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Lina erwachte von ihrem eigenen Stöhnen. Sie lag immer noch auf dem Bauch, ihr Rücken tat ihr langsam weh, und sie wünschte sich nichts mehr als den Rücken durchzustrecken. Immer noch oder schon wieder war es so dunkel, dass sie nur schemenhafte Umrisse erkennen konnte. Die Matratze stank immer noch und der Stuhl stand noch an der gleichen Stelle. Ihre Haare stellten sich auf. Etwas war jetzt hier, was definitiv vorher nicht da gewesen war. Sie fühlte, die Präsenz eines Menschen im Raum. Ein Blick, der sich förmlich in sie hineinbohrte, sie nicht losließ. Sie versuchte sich umzudrehen, so weit es ihre Fußfesseln zuließen. Und tatsächlich: Direkt am Fußende stand jemand und sah auf sie herunter.
Sie gab durch das Klebeband dumpfe Laute von sich. Ihr Kopf wurde festgehalten und mit einem Ruck das Band vom Mund gerissen. Ihre Lippen brannten wie Feuer.
Eine Hand streichelte ihr über den Kopf, ihre Wange, ihre Schultern, ihren Rücken, dann hörte sie ihn flüstern: »Ich liebe dich.«
Er liebte sie? Es war also kein Zufall, dass sie hier war. Er kannte sie und sehr wahrscheinlich kannte sie ihn auch. Diverse Männer gingen ihr durch den Kopf. Er war vielleicht ein Gast aus dem Restaurant ihrer Mutter oder ein Patient. Vielleicht jemand, der ihr gar nicht aufgefallen war. Oder Doktor Ritter? An ihn hatte sie schon einmal gedacht, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Das war nicht seine Stimme, diese hier klang eher wie die von … Nein, das konnte unmöglich sein. Sie hob den Kopf, um die Größe des Mannes abzuschätzen. Schwer einzuschätzen, denn er hockte gerade neben dem Bett und lockerte die Fesseln an ihren Beinen. Erleichtert drehte sie sich auf den Rücken.
Als er sich erhob, sah sie, wie groß er ungefähr war. Auch wenn es aus ihrer Perspektive nicht ganz einfach war. Jetzt war sie sich fast sicher, dass er es war. Vor Erleichterung begann sie zu weinen. Er würde nichts tun.
»Warum hast du nicht gesagt, dass du mich liebst? Hast du nicht gemerkt, dass ich die ganzen Jahre über auch in dich verliebt war?«
Der Mann schüttelte leicht den Kopf und ging dann zur Tür.
»Bitte geh nicht. Bleib bei mir.«
Aber er ging und schloss die Tür hinter sich. Ein Riegel wurde vorgeschoben und seine Schritte entfernten sich.
Lina war wieder allein in ihrer Gruft.