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Es war Frühlingsanfang. Gelbe, weiße und lila Krokusse blühten auf den Wiesen, und selbst ausgesprochene Naturmuffel freuten sich über die Wunder, die die Erde jedes Jahr wieder hervorbrachte. Auch an den Bäumen zeigten sich bereits die ersten Blätter, nur die Rhododendren blühten noch nicht.

Eine kleine Gruppe stand in der Frühlingssonne vor dem Sarg, auf dem ein Kranz aus weißen Lilien lag. Das Ende eines Lebens – oder war das erst der Anfang, wie Lily geglaubt hatte?

Er hörte noch ihre Worte: »Alles hat einen Sinn, Sammy.« Ja, dachte er, ihre Krankheit, ihr Tod hatten am Ende einen Sinn gehabt. Ohne Lily wäre er nicht in der Klinik auf die Skelettfrau gestoßen und hätte den entscheidenden Hinweis auf den Mörder nicht erhalten. Die Frau, von der sie nun immerhin wussten, dass sie Solveigh hieß, war nach der Hypnose wieder in ihre Welt eingetaucht und flüsterte seitdem wieder Bibelverse vor sich hin.

Die Sonne spiegelte sich auf dem blanken Holz des Sarges. Fast schien es, als schimmere der Sarg selbst, als suche sich die hell leuchtende Seele darin ihren Weg in die Freiheit.

Sam hatte eine Sonnenbrille auf, unter der jetzt eine einzelne Träne hervorlief und ihm über die Wange rann. Er spürte eine Hand auf seinem Rücken, die ihn mehr tröstete, als es Worte vermochten. Er sah zur Seite und betrachtete das hübsche Profil von Lina, ihre langen Wimpern, ihre vollen Lippen und ihren blassen Teint, der noch an die Strapazen der letzten Wochen erinnerte.

Auf ein Wiedersehen in einem anderen Leben, mein Freund Argault, dachte Sam. Der Sarg wurde in sein Grab herabgelassen und Sam warf eine Rose hinein.

 

»Ich habe jetzt eine Antwort auf deine Frage.«

»Auf welche Frage?«

»Warum ich an Gott glaube. Weißt du, es ist nicht der Glaube an den Gott, es ist der Glaube an sich, an das Übernatürliche, der unserem Dasein einen Sinn gibt und der uns nicht selbstverantwortlich sein lässt für unser Schicksal, sondern die Verantwortung einer höheren Macht überlässt. Erinnerst du dich noch an unsere Nacht, als wir über Gott und die Welt geredet haben?«

»Weniger an das, als an …«, weiter kam er nicht, denn Lina kniff ihn kräftig in den Arm. »Du hast gesagt, dass Gott ein Zauberer sein müsste, um die Welt in sieben Tagen erschaffen zu haben, wo ein Baum Jahre braucht, um zu wachsen. Hast du mal darüber nachgedacht, wie der Mensch Gott darstellt?«

»Lass mich überlegen.« Sam machte eine Miene, als würde er angestrengt nachdenken. »Weißhaariger Mann mit langem Bart und ernstem Gesicht?«

»Du bist doof.« Sie kniff ihn wieder in den Arm und lachte.

»Aber jetzt mal im Ernst. Erinnert dich das nicht ein wenig an Merlin oder Gandalf, den Zauberer?«

Sam blieb stehen und sah Lina an. »Weißt du, ich glaube, mit der Erklärung kann ich leben.«

Dann griff er in die Luft, als würde er etwas fangen, öffnete langsam seine Hand und hielt sie Lina hin.

»Hey, wo hast du den hergezaubert?«

»Nenn mich einfach Merlin.« In Sams Hand lag der kleine silberne Engel, den Sam auf dem Boden in ihrem Apartment gefunden hatte. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und küsste sie. Seine Hand fuhr an ihrem schlanken Hals entlang, über die Halsschlagader, die nun wieder in einem steten Rhythmus pulsierte. In einem Rhythmus, den das Herz eines Mörders vorgab.

Sie gingen weiter Richtung Ausgang, vorbei an den vielen Gräbern mit den Namen längst vergangener Seelen, die vielleicht inzwischen wieder unter ihnen weilten.

Gottesopfer: Thriller
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