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Knarrend öffnete sich die Tür und das Licht ging an. Lina kniff die Augen fest zusammen. Sie hatte so lange in der Dunkelheit gelegen, dass die plötzliche Helligkeit in ihren Augen schmerzte. Es dauerte eine Weile bis sie sehen konnte, was um sie herum geschah. Umso erstaunter war sie, als sie erkannte, wer da an ihren Fußfesseln herumnestelte und sich anschließend neben sie setzte. Starr blieb sie liegen und versuchte zu verstehen.
»Es tut mir leid, dass ich dich hier so zurücklassen musste, aber ich hatte noch einiges zu erledigen. Jetzt habe ich alle Zeit der Welt. Nur für dich.« Er griff nach ihrem Handgelenk und holte etwas aus seiner Hosentasche.
Lina brauchte nicht hinzusehen, sie konnte an dem Geklimper hören, dass es ihr Armband war, das er ihr umband. Ihre Erstarrung löste sich ein wenig.
»Was fällt Ihnen ein, mich hier einzusperren?«, fragte sie zornig.
»Verstehst du denn nicht? Gott hat uns wieder zusammengeführt.«
»Was?« Ungläubig sah sie ihn an. »Das können Sie nicht im Ernst meinen.«
»Dieses Mal wirst du unser Kind bekommen können, meine Geliebte. Keiner wird uns davon abhalten, für immer vereint zu sein.«
Was für ein Kind? Lina erinnerte sich dunkel an die grauenvolle Rückführung von Herrn Lange. Eine junge Geliebte und eine boshafte Ehefrau, das Kind, der Scheiterhaufen und die Flammen. Aber was hatte sie damit zu tun? Sie hatte das Ende der Sitzung nicht mitbekommen. Konnte es sein, dass sie…?
Plötzlich fingerte er an ihrer Bluse herum. Sie stieß seine Hand weg. »Was soll das?
»Du bist Luise, meine Geliebte aus dem 17. Jahrhundert, weißt du das denn nicht? Eine jahrhundertlange Suche hat aufgehört. Nun ergibt so vieles einen Sinn. Dass ich nach Hamburg gekommen bin, warum ich diese Operation hatte. Gott hat uns wieder zusammengeführt.«
Lina begriff nun allmählich. Sie war also die Frau, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Und dieser Spinner dachte, er könnte das Rad der Zeit einfach zurückdrehen?
Sie musste schnellstmöglich hier raus. Nur wie? Sie sah sich in ihrem Gefängnis um. Zum ersten Mal konnte sie sich im Licht orientieren und sah, wohin er sie gebracht hatte. Ihr Blick wanderte über die Mauern aus roten Ziegelsteinen. Es gab kein Fenster, nicht einmal eine kleine Luke, durch die sie sich hätte zwängen können. Dann betrachtete sie den Stuhl in der Ecke genauer. Er war aus Holz und sah ziemlich eigenartig aus. Er war gespickt mit spitzen Dornen. So etwas hatte sie schon einmal gesehen, in einem Film über Hexenprozesse. Sie bekam Angst. Panisch sah sie sich um und entdeckte Eisenketten an der Wand und auf dem Fußboden vor ihrem Bett einen großen dunklen Fleck. War das etwa Blut? Sie war sich nicht sicher, aber eines wusste sie nun mit Gewissheit: Das hier war ein Folterkeller, und Herr Lange war wahnsinnig. Wahrscheinlich hatte er schon einmal irgendjemanden vor ihr hier eingesperrt. Sie wollte sich nicht ausmalen, was mit dieser Person passiert war.
Lina beschloss zu handeln.
»Okay, also wenn es so ist, wie du denkst, dann würde ich vorschlagen, du machst mich hier los und wir heiraten. Wird ja langsam Zeit nach drei Jahrhunderten, oder? Aber vorher würde ich gerne etwas essen«, sagte sie sanft.
Er näherte sich ihr langsam. Lina wich zurück und befürchtete schon das Schlimmste, aber er gab ihr nur einen Kuss auf die Wange und erhob sich.
»An wen hattest du gedacht, als du sagtest, du wärst in mich verliebt?« Seine Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen.
Lina hatte an Pater Dominik gedacht. Er hatte die gleiche Statur wie Herr Lange, war ebenfalls groß und schlank und hatte, das erkannte sie jetzt, sogar fast die gleichen Augen. Was sollte sie ihm sagen? Sie suchte nach Worten, nach einer Erklärung, doch er winkte ab.
»Ich weiß es auch so. Ja, Pater Dominik war wirklich ein überaus gut aussehender Mann. Ein Mann zum Verlieben, wenn er nicht das heilige Gelübde abgelegt hätte. Oder vielleicht fandest du ihn gerade deshalb so interessant? Weil er unerreichbar war? Er war der falsche Mann, und es war die falsche Zeit. Er wird uns jetzt nicht mehr im Wege stehen.«
Die Tür fiel ins Schloss, und der Riegel wurde wieder vorgeschoben. Dann herrschte Stille. Linas Kopf schwirrte. Woher wusste er, wer Pater Dominik war? In ihrem Inneren kannte sie die Antwort jedoch bereits, die verblüffende Ähnlichkeit, die ihr erst jetzt aufgefallen war, sagte alles. Doch warum hatte er gesagt, er war ein gut aussehender Mann? Das Wort bohrte sich in ihren Kopf. War, war, war, war …
Nein, schrie sie lautlos. Bitte nicht!