glauben Sie, daß die Leute vor einer amerikanischen Beamtin offen reden werden?«

»Sie werden die Sache um so ernster nehmen«, erwiderte sie, »wenn sie uns zusammen sehen, ein chinesischer und ein amerikanischer Ermittler.«

»Da könnten Sie recht haben, Inspektor Rohn. Ich werde mit Parteisekretär Li darüber sprechen.«

»Gehört es zur hiesigen Politkultur, niemals klare Antworten zu geben?«

»Nein. Ich gebe Ihnen ja eine klare Antwort, aber ich brauche seine Einwilligung. Gewisse Regeln müssen einfach eingehalten werden, das gilt doch sicher auch für die U.S. Marshals.«

»Zugestanden, Oberinspektor«, sagte sie. »Und was soll ich tun, bis Sie seine Erlaubnis eingeholt haben?«

»Falls Wens Verschwinden durch den Anruf ihres Mannes ausgelöst wurde, dann sollten Sie sich um mögliche Lecks in Ihrer Abteilung kümmern.«

»Ich werde mit meinem Vorgesetzten reden«, antwortete sie. Sie hatte schon erwartet, daß er etwas Derartiges sagen würde.

»Ich habe das Hotelpersonal gebeten, Ihr Zimmer mit einem Faxgerät auszustatten. Und lassen Sie es mich bitte wissen, falls Sie noch etwas anderes benötigen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Nur eine Frage noch«, sagte sie, einer spontanen Eingebung folgend, »gestern nacht, als ich auf den Bund hinunterschaute, ist mir ein klassisches Gedicht in den Sinn gekommen. Ich habe es Vorjahren in englischer Übersetzung gelesen. Es handelt von dem Bedauern des Dichters, den Anblick einer herrlichen Landschaft nicht mit der Freundin teilen zu können. Leider weiß ich den genauen Wortlaut nicht mehr. Kennen Sie vielleicht zufällig dieses Gedicht?«

»Hm …« Er blickte sie erstaunt an. »Das könnte von Liu Yong sein, einem Dichter aus der Song-Dynastie. Die zweite Strophe lautet:

Wo werd’ ich heut nacht erwachen /

aus meinem Rausch – /

Das Flußufer, von Trauerweiden gesäumt /

Der Mond im Abstieg, Dämmerung steigt

aus der Brise. /

Jahr um Jahr bin ich fern / fern von Dir. /

Die herrliche Szenerie entfaltet sich nutzlos vor mir./

Wem soll ich sprechen von dieser herrlichen Landschaft.«

»Genau! Das ist es!« Sie war verblüfft, welche Veränderung mit ihm vorgegangen war. Seine Züge hatte sich aufgehellt, während er das Gedicht rezitierte.

Die Informationen des CIA schienen glaubhaft. Er war Oberinspektor und Dichter zugleich – zumindest war er mit Eliot ebenso vertraut wie mit Liu Yong. Das faszinierte sie.

Chen sagte: »Liu ist einer meiner Lieblingsdichter aus der Vor-Eliot-Zeit.«

»Was begeistert Sie so an Eliot?«

»Er kann sich nicht entscheiden, ob er seine Liebe erklären soll. Zumindest in The Love Song of J. Alfred Prufrock.«

»Dann hätte Eliot ja einiges von Liu lernen können.«

»Und ich sollte jetzt besser Parteisekretär Li aufsuchen«, sagte er und erhob sich lächelnd.

An der Kreuzung Sichuan Lu mußten sie auf die Straße ausweichen, weil der Gehweg von unerlaubt geparkten Fahrrädern versperrt wurde. Sie wollten sich gerade zum Abschied die Hände geben, als Catherine einen Motorradfahrer in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt gewahrte, dessen Gesicht von einem dunklen Helm verdeckt wurde. Er fuhr eine starke Maschine und raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Hätte Chen nicht blitzschnell reagiert, dann wäre das brummende Monster geradewegs in sie hineingefahren. An der Hand hatte er sie auf den Gehweg gezerrt und sich schützend vor sie gestellt. Gleichzeitig war sein rechtes Bein nach hinten geschnellt wie in einem Kung-Fu-Film. Der Motorradfahrer hatte Chen um Haaresbreite verfehlt, hatte kurz geschwankt, aber nicht die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. In einer wirbelnden Staubwolke raste er über die Nanjing Lu davon.

Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann war das Motorrad im Verkehrsgetümmel verschwunden. Mehrere Passanten starrten sie an und gingen dann weiter.

»Das tut mir sehr leid, Inspektor Rohn«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Diese rücksichtslosen Motorradfahrer sind eine echte Bedrohung.«

»Vielen Dank, Oberinspektor Chen«, sagte sie, und sie gingen weiter.