17
Lina saß in der ersten Reihe direkt vor dem Altar auf einer Holzbank und betete leise. »Engel Gottes, du bist zu meinem Beschützer bestimmt. Erleuchte, leite und führe mich, denn Gott selbst hat mich dir anvertraut. Lass mich die dumme Kuh in der Praxis nicht hassen, gib mir Kraft, ihr ins Gesicht zu lachen.« Cecilia hatte ihr noch kurz vor Feierabend ein paar Buchungen aufs Auge gedrückt – mit dem Kommentar, sie bräuchte sie noch heute Abend. Lina war klar, dass das ein Machtspielchen war, und so hatte sie Cecilia angelächelt und die Unterlagen entgegengenommen, obwohl sie ihr am liebsten in ihren dicken Hintern getreten hätte. Lina wusste, man sah sich immer zweimal im Leben, und ihr Tag würde noch kommen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das war schließlich auch in der Bibel erlaubt.
»Bitte, lieber Gott, gib meinem Vater die ewige Ruhe, leuchte ihm und lass ihn nicht im Dunkeln. Danke für jeden Tag, den mein Herz schlägt.« Lina überlegte, wen sie in ihrem Gebet vergessen hatte. »Ach ja, und mach Tante Patricia wieder gesund, damit Onkel Fernando nicht allein bleiben muss. Der arme Mann würde ja sonst verhungern.«
Lina hoffte, dass sie Pater Dominik noch sah, obwohl sie sich eingestehen musste, dass es abends um halb acht eher unwahrscheinlich war, ihren heimlichen Schwarm zu treffen. Leider hatte sie die letzte Messe verpasst. Sie überlegte, wie sie unauffällig noch länger bleiben konnte, und tat so, als würde sie weiter beten.
Die großen weißen Kerzen tauchten den mittleren Teil der Kirche in ein weiches Licht. Vorne im Altarraum brannte nur das Ewige Licht, der hintere Teil der Kirche lag im Dunkeln. Plötzlich flackerten die Kerzen, einige gingen sogar aus. Lina bekam eine Gänsehaut, die sich von ihrem Nacken den ganzen Rücken hinunterzog. Ein unangenehmes Gefühl befiel sie. Beobachtete man sie heimlich? Sie besuchte seit etwa zehn Jahren die Kirche, kannte jeden Winkel, jeden Kratzer in den Holzbänken, und es war das erste Mal, dass sie sich hier nicht wohlfühlte.
Langsam drehte sie sich zum Eingangsportal um und konnte so die ganze rechte Seite überblicken. Die alte Dame, die dort gesessen hatte, als sie gekommen war, war nicht mehr da. War sie etwa allein in der Kirche?
Die linke Seite war ebenfalls leer, bis auf einen Mann mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf, der in der hinteren Reihe im Halbdunkel saß. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Lina wünschte sich plötzlich mehr denn je, dass Pater Dominik durch die kleine Seitentür käme. Sie wandte sich erneut zu dem Mann um, der in diesem Moment ebenfalls seinen Kopf in ihre Richtung drehte.
Sie atmete tief durch und versuchte, klar zu denken. Dunkelheit machte Lina Angst. Schon als Kind hatte sie sich im Dunkeln gefürchtet – vor allem nach jenen Nächten, die sie bis heute nicht vergessen konnte. Ihre Mutter sagte immer, die Dunkelheit sei die Heimat der bösen Geister, weil sie im Licht nicht existieren könnten.
Lina bekreuzigte sich und tat so, als wolle sie aufstehen, wagte aber noch einmal einen Blick nach hinten. Der Mann war nicht mehr da, dennoch spürte sie seine Präsenz. Wo war er? Dann nahm sie neben sich eine Bewegung wahr. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, und als ob sie erhört worden wäre, öffnete sich quietschend die kleine Tür hinter der Kanzel, ein Kopf erschien, sah sich kurz in der Kirche um, und die Tür fiel wieder ins Schloss. Sie wollte gerade rufen, als jemand neben ihr sagte:
»Entschuldigung, kommen Sie öfter hierher?«
Lina fuhr herum, als hätte sie einen Schlag bekommen. Neben ihr stand der Mann mit der schwarzen Mütze. Er lächelte sie an, und zu ihrer Überraschung hatte er keine schwarzen Zähne, kein schiefes Gesicht, keine drei Augen oder einen Schlund, aus dem der Speichel tropfte. Ganz im Gegenteil: Er sah sogar ziemlich gut aus. Sie blickte an ihm herunter. Seine Hände steckten in Handschuhen, hielten aber weder ein Messer noch Strangulationswerkzeug. Handschuhe? Na gut, es war nicht gerade warm hier drin und draußen war es saukalt. Zeig keine Angst, ging es ihr durch den Kopf.
»Sagen Sie mal, schleichen Sie sich immer an betende Menschen heran?«, fauchte sie ihn an.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Das lag nicht in meiner Absicht.«
Das hörte sich so ehrlich an, dass sie nur noch ein zickiges
»Ach ja?« von sich gab.
Der Mann betrachtete die bunten Kirchenfenster über dem auferstandenen Jesus, und Lina studierte kurz sein Profil. Ein ausgesprochen schönes Profil. Eine gerade Nase, ein geschwungener Mund, eine ebenmäßige, leicht gebräunte Haut. Hatte er eine Glatze oder warum trug er eine Mütze in der Kirche?
»Sie scheinen nicht oft in die Kirche zu gehen?«
Jetzt sah er sie wieder direkt an und zog überrascht die rechte Augenbraue hoch. »Wie kommen Sie darauf?«
»Wussten Sie nicht, dass man in der Kirche keine Kopfbedeckung trägt?«
»Hat der Papst doch auch auf, wenn er seine Reden schwingt.«
»Sie meinen die Mitra?«
»Mag sein, dass die Kochmütze so heißt.«
Lina musste lachen. »Die Mitra wird nur von Bischöfen und Äbten getragen. Aber Normalsterbliche, die eine Kirche besuchen, nehmen ihre Kopfbedeckung ab.«
Wortlos zog er seine Mütze vom Kopf und strich sich sein volles schwarzes Haar nach hinten.
Lina schmunzelte. Keine Glatze. Wieder hatte sie dieses eigenartige Gefühl im Nacken, und gleichzeitig flackerten die Kerzen leicht in einem Windzug. Sie drehte sich noch einmal um, aber hinter ihnen war niemand zu sehen.
»Kennen Sie den Priester dieser Kirche?«
Lina wandte sich wieder dem Mann neben ihr zu. »Sie sind also das erste Mal hier?«
»Ja, ich fand die Kirche so schön von außen, und da dachte ich, ich schau sie mir mal von innen an.«
»Und was hat das mit dem Priester zu tun? Wollen Sie vielleicht etwas beichten?«, fragte Lina keck.
Der Mann schmunzelte: »Können Sie mir vielleicht mal eine Frage beantworten, ohne eine Gegenfrage zu stellen?«
»Ja, ich kenne Pater Dominik relativ gut«, sagte Lina etwas verträumt, korrigierte sich aber sofort. »Ich meine, so gut nun auch wieder nicht. Also …« Was redete sie da nur? Der Mann musste ja denken, dass sie ein Verhältnis mit dem Priester hatte.
Tatsächlich sah er sie mit seinen braunen Augen fragend an.
Lina fühlte sich plötzlich unter seinem Blick aus unerfindlichen Gründen schuldig. Sie merkte, wie ihr heiß wurde, die Hitze stieg nach oben bis zu ihren Haarwurzeln, und wollte von dort nicht mehr entweichen. Im Gegenteil, sie verteilte sich und breitete sich ganz langsam in ihrem Gesicht aus, bis sie puterrot war.
»Also was ich eigentlich sagen wollte, ich komme seit Jahren in diese Kirche.«
Wieder zog er seine Augenbraue nach oben.
»Ich muss jetzt nach Hause.« Lina erhob sich.
»Ich heiße übrigens Sam. Sam O’Connor.« Er gab ihr seine behandschuhte Hand, und Lina nahm sie, darauf achtend, dass ihr Händedruck nicht zu lasch war.
»Lina Lopez. O’Connor? Sie hören sich aber nicht wie ein Amerikaner an.«
»Mein Vater ist Amerikaner, meine Mutter Deutsche.« Plötzlich ging die Tür hinter dem Altar auf, und diesmal erschien nicht nur ein Kopf, sondern ein junger Mann. Als er näher kam, erkannte Lina ihn als einen der Messdiener. Er hatte einen Schlüssel in der Hand und wollte offensichtlich die Kirche abschließen.
»Ich denke, wir sollten gehen«, sagte Lina leise und ging zum Mittelgang.
Sam dagegen trat auf den Mann zu. »Sagen Sie, ich würde gerne mit dem Pfarrer der Gemeinde sprechen. Ich war heute Nachmittag schon einmal hier.«
»Er ist erst morgen wieder da, wenn Sie also morgen wiederkommen würden?«
»Ja, das werde ich dann wohl tun müssen.«
Lina war bereits Richtung Ausgang gegangen und bekreuzigte sich noch einmal, während Sam sich zum Trotz noch in der Kirche seine Mütze wieder aufsetzte.
Lina schaute abermals in die hinteren dunklen Bankreihen, ob sie dort etwas sah, aber da war niemand. Das unangenehme Gefühl war verschwunden.
Draußen hatte es offenbar kräftig geschneit: Ein zwanzig Zentimeter hoher weißer Teppich lag auf Straßen und Vorgärten. Sam klappte den Kragen seines schwarzen Ledermantels hoch, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen, und Lina zog sich ihre cremefarbene Wollmütze tiefer ins Gesicht. Nur ein paar kleine, kaum noch wahrnehmbare Fußspuren, die zu einer Seitenstraße führten, und ein paar größere, deutlich sichtbare von der Kirche zur Hauptstraße störten die weiße Pracht. Lina und Sam folgten den Spuren zur Hauptstraße, ohne zu ahnen, in wessen Fußspuren sie da traten.
Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, bis Lina das Wort ergriff.
»Sind Sie hier in die Nähe gezogen oder warum waren Sie heute in der Kirche?«
»Ich bin in die Nähe gezogen. Da haben Sie ins Schwarze getroffen.« Sam lächelte Lina an.
»Dann kann man davon ausgehen, Sie öfter dort zu treffen?«
»Eventuell, ja.«
»Sie glauben aber nicht an Gott, oder?«
Diese junge Frau war ziemlich aufmerksam, fand Sam. Da er sie nicht vor den Kopf stoßen wollte, verkniff er sich jeglichen bissigen Kommentar über die Kirche und antwortete mit einem schlichten »Nein.«
Lina sah ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. Sie hatte eine negative Schwingung wahrgenommen. Dann sagte sie langsam: »Ja, es ist schon komisch, manche Leute haben Angst zu glauben. Sie fühlen sich dann nicht individuell genug.«
Sam atmete tief durch. Er war bei Glaubensfragen oft zu emotional, hatte immer das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Er zählte innerlich bis drei und fragte dann lediglich: »Warum glauben Sie an Gott?«
Lina überlegte einen Augenblick, als ihr voller Schrecken bewusst wurde, dass sie darauf keine Antwort wusste.. Sie glaubte zwar an Gott, aber warum? Das hatte sie sich noch nie gefragt.