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SPIELBERG
Am Nachmittag erreichte Sam das Kloster in Spielberg. Eine Glocke hing links über der Tür, und nachdem Sam keinen Klingelknopf finden konnte, zog er einfach kräftig an der Schnur. Das Läuten durchbrach die friedhofsähnliche Stille. Kurz darauf öffnete sich ein kleines Fenster in der Tür, und ein dunkles Augenpaar unter einer weißen Haube beäugte ihn.
»Ich hatte heute Mittag angerufen, wegen des Brandes im Jahr 1995.«
Ein knappes Nicken, ein Riegel wurde beiseitegeschoben und vor Sam stand eine Nonne, die ihm gerade mal bis zur Brust ging. Sie war noch jung und wäre vielleicht ohne ihre strenge Tracht und den unförmigen weißen Schuhe mit Gummisohle ganz apart gewesen. Sam fragte sich, warum alle meinten, Gott nur mit Biederkeit und Hässlichkeit dienen zu können. Er folgte Gottes Zwerg in ein Büro und setzte sich auf einen alten Holzstuhl vor dem Schreibtisch.
»Schwester Maria kommt gleich«, sagte die Nonne leise und verschwand.
Wenig später saß er Schwester Maria gegenüber.
»Wie kann ich Ihnen heute helfen, Herr O’Connor?«, fragte sie sanft.
»1995 gab es einen Brand in Ihrem Kloster, bei dem eine der Schwestern umkam. Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
Die Schwester nahm ihre dicke Hornbrille ab und rieb sich den Nasenrücken.
»Es war eine furchtbare Nacht. Wir wurden durch den Rauch wach, der uns die Sicht und den Atem nahm. Ich weiß es noch, als wäre es gestern geschehen. Wir liefen den Gang hinunter, vom Dormitorium in die Kirche. Was für ein Glück, dass es ihn noch gab! Früher waren die Schwestern so nachts zum Beten in die Kirche gegangen, heute wird er so gut wie nicht mehr benutzt. Auf jeden Fall konnten wir uns alle retten, bis auf Schwester Augustina. Sie kam in den Flammen um.« Sie bekreuzigte sich.
»Und in der gleichen Nacht starb doch auch Bruder Paul, nicht wahr?«, fragte Sam.
»Ja, an einem Herzinfarkt. Wir fanden ihn erst morgens tot in seinem Bett, aber das habe ich Ihnen ja schon gesagt.«
»Weiß man, wie der Brand entstanden ist?«
»Nun, man vermutete durch Kerzen. Aber ich sag Ihnen, der Teufel hatte da seine Hände im Spiel. Als wir wegen Bruder Paul telefoniert haben, habe ich es nicht erwähnt, weil ich es nicht für wichtig hielt …« Sie sprach jetzt leiser, als hätte sie Angst, dass jemand mithören könnte. »Ich habe die ganzen Jahre kein Wort darüber verloren, aber es gab da etwas, was sehr eigenartig war.« Automatisch beugte Sam sich ein wenig vor, um sie besser zu hören, zur Not die Worte von ihren Lippen lesen zu können.
»Nur die eine Hälfte des Zimmers war verbrannt, das war schon einmal seltsam, und dann lagen in der Ecke auf der anderen Seite abgeschnittene Haare.«
»Sagten Sie abgeschnittene Haare?«
»Ja, richtig. Wir haben uns damals gewundert. Warum hätte sich Schwester Augustina nachts die Haare abschneiden sollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Nein, das ergibt in der Tat keinen Sinn, Schwester«, sagte Sam und dachte genau das Gegenteil. Wie oft hatte er sich die Fotos der kahl geschorenen Mordopfer angesehen. »Hatte Bruder Paul mit irgendjemandem Kontakt, außer mit den Schwestern natürlich?«
»Dieser alte Mann, Gott hab ihn selig, war schon ein komischer Kauz. Wirklich viel zu tun hatte keine von uns mit ihm. Aber wir hatten einen Jungen hier, der sich ganz rührend um ihn kümmerte. Und Bruder Paul war wie ein Vater zu ihm.«
»Einen Jungen?«
»Ja, er kam als Kind zu uns. Ich habe mich oft gefragt, warum. Aber das wusste nur Schwester Augustina. Sie hatte das damals in die Wege geleitet. Wissen Sie, als Sie mich neulich nach Bruder Paul fragten und ich in den Akten nachsah, habe ich auch nach einer Akte über den Jungen gesucht. Aber es gibt nichts, gar nichts über ihn.«
»Ist es denn üblich, dass Sie hier auch Waisen aufnehmen? Ich dachte, das hier ist ein Hospiz für Alte und Kranke?«, bemerkte Sam.
»Er war kein Waise, seine Eltern, zumindest sein Vater, lebte noch. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er hier eintraf. Ich stand am Fenster und habe gesehen, wie er ihn einfach hier abgesetzt hat. Kam mit dem Auto, ließ den Jungen aussteigen und fuhr wieder weg. Er hat ihn in den zehn Jahren nicht einmal besucht. Stellen Sie sich das mal vor.«
Sie machte eine lange Pause, sodass Sam schon die nächste Frage stellen wollte, doch dann sprach sie plötzlich weiter. »Wissen Sie, ich habe nie darüber gesprochen, aber ich hatte schon damals das Gefühl, dass Schwester Augustina und den Jungen irgendetwas verband. Auf der einen Seite kommandierte sie ihn herum und schimpfte ihn viel, auf der anderen Seite ließ sie ihn nie aus den Augen.«
»Wie meinen Sie das?«
Schwester Maria zuckte mit den Schultern und sah nach oben. »Gott verbindet die Menschen auf eigentümlichste Art und Weise. Und nur er allein kennt den wahren Grund.«
Sam nickte, als würde er verstehen, was er jedoch nicht tat. Mit diesen religiösen Phrasen konnte er einfach nichts anfangen. »Was ist aus dem Jungen geworden?«
»Er verschwand an dem Morgen, als wir Bruder Paul fanden. Er hat alle seine Sachen mitgenommen, sogar die zweite Kutte des Paters. Na ja, der alte Mann brauchte ja nur eine fürs Grab. Vielleicht wollte er ein Andenken? Er hat ja sehr an ihm gehangen.«
»Wie hieß der Junge?« Immer einen Schritt weiter. Sams Innenflächen waren schweißnass vor Aufregung.
»Lukas hieß er. Als er hierher kam, war er nicht getauft, und so entschied Schwester Augustina, ihn taufen zu lassen. Sie dachte, dass so der Teufel von ihm fernbleiben würde.«
»Und erinnern Sie sich noch an seinen Nachnamen?«
»Nein, tut mir leid, und ich sagte ja bereits, dass ich keine Papiere über ihn gefunden habe. Aber warten Sie …«
Sie stand auf und ging zu einem Bücherregal. Mit der Hand fuhr sie über die vielen Buchrücken, hielt bei einem inne und legte den Kopf schief. Dann zog sie ein dickes ledergebundenes Buch heraus und setzte sich damit wieder hinter den Schreibtisch. Es war ein Fotoalbum.
»Ach, hier haben wir es. Man kann kaum etwas erkennen. Es wurde kurz nachdem er hierher gebracht worden war aufgenommen.« Sie drehte das Album und schob es Sam hin.
Sam hielt den Atem an. Auf dem Foto waren ungefähr fünfzehn Nonnen abgebildet. Sie standen in zwei Reihen vor dem Kloster. Am Rand war ein kleiner Junge zu sehen. Er war nur zur Hälfte abgebildet und war wohl nur versehentlich mit auf das Foto gekommen. Er war vielleicht acht oder neun Jahre, hatte dunkle Haare und trug einen einfachen Wollpullover sowie eine lange Hose.
»Das hilft Ihnen wohl nicht viel, nicht wahr? Man kann ihn kaum erkennen. Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, sind seine Augen. Sie sahen merkwürdig aus. Ich glaube, sie waren unterschiedlich.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Farben. Sie waren nicht gleich. Ja, jetzt sehe ich es richtig vor mir: Ein Auge war blau, das andere grün.«
»Das ist tatsächlich selten.« Sam brannte noch eine Frage auf der Zunge. »Schwester, wissen Sie noch, wie Schwester Augustina mit weltlichem Namen hieß? Denn ich gehe mal davon aus, dass Augustina ihr Ordensname war.«
Die Nonne schenkte Sam ein kleines Lächeln. »Ich kannte Schwester Augustina nur unter diesem Namen. Aber im Keller werden die Akten über die verstorbenen Nonnen aufbewahrt. Ich werde sie für Sie heraussuchen.«
»Das wäre sehr hilfreich.«
Sam betrachtete wieder das Foto. »Kann ich es mitnehmen? Ich schicke es Ihnen zurück, wenn wir eine Kopie davon gemacht haben, Schwester.«
»Ja, kein Problem.«
Vorsichtig trennte Sam das Bild aus dem Album und steckte es ein. Dann fiel ihm noch etwas ein: »Sie sagten vorhin, dass Schwester Augustina hoffte, durch die Taufe den Teufel von ihm fernzuhalten. Was meinten Sie damit?«
Schwester Maria zögerte, als ringe sie mit sich, noch ein Geheimnis dieses Klosters preiszugeben.
»Sie hat sich immer bekreuzigt, wenn sie ihn gesehen hat. Vor allem, als er älter wurde. Eines Nachts habe ich gehört, wie sie in ihrem Zimmer für ihn gebetet hat, dass der Teufel ihn verschont. Sie war fest davon überzeugt, dass der Junge eine schwere Bürde mit sich trug, und dass er eine schwarze Seele hatte.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber das sind alles alte Geschichten! Warum sind Sie so an Bruder Paul, dem Jungen und Schwester Augustina interessiert?«
»Wir suchen einen Serienmörder, jemanden, der mit den Foltermethoden der Inquisition Frauen auf brutalste Weise umbringt.«
Sam hatte damit gerechnet, dass sie erschreckt zusammenfahren oder entsetzt ein Kreuz schlagen würde, aber nicht mit dem, was er jetzt zu hören bekam.
»Was heißt schon auf brutalste Weise? Seien Sie doch ehrlich: Was ist denn heute noch brutal? Durch die Medien umgibt uns die Gewalt zu jeder Stunde, sodass es schon keinen mehr schockiert, wenn Kinder andere Kinder oder ihre Eltern töten, oder aber Eltern ihre eigenen Kinder töten. Fast täglich hört man doch von Babys, die in der Tiefkühltruhe oder im Müll landen, einfach weggeworfen! Fast täglich sieht man erschossene Menschen oder von einer Bombe zerrissene Kinder im Fernsehen. Es berührt die Menschen nicht einmal mehr, weil täglich die Grenzen des Erträglichen überschritten werden. Ich sage Ihnen etwas: Die Gesellschaft hat keinen Respekt vor dem Leben. Die Menschheit ist auf der niedrigsten Stufe angekommen, sie ist verroht, sie hat den Glauben verloren. Ihr Mörder ist nur ein weiteres Produkt dieser gottlosen Zeit.«
»Sollte dieses Produkt, wie Sie es nennen, in Ihrem Kloster groß geworden sein, wäre das allerdings sehr bedenklich. Ein Haus Gottes, dem der Teufel entsprungen ist.« Sam lächelte.
Doch Schwester Maria ließ sich nicht einschüchtern.
»Der Teufel ist ein gefallener Engel, der sich Gott nicht unterwerfen wollte. Und doch gehört auch er zu Gottes Plan.«
Sam beschloss, mit der Nonne nicht weiter über Gott, seinen Plan oder den Teufel zu diskutieren. Er bedankte sich für ihre Hilfe und war froh, als er im Auto saß und sich auf den Weg zu Juri nach Burghausen machte.