12

 

AM GENFER SEE

Eigentlich hätte Sam direkt von Salzburg nach Hamburg fliegen müssen. Jeder Tag, jede Stunde zählte, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Aber heute war ein besonderer Tag: Der Geburtstag seines einzigen Freundes Phillippe Argault, und es war Tradition, dass sie sich an diesem Tag sahen. Normalerweise wäre er mit dem Auto gefahren, aber um Zeit zu sparen, musste er wohl oder übel abermals ins Flugzeug steigen.

Am Flughafen Lausanne mietete er sich einen Wagen, fuhr auf die E62 Richtung Montreux und folgte ab Chenaux der Beschilderung zum Genfer See. Vor zwei Jahren hatte er mit Argault eine Radtour entlang der Weinberge des Lavaux über die zweitausend Meter hohen Berge von Lausanne nach Vevey, Montreux und schließlich nach Évian-les-Bains gemacht. Eine beeindruckende Strecke, die auch an der Rhone entlang und durch viele kleine, sehr alte Orte führte. So frei und glücklich wie damals hatte er sich seitdem nicht mehr gefühlt. Er fuhr jetzt langsamer und versuchte sich an die kleine Straße zu erinnern, die direkt zu Argaults Villa führte.

Von der Hauptstraße gingen viele kleinere Straßen ab, und er war schon kurz davor, bei Argault anzurufen und die Überraschung in den Wind zu schießen, als er an einem Zaun vorbeikam, den er wiederzuerkennen meinte. Er bog in die nächste kleine Straße ein und sah nach etwa zweihundert Metern das hohe schmiedeeiserne Tor der zweigeschossigen Villa mit ihren weißen Sprossenfenstern. Argaults Frau Claudette hatte das Anwesen vor zehn Jahren samt einem beachtlichen Vermögen von ihrem Großvater geerbt. Und wie jedes Mal hatte Sam das Gefühl, eher einen Präsidenten als einen einfachen Polizisten zu besuchen.

Er drückte auf den Klingelknopf, und nach einer Weile öffnete sich das große Tor automatisch. Er fuhr die sandige Auffahrt hinauf, die von gepflegten Rasenflächen und Blumenbeeten gesäumt wurde, aus denen zurzeit jedoch nur nackte Stängel ragten. Sam vermutete, dass dies Argaults geliebte Rosensträucher waren, musste sich jedoch eingestehen, dass er gerade mal eine Osterglocke von einem Tannenbaum unterscheiden konnte. Er stellte seinen Wagen direkt neben einer dunkelblauen Mercedes-Limousine ab und stieg aus. Ein Dienstmädchen in klassischer schwarzer Uniform und weißer Schürze stand vor der massiven Eingangstür. Sie erkannte und begrüßte ihn mit einem stummen Nicken, dann führte sie ihn durch die holzgetäfelte Eingangshalle und das Wohnzimmer bis auf die Terrasse. Dort saß Argault in eine warme Wolldecke gewickelt in einem Stuhl und blickte auf den Genfer See.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Phillippe. Eigentlich habe ich an deinem Geburtstag ein bisschen mehr Action erwartet. Die Party vom letzten Jahr werde ich niemals …« Sam verstummte, als er das eingefallene Gesicht seines Freundes bemerkte.

»Ich hätte es dir noch gesagt …«, meinte Argault schuldbewusst.

»Wann?«, fragte Sam wütend. Eigentlich ärgerte er sich vor allem über sich selbst. Er hätte nur eins und eins zusammenzählen müssen. Argault liebte seinen Beruf und wäre niemals früher in Rente gegangen, wenn es nicht einen triftigen Grund dafür gegeben hätte.

»Jetzt sei nicht wütend. Komm, setz dich zu mir und genieße diesen herrlichen Blick.«

Sam reichte seinem Freund das Geschenk, das er bereits in Rom am Flughafen gekauft hatte, und zog einen Stuhl dicht an einen eine angenehme Wärme verbreitenden Gasofen heran. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, ließ er sich auf der eiskalten Sitzfläche nieder und sah zu, wie Argault das Geschenk auswickelte.

Es waren die Originalaufnahmen von Pavarottis letztem Konzert, bevor er an Krebs gestorben war. Was für ein passendes Geschenk, dachte Sam etwas beschämt.

»Das ist ja großartig, Sam. Vielen Dank. Bernadette …«, hinter ihnen war das Dienstmädchen erschienen, »… sei so lieb, mach uns ein bisschen Musik und bring uns Kaffee und ein wenig Gebäck.«

Das Dienstmädchen nahm die CD entgegen und verschwand wieder im Haus.

»Wo ist Claudette?«, fragte Sam.

»Sie ist nach Lausanne gefahren, sie muss mal wieder an einem dieser traditionsreichen Events teilnehmen. Ihre großartige Familie hat eine Uhr auf den Markt gebracht, die gegen die Zeit läuft«, sagte Argault mit nicht überhörbarem Sarkasmus in der Stimme. »Aber erzähl mir von deinem neusten Fall. Du weißt doch, wie neugierig ich bin.«

Sam wusste, dass Argault, obwohl seit etwa dreißig Jahren mit seiner Frau verheiratet , immer noch ein Dorn im Auge ihrer Familie war. Anfangs hatte er versucht, sich dem Schweizer Adel anzupassen, um davon abzulenken, was er eigentlich war: ein einfacher Polizist, der jeden Tag die Scheußlichkeiten sah, die andere Menschen anrichteten, und der nicht wie die Juweliersfamilie seiner Frau mit Diamanten und Edelsteinen sein Geld verdiente. Der Einzige, der Claudette verstanden hatte, war ihr Großvater gewesen, der seinerzeit selbst eine nicht-adelige Frau geheiratet hatte.

»Was soll ich sagen? Da ist mal wieder ein verdammter Freak am Werk.« Er sah Argault von der Seite an. Aus dem Wohnzimmer drangen jetzt die leisen Klänge von Pavarottis Gesang. »Das Ganze ist noch etwas undurchsichtig.«

Argault hatte die Decke zur Seite gelegt, war, sich etwas unsicher auf den Beinen haltend, aufgestanden und begutachtete nun seine Blumentöpfe, die auf der Balustrade standen und aus denen ebenfalls nur nackte Stängel ragten.

»Es ist wie ein Wunder, wenn die schlafenden Augen der Rosen im Frühjahr erwachen. Die Krankheit hat mir nicht nur viel Zeit zum Nachdenken geschenkt, sondern auch den Blick für Dinge geöffnet, die ich immer für selbstverständlich gehalten habe. Wie zum Beispiel die Rosen aufblühen und verwelken. Oder wie vielfältig schon eine einzige Spezies ist, die die Natur uns geschenkt hat.«

Sam sah Argault mit offenem Mund an. Irgendwie erinnerte ihn sein Freund an Helmut Geiger und dessen Kriegsschiffsammlung. Lag es tatsächlich nur an der Krankheit oder hing es auch mit dem Alter zusammen, dass er sich in seinem letzten Lebensabschnitt so intensiv mit einem Hobby auseinandersetzte? Vielleicht war es ein Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, wenn man genug Geld verdient hatte oder – wie im Fall von Argault – tief genug in die Abgründe der menschlichen Seele gesehen hatte.

»Und ein weiterer Vorteil der Krankheit: Ich stehe dir jetzt durchgehend zur Verfügung, weil ich meinen Kopf nicht mehr mit anderen Daten und Fakten belasten muss. Schieß los. Erzähl mir alles, was passiert ist.«

Sam grinste. Obwohl Argault, gezeichnet von der Krankheit, mindestens dreißig Kilo abgenommen hatte, hatte er von seiner Energie nichts eingebüßt.

»Na los, worauf wartest du?«, fragte Argault ungeduldig.

»Es ist ein äußerst brutaler Serienmörder. Er foltert. Bisher haben wir mit Sicherheit zwei, wahrscheinlich aber drei Opfer, die auf sein Konto gehen: in Italien, Österreich und Deutschland. Und ich bin sicher, wir finden noch mehr.«

»In welchem Zeitraum?«

»Zwei Jahre.«

»Komm, lass uns ein paar Schritte durch den Garten gehen, Sam.« Sam erhob sich und war froh, dass er seine kalten Beine ein wenig bewegen konnte.

Langsam spazierten sie einmal um das Haus herum. Auf der einen Seite der Fassade rankten sich kahle braune Stängel hinauf bis zum flachen Dach. Argault blieb mit einem faszinierten Ausdruck in den Augen stehen.

»Vor zwei Jahren hat der Gärtner statt der Rambler die Climber angepflanzt. Damals habe ich nur Bahnhof verstanden. Aber die Climber sind kleiner und blühen öfter. Ich habe sie erst letzten Sommer richtig wahrgenommen … Du sagst, er foltert. Dann will er etwas damit erreichen. Ein Geständnis erzwingen?«

Sam beobachtete, wie Argault seine Fingerkuppen aneinander rieb. Eine alte Angewohnheit, wenn er besonders konzentriert war.

»Oder er empfindet eine perverse Freude daran, andere zu quälen. Er hat bei einem Opfer sogar einen Defibrillator benutzt, um es zu reanimieren. Phillippe?«

Argault war inzwischen zur Garage gegangen und dort in einem Nebenraum verschwunden. Nun tauchte er wieder auf und schleppte einen Sack vor sich her. Sam befreite ihn von seiner schweren Last und sah ihn fragend an.

»Die Beete müssen wegen der Kälte mit etwas Fichtenreisig abgedeckt werden. Die Opfer?«

»Bisher Frauen zwischen Ende dreißig und sechzig. Sie verbindet nichts, zumindest nichts Offensichtliches. Kein gemeinsamer Wohnort, keine gemeinsamen Freunde, kein gemeinsamer Beruf. Das Einzige ist diese Magie, dieser esoterische Quatsch. Die eine hat Karten gelegt. Die andere hat mit Toten geredet. Bei der dritten bin ich mir noch nicht sicher.«

»Mit Toten geredet? Na, wenn wir so eine finden, können wir uns nach meinem Tod auch noch unterhalten.« Argault lachte und verteilte eifrig Fichtenreisig auf seinen Rosenbeeten.

Sam fand das gar nicht komisch. Menschen, die wussten, dass sie bald starben, entwickelten immer einen makabren Humor, fand er. »Aber Spaß beiseite, Magie? Welche Art? Schwarze Magie, Weiße Magie?«

»Sie haben so eine Art Lebenshilfe gegeben, die Zukunft vorausgesagt. Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass …«

In diesem Moment erschien Argaults Dienstmädchen, und Sam brach ab.

»Der Kaffee ist fertig. Lass den Sack hier stehen.«

Sam war froh, endlich den schweren Sack loszuwerden, und folgte Argault, ohne den Satz zu beenden, zurück auf die Terrasse. Dort war der Tisch gedeckt. Kuchen, Kekse, Kannen mit Tee und Kaffee, weiße Teller und Tassen mit Goldrand standen auf einer geblümten Tischdecke. Wäre aus Sams Mund nicht bei jedem Atemzug kondensierter Atem gekommen, hätte er beinahe sommerliche Gefühle entwickeln können.

»Frische Bohnen direkt aus Kolumbien. Schwarz, wie du ihn gerne trinkst.«

Er sah dem Dienstmädchen nach, bis sie im Haus verschwunden war. »… das Gefühl, dass was?«

Anders als Argault hatte Sam den Faden verloren und sah seinen Freund irritiert an.

»Du hast gesagt, sie haben so eine Art Lebenshilfe gegeben, die Zukunft vorausgesagt, und du hast das Gefühl, dass …«

Jetzt fiel es Sam wieder ein und er sagte ernst: »Lach jetzt nicht, aber ich glaube, dass die Kirche irgendetwas damit zu tun hat.«

Argault schmunzelte und sah auf den See hinaus, wo gerade eine Fähre über das spiegelklare Wasser glitt.

»Das ist dein Karma, mein Freund. Bis du deinen inneren Frieden mit der Kirche gemacht hast, wirst du immer wieder mit ihr zu tun haben. Denk an meine Worte, Sam. Aber wie kommst du darauf?«

»Er hat mir ein Souvenir hinterlassen. Eine Bibel in Salzburg und wahrscheinlich auch eine in Rom. Auf der Innenseite steht:

›Eigentum der katholischen Gemeinde Winterhude, Hamburg‹.« Ein Vogel hüpfte auf dem Rasen umher und pickte in der Erde, bis er sich mit einem Wurm im Schnabel in die Lüfte erhob und hinter den Bäumen verschwand.

Nur Argaults leises Schmatzen durchbrach die Stille. Sam musste innerlich lachen. Claudette hätte ihrem Mann jetzt einen strafenden Blick zugeworfen, und er hätte seinen dritten Zähnen die Schuld gegeben. Da die beiden keine Kinder hatten, würde Claudette bald allein sein. Sam fragte sich, wie sich das für sie wohl anfühlen würde, nachdem sie so lange Tisch und Bett mit ihrem Mann geteilt hatte. Er dachte besser nicht weiter darüber nach und schob sich stattdessen einen Keks in den Mund.

»Er legt also Spuren. Zu sich oder zu anderen. Er macht auf sich aufmerksam.«

»Dann hat man bei zwei Opfern Spuren von Salz, Kräutern und Wachs gefunden, die ich nicht einzuordnen weiß.«

»Du solltest mit jemandem reden, der sich mit Magie auskennt. Vielleicht benutzen sie diesen Quatsch für bestimmte Rituale, Schwarze Messen vielleicht. Ich kenne da jemanden. Ich suche dir nachher die Nummer raus.«

Sam wurde nachdenklich. Vielleicht steckte tatsächlich ein Ritual dahinter.

»Irgendeine sexuelle Motivation erkennbar?«, fragte Argault mit vollem Mund und nahm einen Schluck Tee.

»Ist nicht eindeutig. Zwei Frauen wurden auf öffentlichen Plätzen halb beziehungsweise ganz verbrannt. In ihren Schlafzimmern wurde nichts gefunden, keine Spuren, keine Spermien.

»Was ist mit der dritten?«

»Die hat er nicht verbrannt. Das ist das Merkwürdige.« Sam hatte die heiße Tasse mit beiden Händen umschlossen und starrte in den schwarzen Kaffee, als könne der ihm die Antwort geben.

»Er ist von seiner üblichen Vorgehensweise abgewichen. Dafür hat er ihr den Kopf abgetrennt, und den haben wir bisher nicht gefunden.«

Argault nickte nachdenklich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte müde auf den See. Die Fähre hatte inzwischen ihr Ziel Ouchy erreicht. Der See lag wieder ruhig da, und die einbrechende Dunkelheit verwandelte ihn langsam in einen großen schwarzen Tintenklecks mit kleinen goldenen Punkten am Rand, den Lichtern von der anderen Seite des Sees.

Gottesopfer: Thriller
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