26
DER ZUG WAR PÜNKTLICH; um halb zehn Uhr vormittags fuhren sie in den Bahnhof von Suzhou ein.
Catherine fand Gefallen an einem Hotel in einer kleinen Straße unweit des Bahnhofs, das mit seinen geschnitzten Holzgittern vor den Fenstern, der rotgestrichenen Veranda und den Steinlöwen am Tor wie eine Antiquität wirkte.
»Ich möchte lieber hier als im Hilton wohnen«, sagte sie.
Chen teilte ihre Meinung. Er hatte vor, die Kollegen vom Suzhouer Präsidium nicht von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen, und für die paar Tage war ihm eine Unterkunft so lieb wie die andere. Für den Fall, daß jemand nach ihnen Ausschau hielt, würde man sie kaum in einem kleinen Hotel in dieser Seitenstraße vermuten. Er hatte die nach Hangzhou ausgestellten Fahrkarten, die Parteisekretär Li besorgt hatte, am Schalter umschreiben lassen, ohne jemanden davon zu unterrichten.
Das Hotel war ursprünglich ein vierflügeliges Anwesen mit Innenhof gewesen, dessen Fassade mit alten Mustern verziert war. Ein verschiedenfarbig gepflasterter Weg führte durch den winzigen Vorgarten. Der Hotelmanager hüstelte verlegen, als wäre ihm ihre Anwesenheit peinlich, und rückte schließlich damit heraus, daß das Hotel eigentlich nicht für Ausländer vorgesehen sei.
»Warum denn nicht?« wollte Catherine wissen.
»Gemäß den Richtlinien unserer Tourismusbehörde dürfen nur Drei-Sterne-Hotels Ausländer beherbergen.«
»Keine Sorge«, sagte Chen und holte seinen Dienstausweis hervor, »das ist ein Ausnahmefall.«
Leider war nur ein Zimmer der besseren Kategorie verfügbar, das Catherine bezog. Chen mußte sich mit einfacher Ausstattung zufriedengeben.
Der Manager entschuldigte sich unablässig, während er Chen sein Zimmer im ersten Stock zeigte. Dort war gerade genug Platz für ein einzelnes Bett; weitere Einrichtungsgegenstände gab es nicht. Toiletten und Waschräume befanden sich – nach Geschlechtern getrennt – auf dem Flur. Chen würde unten an der Rezeption telefonieren müssen. Catherines Zimmer war mit einer Klimaanlage, einem Telefon und eigenem Bad ausgestattet. Außerdem gab es Tisch und Stuhl, allerdings so winzig, daß sie aus einer Grundschule zu stammen schienen. Immerhin hatte das Zimmer Teppichboden.
Nachdem der Manager sich unter weiteren Entschuldigungen zurückgezogen hatte, setzten sie sich erst einmal, Chen auf den Stuhl, Catherine auf ihr Bett.
»Ich bedauere meine Wahl«, sagte Catherine, »aber Sie können das Telefon hier benutzen.«
Chen wählte Lius Nummer.
Eine Frau mit deutlichem Shanghaier Akzent meldete sich.
»Liu ist noch immer in Peking. Er wird morgen früh zurückkommen. Sein Flugzeug landet um halb acht. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Ich werde mich morgen wieder melden.«
Catherine hatte inzwischen ausgepackt. »Was machen wir jetzt?«
»Dem Sprichwort folgend, werden wir uns an diesem irdischen Paradies erfreuen. Es gibt viele berühmte Gärten hier. Suzhou ist bekannt für seine Gartenarchitektur. Pavillons, Teiche, Grotten und Brücken sollten eine angenehme, erheiternde Umgebung schaffen, das entsprach dem Geschmack der Beamten- und Literatenschaft während der Ming- und Qing-Dynastie.« Chen zog einen Stadtplan aus seiner Tasche. »Die Gärten sind höchst poetisch; ihre Brückchen, moosbewachsenen Pfade, gurgelnden Bächlein und Schmuckfelsen bilden ein harmonisches Ganzes, dem die Schrifttafeln an den zinnoberroten Pavillons dichterischen Ausdruck verleihen.«
»Ich kann es kaum erwarten, Oberinspektor Chen. Sie geben die Richtung an; ich ernenne Sie hiermit zum Stadtführer.«
»Wir werden die Gärten besichtigen, aber könnten Sie Ihrem ergebenen Stadtführer vorher vielleicht einen halben Tag frei geben?«
»Natürlich. Wozu?«
»Mein Vater liegt im Kreis Gaofeng begraben. Das ist nicht weit von hier, mit dem Bus höchstens eine Stunde. Ich war seit Jahren nicht mehr dort und würde gern heute vormittag hinfahren, zumal das qingming-Fest gerade erst vorbei ist.«
»Qingming?«
»Dieses Fest ist am fünften April; es ist der Tag, an dem wir an den Gräbern unserer Toten gedenken«, erklärte er. »Einige der bekanntesten Gärten sind nicht weit von hier. Den berühmten Yi-Garten zum Beispiel kann man in wenigen Minuten zu Fuß erreichen. Dort könnten Sie den Vormittag verbringen, und anschließend treffen wir uns zu einem echt Suzhouer Mittagsmahl beim Xuanmiao-Tempelmarkt. Den Rest des Tages stehe ich Ihnen voll zur Verfügung.«
»Sie müssen auf jeden Fall ans Grab gehen. Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Dann fügte sie noch hinzu: »Warum ist Ihr Vater eigentlich in Suzhou begraben – wenn man fragen darf?«
»In Shanghai gibt es kaum noch Platz, also hat man in Suzhou Friedhöfe angelegt. Außerdem glauben viele alte Leute an Feng Shui. Sie möchten eine Grabstätte in der Nähe eines Berges oder Flusses. Mein Vater hat sich die Stelle selbst ausgesucht, und wir haben seinen Sarg dann hierherbringen lassen. Ich habe das Grab erst zwei- oder dreimal besucht.«
»Am Nachmittag gehen wir zum Tempel, aber ich möchte den Vormittag nicht allein in der Stadt verbringen. Sie ist einfach zu schön«, sagte sie mit einem schelmischen Leuchten in den blauen Augen. »Z« wem soll ich sprechen / von dieser herrlichen Landschaft?«
»Sie erinnern sich noch an Liu Yongs Zeilen!« Chen konnte sich gerade noch verkneifen, ihr zu erklären, daß der Song-Dichter sie an seine Geliebte gerichtet hatte.
»Dann darf ich also mitkommen?«
»Sie meinen auf den Friedhof?«
»Ja.«
»Nein, das kann ich Ihnen nicht zumuten. Das wäre ein zu großes Opfer.«
»Ist es ein Verstoß gegen die chinesischen Sitten, wenn ich Sie begleitete?«
»Nein, nicht unbedingt«, antwortete Chen ausweichend und verschwieg, daß man eigentlich nur seine Ehefrau oder Verlobte mit ans elterliche Grab nahm.
»Dann lassen Sie uns gehen. Ich bin sofort fertig.« Sie verschwand im Bad, um sich umzuziehen und frisch zu machen.
Während er auf sie wartete, wählte er Yus Nummer, erreichte aber nur dessen Mailbox. Er hinterließ eine Nachricht und seine Handy-Nummer.
Als sie aus dem Bad kam, trug sie eine weiße Bluse unter einem hellgrauen Blazer und einen engen Rock aus demselben Stoff. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt.
Er schlug vor, mit dem Taxi zum Friedhof zu fahren, doch sie wollte lieber den Bus nehmen. »Ich möchte einmal den Tag wie ein gewöhnlicher Chinese verbringen.«
Das würde ihr wohl kaum gelingen, dachte er bei sich, und der Gedanke, sich mit ihr in den überfüllten Bus zu drängeln, behagte ihm gar nicht. Zum Glück entdeckten sie ein paar Straßen vom Hotel entfernt einen Bus mit der Aufschrift FRIEDHOFEXPRESS. Das Fahrgeld war zwar doppelt so hoch, aber sie konnten ungehindert einsteigen. Der Bus war weniger von Fahrgästen, als von ihrem Gepäck gefüllt – Weidenkörbe mit fertigen Gerichten, Plastiktüten mit Instantnudeln, Bambustaschen, in denen vermutlich »Totengeld« steckte, und brüchige Pappkartons, die, nur noch von Kordeln zusammengehalten, ihren Inhalt zu verstreuen drohten. Sie zwängten sich auf den Sitz gleich hinter dem Fahrer, wo kaum Platz für die Beine war. Catherine reichte dem Fahrer eine Schachtel Zigaretten – ein Souvenir, wie es »Staatsgäste« im Hotel Peace erhielten. Der Fahrer grinste ihr über die Schulter zu.
Trotz der geöffneten Fenster war die Luft stickig, und die Sitze aus Lederimitat fühlten sich unangenehm heiß an. Gerüche von menschlichem Schweiß, Salzfisch, in Wein eingelegtem Fleisch und anderen Opfergaben erfüllten den Bus. Dennoch schien Catherine bester Laune zu sein; sie plauderte mit einer Frau mittleren Alters jenseits des Gangs und inspizierte die Opfergaben der Mitreisenden mit unverhohlenem Interesse. Zum lebhaften Stimmengewirr der Fahrgäste plärrte ein unsichtbarer Lautsprecher. Die Sängerin, ein Star aus Hongkong, trällerte in den höchsten Tönen. Chen erkannte das Lied, es war ein ci-Gedicht von Su Dongpo. Ursprünglich war es eine Totenklage für seine Frau, der Text konnte aber auch allgemeiner aufgefaßt werden. Warum hatte der Busfahrer gerade dieses ci für die Fahrt ausgesucht? Die Marktwirtschaft drang in alle Lebensbereiche vor; selbst Poesie wurde zur Ware.
Oberinspektor Chen glaubte zwar nicht an ein Leben nach dem Tod, doch unter dem Einfluß der Musik wünschte er fast, daß es eines gäbe. Würde ihn sein Vater nach all den Jahren überhaupt erkennen, fragte er sich.
Da kam auch schon der Friedhof in Sicht. Einige alte Frauen kamen vom Fuß des Hügels auf sie zu. Sie hatten sich weiße Handtücher um den Kopf geschlungen und waren ansonsten in groben schwarzen Stoff gekleidet, schwärzer noch als die Raben in der Ferne. Dieselbe Szene hatte ihn bei seinem letzten Besuch erwartet.
Er faßte Catherines Hand. »Gehen wir, schnell.«
Das allerdings war nicht so einfach für sie. Das Grab seines Vaters lag etwa auf halber Höhe des Hügels. Die Pfade waren von Unkraut überwuchert, die Aufschriften auf den Wegweisern verblichen. Manche der Stufen waren reparaturbedürftig. Er mußte seinen Schritt verlangsamen, um ihr den Weg durch herabhängende Kiefernzweige und Dornengestrüpp zu bahnen. Mehrmals wäre sie fast gestrauchelt.
»Warum sind manche Schriftzeichen auf den Grabsteinen rot und die anderen schwarz?« fragte sie, während sie sich vorsichtig zwischen den Steinen entlangtastete.
»Die Namen in Schwarz bezeichnen bereits Gestorbene, jene in Rot sind noch am Leben.«
»Bringt das den Lebenden nicht Unglück?«
»In China werden Mann und Frau unter demselben Grabstein beerdigt. Nach dem Tod des Partners läßt der Überlebende den Grabstein errichten und beide Namen eingravieren – einen in Schwarz, einen in Rot. Wenn dann auch der andere Ehepartner verstirbt, lassen die Kinder dessen Sarg oder Urne dort bestatten und die Schriftzeichen in schwarzer Farbe nachziehen.«
»Das muß ein sehr alter Brauch sein.«
»Und einer, der langsam ausstirbt. Die Familienstrukturen sind heutzutage nicht mehr so stabil. Man läßt sich scheiden oder heiratet ein zweites Mal. Nur wenige alte Leute folgen noch dieser Tradition.«
Ihre Unterhaltung wurde von den schwarzgewandeten Alten unterbrochen, die sie inzwischen eingeholt hatten. Sie mußten siebzig und älter sein, humpelten aber auf ihren gebundenen Füßen stetig voran. Es war beeindruckend, mit welcher Sicherheit sich die Alten auf den beschwerlichen Bergpfaden bewegten. Sie hatten Kerzen, Weihrauch, Totengeld, Blumen und Gartengeräte dabei.
Eine kam auf ihren Lilienfüßen auf sie zugewankt und bot ihnen ein »Geisterhaus« aus Papier an. »Mögen Ihre Vorfahren Sie beschützen.«
»Was für eine schöne amerikanische Frau!« rief eine andere. »Ihre Vorfahren werden von einem Ohr zum anderen grinsen, wenn sie die sehen.«
»Ihre Vorfahren mögen Sie segnen!« psalmodierte eine Dritte. »Ihnen beiden ist eine glückliche Zukunft beschieden.«
»Sie werden im Ausland tonnenweise Geld machen!« prophezeite die vierte.
»Nein«, entgegnete er dem Chor im Suzhou-Dialekt, den Catherine glücklicherweise nicht verstand.
»Was sagen sie?« erkundigte sie sich.
»Sie wünschen uns alles erdenkliche Glück, damit wir ihnen ihre Opfergaben abkaufen.« Er kaufte einen Strauß Blumen von einer der Alten. Sie wirkten nicht gerade frisch. Vermutlich stammten sie von einem anderen Grab, aber er sagte nichts. Catherine kaufte ein Bündel Räucherstäbchen.
Als sie das Grab seines Vaters endlich fanden, eilten die alten Frauen herbei und säuberten es mit Besen und Staubwedeln. Eine von ihnen zog zwei kleine Farbdosen und einen winzigen Pinsel hervor und begann, die Schriftzeichen mit schwarzer und roter Farbe nachzuziehen. Für diese Dienstleistung mußte er bezahlen. Er tat es hauptsächlich wegen Catherine. Die alten Frauen nahmen offenbar an, er als Ehemann einer Amerikanerin müsse unermeßlich reich sein.
Er wischte Reste von Staub von dem Grabstein, während sie ein paar Aufnahmen mit ihrer Kamera machte. Das war eine gute Idee. Die Bilder würde er seiner Mutter zeigen können. Nachdem sie die Räucherstäbchen in den Boden gesteckt und angezündet hatte, stellte sie sich neben ihn und preßte, seinem Vorbild folgend, die Handflächen vor der Brust zusammen.
Was würde der verstorbene Professor und Anhänger des Neokonfuzianismus bei diesem Anblick sagen? Sein Sohn, ein chinesischer Polizeibeamter, in Begleitung einer amerikanischen Polizistin.
Er schloß die Augen und suchte einen Augenblick stiller Verständigung mit dem Verstorbenen. Er hatte den alten Mann zutiefst enttäuscht, zumindest in einer Hinsicht. Die Fortführung des Familienstammbaums war eines der dringlichsten Anliegen seines Vaters gewesen. Nun stand er noch immer als Junggeselle hier am Grab, und die einzige Rechtfertigung, die Oberinspektor Chen für sich in Anspruch nehmen konnte, war die, daß im Konfuzianismus der Dienst gegenüber dem Vaterland Vorrang vor allem anderen hatte.
Doch die stille Meditation, auf die er gehofft hatte, wurde bald wieder vom Chor der Alten unterbrochen. Zu allem Übel fiel auch noch ein Schwarm surrender Moskitos über sie her, riesige schwarze Insekten, deren blutrünstiger Überfall von den Segenswünschen der Weißhaarigen begleitet wurde.
In kürzester Zeit hatte er einige juckende Stiche abbekommen und bemerkte, daß auch Catherine sich am Hals kratzte.
Sie holte ein kleines Fläschchen aus ihrer Handtasche und besprühte seine Arme und Hände, dann rieb sie auch seinen Hals ein. Doch das Insektenabwehrspray, offenbar ein amerikanisches Produkt, machte kaum Eindruck auf die Suzhouer Moskitos. Bedrohlich summend verharrten sie in der Nähe.
Mittlerweile hasteten weitere alte Frauen in ihre Richtung.
Es war Zeit zu verschwinden, dachte er. »Wir gehen jetzt besser.«
»Warum so eilig?«
»Mit der Ruhe ist es vorbei. Ich glaube nicht, daß mir hier noch ein besinnlicher Augenblick gegönnt ist.«
Als sie den Fuß des Hügels erreichten, stellte sich das nächste Problem. Laut Fahrplan mußten sie eine Stunde auf den Bus warten.
»Es gibt Haltestellen einer anderen Buslinie an der Straße nach Mudu, aber bis dahin sind es mindestens zwanzig Minuten zu Fuß.«
Ein Lastwagen hielt neben ihnen am Straßenrand. »Wollen Sie mitfahren?«
»Gern. Fahren Sie nach Mudu?«
»Ja. Zwanzig Yuan für beide«, sagte der Fahrer. »Aber nur einer kann vorne in der Kabine sitzen.«
»Steigen Sie ein, Catherine«, sagte er. »Ich gehe nach hinten.«
»Nein, wir sitzen beide hinten.«
Er stieg auf den Reifen, schwang sich auf die Ladefläche und half ihr hinauf. Dort lagen mehrere gebrauchte Kartons. Er drehte einen um und bot ihn ihr als Sitz an.
»Das ist das erste Mal, daß ich auf einem Laster mitfahre«, sagte sie fröhlich und streckte die Beine aus. »Als Kind habe ich mir immer gewünscht, einmal auf der Ladefläche fahren zu dürfen, aber meine Eltern haben es nicht erlaubt.«
Sie streifte die Schuhe ab und massierte ihren Knöchel.
»Tut er noch weh? Das tut mir wirklich leid, Inspektor Rohn.«
»Nicht schon wieder eine Entschuldigung! Warum auch?«
»Die Moskitos, die alten Weiber, der schlechte Weg und jetzt auch noch eine Fahrt auf dem Lastwagen.«
»Aber das ist das wahre China. Was ist daran verkehrt?«
»Die Alten haben Sie ganz schön ausgenommen.«
»Gehen Sie nicht zu hart mit ihnen ins Gericht. Arme Leute gibt es überall. Nehmen Sie die Obdachlosen in New York. Es gibt Legionen von ihnen. Ich bin nicht reich, aber wenn ich ihnen mein Wechselgeld gebe, treibt mich das nicht in den Ruin.«
Als er sie ansah, wie sie in ihrer zerknitterten, verschwitzten Kleidung und ohne Schuhe auf dem Pappkarton saß, wurde ihm klar, daß sie viel mehr war als eine lebhafte, attraktive Kollegin; sie besaß Ausstrahlung.
»Nett, daß Sie das sagen«, erwiderte er. Aber dennoch sollte er, ein Parteimitglied, einer Amerikanerin nicht gerade die Armut in den ländlichen Gebieten Chinas vorführen, auch wenn diese ihm im Gegenzug von den Obdachlosen in New York erzählte. Da flüchtete er sich lieber in seine Rolle als Fremdenführer. »Sehen Sie dort, das ist die Liuhe-Pagode.«
Der Lastwagen setzte sie ein paar Straßen vor dem Xuan-ming-Tempel an der Guanqian Lu ab. Der Fahrer streckte den Kopf aus dem Führerhäuschen und sagte: »Weiter ins Stadtzentrum darf ich nicht. Die Polizei hält mich an, wenn ich Leute auf der Ladefläche habe. Aber hier kriegen Sie mit Sicherheit einen Bus. Zum Tempel können Sie auch zu Fuß gehen.«
Chen sprang als erster vom Wagen. Fahrräder sausten an ihm vorbei. Als er ihr Zögern bemerkte, streckte er die Arme aus, und sie ließ sich von der Ladefläche heben.
Bald kam der großartige taoistische Tempel an der Guanqian Lu in Sicht. Auf dem Vorplatz sahen sie einen Markt mit Imbißbuden und Ständen, die lokale Produkte feilboten; kunstgewerbliche Kleinigkeiten wie Bilder und Scherenschnitte, die es in den normalen Läden nicht gab.
»Hier geht es ja kommerzieller zu, als ich vermutet hätte«, sagte sie und griff dankbar nach der Flasche Sprite, die er für sie gekauft hatte. »Aber das ist wohl unvermeidlich.«
»Suzhou liegt zu nahe bei Shanghai, um wirklich anders zu sein. Daran sind die ewigen Touristenströme schuld«, sagte er.
Um in den Tempel zu gelangen, mußten sie Eintrittskarten kaufen. Durch das messingbeschlagene rote Tor konnten sie einen Ausschnitt des gepflasterten Innenhofs sehen, der mit Pilgern und Weihrauchschwaden angefüllt war.
Der rege Betrieb überraschte sie. »Ist der Taoismus so populär im heutigen China?«
»Betrachtet man die Zahl der taoistischen Tempel, dann ist er es nicht. Aber als Lebensphilosophie hat er großen Einfluß. So sind zum Beispiel die Leute, die im Bund-Park Tai-Chi üben, in gewisser Weise Anhänger eines säkularen Taoismus. Sie glauben, daß das Weiche das Harte besiegt und das Langsame dem Schnellen voraus ist.«
»Ja, yin verwandelt sich in yang und yang in yin, alles befindet sich im Prozeß stetigen Wandels. Ein Oberinspektor wird zum Fremdenführer oder gar zum postmodernen Dichter.«
»Und ein U.S. Marshai wandelt sich zur Sinologin«, fügte er hinzu. »Was die Praktiken seiner Anhänger angeht, so unterscheidet sich der Taoismus nicht wesentlich vom Buddhismus. Kerzen und Weihrauch werden in beiden Religionen abgebrannt.«
»Wenn man einen Tempel baut, lassen die Gläubigen nicht auf sich warten.«
»So könnte man es ausdrücken. In unserer zunehmend materialistischen Gesellschaft wenden sich viele dem Buddhismus, dem Taoismus oder dem Christentum zu und suchen dort nach spirituellen Antworten.«
»Und was ist mit dem Kommunismus?«
»Daran glauben die Parteimitglieder, aber in dieser Übergangsphase tun sie sich schwer damit. Die Menschen wissen nicht, was der nächste Tag ihnen bringen wird. Daher ist es gut, wenn sie etwas haben, woran sie glauben können.«
»Und wie ist das bei Ihnen?«
»Ich glaube daran, daß China sich in die richtige Richtung entwickelt …«
Ein Priester in gelbseidenem Gewand trat auf sie zu und ersparte Chen weitere Stellungnahmen. »Willkommen, ehrenwerte Wohltäter. Möchten Sie vielleicht ein Stäbchen ziehen?« Er hielt ihnen einen Bambusköcher hin, in dem ein Bündel Schafgarbenstengel steckte, jeder mit einer Nummer versehen.
»Was ist das?« fragte sie.
»Eine Art Orakel«, erklärte Chen. »Wählen Sie ein Stäbchen. Es kann Ihnen sagen, was Sie wissen wollen.«
»Wirklich!« Sie zog eines heraus. Es trug die Nummer 157.
Der Taoist führte sie zu einem großen hölzernen Stehpult und schlug in einem Buch die Seite mit der entsprechenden Nummer auf. Dort stand ein vierzeiliges Gedicht:
Umringt von Bergen scheint ausweglos das Tal;
Weiden bieten Schatten, Blumen grüßen, ein Dorf taucht auf.
Unter der Herzensbrecherbrücke fließen grün die Wasser des Frühlings,
in denen einst die Schöne sich spiegelte und die Wildgänse verscheuchte.
»Was will uns das Gedicht sagen?« fragte sie.
»Klingt interessant, aber interpretieren kann ich es nicht«, entgegnete Chen. »Das wird der Taoist gegen eine Gebühr für Sie tun.«
»Wieviel?«
»Zehn Yuan«, antwortete der Taoist. »Sie werden neue Einblicke erlangen.«
»Na gut.«
»Über welchen Zeitraum möchten Sie etwas erfahren – über die Gegenwart oder über die Zukunft?«
»Über die Gegenwart.«
»Und worüber wollen Sie etwas erfahren?«
»Über eine Person.«
»Dann ist die Antwort eindeutig.« Der Taoist setzte ein beflissenes Lächeln auf. »Was Sie wissen wollen, liegt unmittelbar vor Ihnen. Das erste Zeilenpaar spricht von einer plötzlichen Veränderung in einer zunächst ausweglosen Lage.«
»Und was sagt das Gedicht noch?«
»Es könnte auf eine Liebesbeziehung hindeuten, das zweite Zeilenpaar macht das deutlich.«
»Jetzt bin ich ganz verwirrt«, sagte sie und wandte sich hilfesuchend an Chen. »Sie sind derjenige, der in meiner unmittelbaren Nähe ist.«
»Das Gedicht bleibt bewußt mehrdeutig«, bemerkte Chen amüsiert. »Ich bin in Ihrer unmittelbaren Nähe, nach wem suchen Sie also? Es könnte sich doch auch um Wen handeln.«
Sie begannen ihren Rundgang durch den Tempel und betrachteten die Götterstatuen aus Gips, die auf Steinkissen ruhten – das taoistische Pantheon. Als sie außer Hörweite des Mönchs waren, bohrte sie weiter. »Sie sind doch ein Dichter, Chen. Bitte erklären Sie mir diese Zeilen.«
»Das Gedicht und die darin enthaltenen Weissagungen können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Sie haben für das Wahrsagen bezahlt, also müssen Sie sich mit der Interpretation des Mönchs zufriedengeben.«
»Aber was ist mit der Schönen, die die Wildgänse verscheucht?«
»Im alten China gab es vier legendäre Schönheiten. Sie waren so schön, daß man auf ihren Anblick nur mit Betroffenheit reagieren konnte: die Vögel flogen auf, die Fische tauchten ab, der Mond verbarg sich und die Blüten schlossen ihre Kelche. Später benutzte man diese Metaphern, um außergewöhnliche Schönheit zu beschreiben.«
Sie spazierten weiter und traten in den Innenhof. Wie jede amerikanische Touristin machte sie begeistert Fotos und suchte immer neue Blickwinkel.
Dann hielt sie eine Frau in mittlerem Alter an und bat, ob sie ein Bild von ihnen beiden machen könnte. Sie stellte sich so dicht neben ihn, daß ihr leuchtendes Haar seine Schulter berührte. Vor dem Hintergrund des Tempelgebäudes strahlte sie in die Kamera.
Der Markt auf dem Vorplatz wimmelte von Menschen. Sie sah sich eine Weile nach exotischen, aber preiswerten Mitbringseln um. Große Körbe mit duftenden Kräutern verbreiteten ein köstliches Aroma. Daneben bot eine alte Bauersfrau winzige Vogelnester, Tee aus Suzhou und getrocknete Pilze feil, und Catherine feilschte mit ihr. An einer Bude mit folkloristischem Spielzeug rasselte Chen mit einer beweglichen Papierschlange, die an einem Bambusstecken befestigt war und ihn an seine Kindheit erinnerte.
Sie suchten sich einen Tisch im Schatten eines großen Sonnenschirms. Er bestellte die typischen Suzhouer Teigtäschchen, gepulte Krabben mit zarten Teeblättern und Suppe aus Hühner- und Entenblut. Doch das Gedicht ließ Catherine nicht los, und sie erkundigte sich kauend weiter bei ihm.
»Beide Zeilenpaare sind von Lu You, einem Dichter aus der Song-Dynastie, entstammen aber unterschiedlichen Gedichten«, erklärte er. »Das erste wird häufig zitiert und beschreibt eine abrupte Veränderung. Hinter dem zweiten steckt eine tragische Geschichte. Als er schon über siebzig war, kam Lu an den Ort zurück, an dem er Shen, die große Liebe seines Lebens, zum ersten Mal gesehen hatte. Er schrieb diese Zeilen, während er in die grünen Fluten unter der Brücke starrte.«
»Was für eine romantische Geschichte«, sagte sie und schob sich einen Löffel Blutsuppe in den Mund.