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Sam hatte noch von der Klinik aus bei Gina Geiger angerufen und sie gebeten, ihr die Telefonnummer von Yvonne Reimers zu geben, der Frau, die Irene Geiger kurz vor ihrem Verschwinden und ihrem grauenhaften Tod zusammen mit einer jungen Frau gesehen hatte. Vielleicht war die junge Frau ja die rätselhafte Patientin in der Klinik? Vielleicht waren sie und Irene Geiger zusammen verschleppt worden, und während der Mörder Frau Geiger gleich umgebracht hatte, hatte er die andere Frau am Leben gelassen. Er rief bei Yvonne Reimers an und bat sie, ihn in einem Café zu treffen.
Er war ein wenig zu früh und so saß er in dem kleinen Café in Eppendorf und dachte über Lina nach, während er in seinem Espresso herumrührte. Er spürte, dass sie in Gefahr war, und seine Hilflosigkeit brachte ihn fast um den Verstand. Er hatte keine Ahnung, wo er ansetzen sollte. Nur eines wusste er: Lina war angeblich ein Medium. Und was das hieß, wollte er sich gar nicht ausmalen.
Aber wer war der Mörder? Inzwischen glaubte Sam nicht mehr, dass es Pater Dominik war. Natürlich, es sprachen einige Fakten gegen ihn. Der Junge aus dem Kloster hatte merkwürdige Augen gehabt, und auch Pater Dominiks grün-blaue Augen konnte man als auffällig bezeichnen. Außerdem hatte der Pater für keine der Mordnächte ein Alibi, die Bibeln stammten aus seiner Gemeinde und er war zum Exorzist ausgebildet worden. Doch auf der anderen Seite hatte das Überwachungsteam vor der Kirche in Winterhude ihm gesagt, dass der Pater das Pfarrhaus seit Tagen nicht verlassen hatte. Er konnte Lina also nicht entführt haben.
»Sind Sie Sam O’Connor?«
Eine schlanke Frau, vielleicht Ende vierzig, in einem schwarzen knielangen Mantel, schwarzen Seidenstrümpfen und schwarzen hochhackigen Schuhen stand plötzlich vor ihm und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.
»Frau Reimers?«
Die Frau nickte, und Sam zeigte auf einen Stuhl neben sich. »Setzen Sie sich doch, bitte.«
Frau Reimers nahm, ohne den Mantel auszuziehen, Platz. Sie hatte bereits am Telefon gesagt, dass sie nicht viel Zeit hatte, und das demonstrierte sie nun in aller Deutlichkeit. Sam hatte kein Problem, die Angelegenheit im Schnelldurchlauf zu erledigen. Er zeigte ihr das Foto in seinem Handy.
»Kennen Sie diese Frau? Ist das die Frau, mit der Sie Irene Geiger an dem besagten Abend gesehen haben?«
Yvonne Reimers nahm das Handy in ihre Hand und strich sich mit der anderen eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie betrachtete eine Weile das Foto und schüttelte dann langsam den Kopf.
»Nein, ich glaube nicht. Die Frau war jung, schlank und hatte blonde lange Haare. Viel von ihrem Gesicht habe ich nicht gesehen. Es tut mir leid.«
Sams Theorie, dass es zwischen der Frau in der Klinik und den Morden einen Zusammenhang gab, geriet ins Wanken. Er seufzte resigniert, bezahlte seinen Espresso und bedankte sich bei Frau Reimers. Aber es musste eine Verbindung zwischen der Frau und den Morden geben! Die Bibelzitate, ihr kahl geschorener Kopf, das konnte kein Zufall sein. Oder klammerte er sich nur so fest daran, weil es die einzige Spur war, die er hatte?
Sam entschied, dass er ins Büro fahren würde. Vielleicht war Juri inzwischen schon aus Bayern zurück. Seine Gedanken kreisten wieder um Lina. Sie hatte ihrem Entführer die Tür geöffnet. Bedeutete das, dass sie ihn kannte? Hatte sie ihn bei einem dieser Speed-Datings, im Restaurant ihrer Mutter oder in einer der beiden Praxen, in denen sie arbeitete, kennengelernt? Es gab tausend Möglichkeiten. Aber immer wieder drängte sich ein Gedanke dazwischen. Lina war ein Medium und sie war an dem einen Abend, als Isabella Longi umgebracht wurde auch bei der Sitzung dabei gewesen.
Als er im Polizeipräsidium ankam, gab er einem Beamten die Liste mit den Hamburger Autokennzeichen zur Überprüfung und schickte den Plastikbeutel mit dem Lappen aus Linas Mülleimer ins Labor. Er glaubte zwar nicht, dass irgendetwas dabei herauskommen würde, aber er wollte nichts unversucht lassen.
Juri war bereits da. Er saß direkt unter der nackten Glühbirne. In dem hellen Licht sahen seine blonden Haare noch blonder aus als sonst. Die Füße auf den Tisch gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt, saß er am Tisch – und schnarchte.
Sam schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Knall ließ Juri aus dem Schlaf hochschrecken. Wie ein Soldat sprang er auf und stand kerzengerade vor Sam. »O Shit, tut mir leid, ich …«
»Schon gut. Hast du denn gar nicht geschlafen?«
Juris Grinsen reichte von einem Ohrläppchen zum anderen. »Zwischendurch.«
Sam nickte nur. Heute war er noch weniger als sonst in der Stimmung für einen detaillierten Bericht über eine grandiose Sexnacht. Es erinnerte ihn nur an Lina und ihre gemeinsame Nacht.
»Es gibt Neuigkeiten aus dem Kloster«, sagte Juri und berichtete, dass Schwester Maria angerufen hätte. Wie versprochen hatte sie den Keller nach Schwester Augustinas Akte durchsucht. Bedauerlicherweise war der weltliche Name der Schwester mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht worden. Schwester Maria glaubte, dass die ehemalige Mutter Oberin in ihrem neuen Leben als Nonne ihren weltlichen Namen und ihre Vergangenheit ganz habe auslöschen wollen. Sie meinte, das sei kein Einzelfall, und erzählte, dass viele Nonnen und Mönche radikal mit ihrer Familie, ihren Freunden, ihrem Vorleben brachen und sich ganz der Ordensgemeinschaft hingaben. Jedoch hatte sie Juri den Namen des Klosters gegeben, in dem Schwester Augustina ihr Gelübde abgelegt hatte.
»Ich hab dort schon angerufen. Sie rufen zurück.«
Vielleicht hatten sie bald eine zweite Spur: den richtigen Namen der Nonne. Dann informierte er Juri ausführlich über den Stand der Dinge und hoffte, dass er ihm trotz seines Schlafmangels folgen konnte.
»Du meinst also wirklich, dass diese Frau in der Klinik etwas mit unseren Fällen zu tun hat?« Juri rieb sich die Augen und sah sich das Foto auf Sams Handy an.
»Die Narben auf dem Kopf würden doch zu unserem Psychopathen passen. Und meinst du, es ist purer Zufall, dass sie die Bibel rauf und runter kann? Ich nicht. Sie kann der Auslöser sein.«
Sam ging in dem kleinen Büro auf und ab. »Überleg doch mal … Stell dir vor, dass dieser Bruder Paul aus dem Hospiz sich einen Nachfolger herangezüchtet hat. Diesen Jungen. Er tötet als Jugendlicher Schwester Augustina. Dann passiert jahrelang nichts. Etwa zehn Jahre ist Ruhe. Und dann begeht er plötzlich den zweiten Mord. Deshalb spreche ich von einem Auslöser. Irgendetwas ist passiert. Nur was?«
Sam sah Juri abwartend an.
»Gut, nehmen wir mal an, du hast recht. Aber warum hat er gerade die Frau aus der Klinik so lange am Leben gelassen und die anderen sofort getötet?«
»Vielleicht aus persönlichen Gründen? Ich hatte überlegt, ob er vielleicht mit ihr verwandt ist. Denn es gibt da noch einen Punkt. Die Schwangerschaft. Der Arzt sagte, sie hat das Kind wohl nicht ganz ausgetragen. Könnte es sein, dass er das ungeborene Kind verschonen wollte und sie deshalb erst einmal nur eingesperrt hat? Und dann ist da noch etwas. Man hat sie in einer Seitenstraße vom Mittelweg in Pöseldorf gefunden. Was sagt dir das?«
Juri kratzte sich am Kopf, dann sagte er, offenbar stolz auf seine kluge Überlegung: »Sie hat sich befreit und ist ihrem Henker entkommen.«
»Wirklich? Danke für diesen äußerst scharfsinnigen Hinweis, Juri. Nein, etwas anderes ist entscheidend. Wo fand der erste Mord statt?«
»In diesem Innocentiapark in Pöseldorf.«
»Genau.« Sam holte einen Stadtplan aus dem Regal und kreiste die beiden Orte ein. Sie lagen nur einige Hundert Meter voneinander entfernt. »Ich denke, irgendwo dazwischen wohnt unser Mörder.«
»Was war das noch mal mit diesen Blutgerinnseln auf ihrem Rücken?«, fragte Juri nach einer kurzen Pause.
»Keine Ahnung. Der Arzt sagte, sie sah aus, als hätte sie auf einem Nadelkissen gelegen.«
»Oder sie hat auf einem Stuhl, gespickt mit Dornen gesessen«, sagte Juri langsam. » Das Ding von dem der Professor erzählt hatte. «
»Möglich. Er hat sie gefoltert, aber am Leben gelassen, sie nicht verbrannt, dafür aber in den Wahnsinn getrieben. Eine andere Art der Bestrafung. Sie war keine Fremde für ihn wie die anderen.«
»Vielleicht hat er sie geliebt, wenn so jemand überhaupt lieben kann«, meinte Juri unsicher.
Es klopfte an der Tür, und eine junge Beamtin reichte Sam die Liste mit den Autokennzeichen und den dazugehörigen Namen rein. Sie umfasste zwölf Namen.
Sam las laut vor: »Helmut Karjan, Patzold, unser Professor, Sigmar Held, Willy Koller, Anneliese Mundschenk, Elisabeth Lange, Peter Wilms, Doris Schildmann, Isolde Schmidt, Dagmar Kerner, Detlef Holz, Karl-Heinz Mann.«
»Sieben Männer, fünf Frauen. Die Namen sagen mir, bis auf den Professor, alle nichts. Sollen wir die Leute überprüfen? Die Frauen können wir ja ausschließen, oder?«, fragte Juri.
»Eigentlich schon. Überprüf bitte die Adressen der Männer, ihre Konten, ihren Familienstand und was du noch so findest. Ich fahre noch mal zu unserem Pater. Ach ja, übrigens ist Lina verschwunden.« Er versuchte, es so beiläufig wie möglich zu sagen.
»Welche Lina?« Juri sah Sam an, der jedoch konzentriert auf die Liste guckte und jeglichen Augenkontakt vermied. »Du meinst die Lina? Woher weißt du das denn? Bist du deshalb Hals über Kopf zurück nach Hamburg gedüst?«
Sam tat, als hätte er die Fragen nicht gehört. »Sie ist seit dem Wochenende spurlos verschwunden. Hat sich nicht bei ihrer Mutter gemeldet und hat ihre Wohnung offenbar ziemlich überstürzt verlassen. Ich war vorher kurz da.«
»Meinst du, sie hat etwas mit … Ich meine, Pater Dominik hat gesagt, sie sei ein Medium. Ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber … was willst du jetzt machen? Du kannst dich nicht um einen Vermisstenfall und unseren Fall gleichzeitig kümmern.«
»Es sei denn, sie gehören zusammen.«, bemerkte Sam.
Juris Worte machten Sam nur mehr als deutlich, dass seine Vermutung gar nicht so abwegig war, dass Linas Entführer und ihr gesuchter Mörder ein und dieselbe Person sein könnten.
Sam verließ das Büro. Er wollte Pater Dominik das Foto von der Frau aus der Klinik zeigen. Vielleicht erkannte der Priester ja eines seiner verlorenen Schäfchen wieder? Während er zu seinem Auto ging, ließ er sich über die Auskunft Doktor Ritters Nummer geben. Vielleicht war Lina ja heute Morgen ganz normal zur Arbeit gegangen, und es gab für alles eine Erklärung. Doch in der Praxis sprang nur ein Anrufbeantworter an, und Sam legte auf, bevor die Ansage zu Ende war.