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Sam hatte drei schreckliche Tage hinter sich, in denen er in Bars abgehangen und sich sinnlos betrunken hatte. Zwischendurch war er immer mal wieder mit dickem Kopf in seinem Hotelzimmer aufgewacht, um dann erneut loszuziehen und weiterzutrinken. So, dachte er, könne er alles leichter ertragen. Natürlich war das nicht der Fall. Er hatte sich nur selbst einen kleinen Aufschub gewährt, sich mit dem Tod seiner Schwester auseinanderzusetzen. Heute war sie in einem kleinen Kreise beerdigt worden. Doktor Willfurth hatte alles arrangiert, und Sam hatte sich nicht dagegen gewehrt. Auch nicht dagegen, dass Pater Dominik salbungsvolle Worte am Grab gesprochen hatte.
Er schlug seinen Mantelkragen hoch, um sich vor dem kalten Ostwind zu schützen und wartete. Er wartete seit einer Stunde hier draußen in der Kälte. Gäste kamen und gingen, ein sich laut streitendes schwules Pärchen stritt sich keine zwei Meter von ihm entfernt und gegenüber dröhnte laute Musik aus einer Kneipe. Ein Betrunkener übergab sich neben einem Baum. Er sah sich selbst, wie er in den letzten Tagen eine ebenso traurige Gestalt abgegeben hatte.
Die Tür ging auf und Lina trat heraus. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Zu dir oder zu mir?«, fragte Sam.
Als Lina ihr Apartment aufschloss und das Licht einschalten wollte, hielt Sam ihre Hand fest. In der Dunkelheit des Raumes konnte sie nur seine Umrisse erkennen. Er nahm ihre kalten Hände in seine und küsste sanft die Innenflächen bis zu den Handgelenken. Wie weich die Innenflächen seiner Hände waren. Sie schloss die Augen und überließ sich ganz ihm. Sam knöpfte ihren Mantel auf und ließ ihn an Ort und Stelle auf den Boden fallen. Seine Hände fuhren ihr unter den Pullover, streichelten ihren Rücken und befreite sie auch von diesem Kleidungsstück. Endlich suchten seine Lippen ihren Mund. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet! Sein Kuss war zart, ihre Zungen berührten sich behutsam. Lina löste sich von Sam und schob ihn langsam zu ihrem Bett. Sie wollte nicht, dass alles schnell zu vorbei war, dass dieser magische Moment verpuffte.
Sie streifte seinen Ledermantel ab, warf ihn über einen Stuhl und streichelte über seinen Oberkörper. Er fühlte sich gut an. Muskulös, kräftig, starke Arme. Die kleinen Knöpfe seines Hemdes flutschten durch ihre Finger und öffneten sie. Einen nach dem anderen bis ihre Finger die nackte Haut berührten. Sie löste sich von seinem Mund, küsste seinen Hals und die Schlagader, die immer hervortrat, wenn er sprach. So unglaublich sexy, dachte Lina und suchte erneut seinen Mund. Die Küsse wurden wilder und leidenschaftlicher, sein Griff fester. Wie lange war sie nicht mehr geliebt worden. Die Hose wurde ihre nun fast entrissen.
»Hmmm, du riechst so gut«, hörte sie ihn sagen. Nun hatte Sam übernommen. Lina lag auf dem Rücken und seine Lippen bewegten sich zu ihrem Nabel.
Es war eine lange Nacht. Immer wieder schliefen sie miteinander. Atemlos und schweißnass, als wäre es das letzte Mal. Irgendwann in den frühen Morgenstunden schliefen sie erschöpft und eng umschlungen ein.
Sam erwachte. Er drehte sich langsam um. Lina lag neben ihm, ihr Schädel kahl geschoren und von tiefen Wunden übersät. Ihre Augen waren weit geöffnet und starrten ins Leere. Sie ist tot, dachte er entsetzt. Er setzte sich hektisch auf. Wie konnte das passieren? Er hatte doch die ganze Zeit neben ihr gelegen! In weiter Ferne hörte er jemanden stammeln: »Nein, nein …«
Er schreckte auf – und verstand. Er hatte selbst im Schlaf gesprochen und war davon wach geworden. Linas Atem ging ruhig und gleichmäßig. Wie schön sie war. Ihr Haar, ihre Haut, ihre schlanken Arme, die über der Bettdecke ruhten. Sein Blick fiel auf den kleinen Wecker auf ihrem Nachttisch. Verdammt, es war schon halb sieben. In einer Stunde war er mit Juri verabredet. Sie fuhren heute auf dieses Burgfest in Bayern.
Vorsichtig stieg er aus dem Bett, suchte seine Klamotten, die überall verstreut lagen, zusammen und zog sich an. Auf die Rückseite eines Kassenbons, den er in seiner Manteltasche gefunden hatte, schrieb er ihr eine Nachricht. Bevor er die Tür leise zuzog, prägte er sich das Bild, das sich ihm bot, ein: Linas hübsches Gesicht, umrahmt von ihrem schwarzen langen Haar, das sich wie ein Wasserfall über das Kissen ergoss.
Als Lina wach wurde, musste sie sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Sam nicht mehr da war. Auf dem Nachttisch lag ein kleiner Zettel. Lina streckte die Hand danach aus und las: »Ich ruf dich an.«
Wie wollte er sie anrufen? Er hatte doch gar nicht nach ihrer Nummer gefragt, schoss es ihr durch den Kopf. Dann fiel ihr ein, dass ihre Nummer ja im Vernehmungsprotokoll stand. Dort hatte sie alles angeben müssen: ihren Geburtstag, ihre Adresse, ihre Telefonnummer.
Sie sah noch einmal auf den Zettel. Ich ruf dich an. Fantastisch, nun würde sie den ganzen Tag an nichts anderes denken und sehnsüchtig darauf warten, dass ihr Handy ein Lebenszeichen von sich gab.
Sie stand auf, legte die CD von Inara George ein und lauschte einen Augenblick dem Lied. »Fools in love … Is there anything more pathetic. Everything you do, everywhere you go now, everything you touch, everything you feel … you do it for your baby love.«
Sie war total verliebt.
Lina ging summend unter die Dusche, legte das Handy vorher noch in Reichweite und stellte den Klingelton auf die höchste Lautstärke. Als sie die Haare gerade voller Schaum hatte, hörte sie die Türklingel. Ihr Herz setzte fast aus vor Freude. Er war noch einmal zurückgekommen! Nass wie sie war, sprang sie aus der Dusche, wickelte sich in ein Handtuch und öffnete die Tür.