Teil VI
WOHIN DIE FÜße TRAGEN
26 ITOSUS HÜTTE
Nahe Qin, erster Mondmonat 1076
Wie aus weiter Ferne nahm ich von irgendwo gedämpft Geräusche wahr, die mein Geist nicht zuordnen konnte. Ich erwachte aus einer tiefen Müdigkeit und war zu erschöpft, mich zu bewegen. Als ich genug Kraft gesammelt hatte, öffnete ich die Augen, die jedoch sofort wieder zufielen.
Wo war ich? War ich denn nicht gestorben? Das wäre kaum zu glauben, denn das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren Kälte, Schnee und das sichere Wissen, zu sterben.
Doch die Schmerzen, die durch meinen Körper fuhren, machten mir deutlich, dass ich alles andere als tot war. Ein Augenlid ließ sich heben und ich erkannte über mir eine Holzdecke. Offensichtlich lag ich auf dem Rücken. Mein Körper war ein einziger Schmerz und ich stöhnte leise auf. Das Auge fiel wieder zu und das Blut, das durch die Augenlider floss, tauchte meine Umgebung in ein dunkles Orange. Für einen weiteren Versuch, die Augen zu öffnen, fühlte ich mich zu schwach und so behielt ich sie geschlossen.
Was war geschehen, dass ich hier – irgendwo – lag?
Die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit lagen wie im Nebel vor mir…
Gedanken und Bilder schossen bruchstückhaft auf mich ein und schlagartig war ich wach: Ich hatte ein Kind geboren!
„Shao“, wimmerte ich und konnte vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen. Jemand streichelte meine Wange und wischte sie trocken. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen und sah verschwommen einen Menschen vor mir knien.
Im Raum war es halbdunkel. Doch hinter der knieenden Person befand sich eine geöffnete Tür und das Tageslicht blendete mich so, dass ich nur die Silhouette des Körpers sah.
„Wo ist mein Sohn?“, presste ich hervor.
„Ihr seid aufgewacht. Das ist gut. Ich war mir nicht sicher, ob Ihr es schafft.“ Eine Männerstimme sprach zu mir.
„Mein Sohn. Wo ist er?“ Durch die wenigen Worte war ich wieder am Ende meiner Kräfte angelangt.
„Es geht ihm sicher gut.“ Die menschliche Stimme klang freundlich und ich fiel wieder in einen tiefen Schlaf.
Als ich das nächste Mal erwachte, konnte ich meine Augen sofort öffnen und blickte wieder auf die Holzdecke. Es war noch immer dämmrig im Raum, aber nicht düster. Durch die Ritzen der Außenwände drang etwas Licht herein und ich sah den Staub in kleinen Wirbeln durch den Raum fliegen.
Als ich den Kopf nach rechts drehte, sah ich die Tür, die nun mit einer Decke verhängt war. Neben dem Eingang standen ein paar Fässer, am Boden lagen Tücher oder Decken. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Regal, in dem Schalen verstaut waren und – soweit ich es erkennen konnte – Krüge.
Mein Blick fiel wieder auf die Holzdecke über mir. Büschelweise hingen dort Kräuter oder etwas Ähnliches. Erst jetzt bemerkte ich den aromatischen Duft, der im Raum hing und atmete ihn tief ein. Dann versuchte ich, meinen Körper zu bewegen. Vorsichtig zog ich die Schultern hoch. Anschließend streckte ich meinen Hals und bemerkte das leise Knacken der Wirbel. Als nächstes streckte ich meine Arme und genoss das Gefühl, die Muskeln zu dehnen.
Wie lange ich wohl schon hier lag? Es fühlte sich an, als wäre ich wochenlang ohne Bewegung gewesen. Die Hüfte war ebenfalls beweglich, wie ich feststellte. Ich zog die Knie an, um meine Beine anzuwinkeln – und stutzte. Da war: Nichts. Es fühlte sich jedenfalls so an, als hätte ich keine Füße. Da, wo sie hätten sein sollen, berührte etwas den Boden, aber es war ein vom Körper losgelöstes Gefühl, das mein Verstand nicht einordnen konnte.
Ich versuchte, mich aufzusetzen, war dazu aber zu schwach. Angst überkam mich.
„Hallo?“, rief ich in den Raum. „Ist jemand da?“
Schritte waren auf dem Boden zu spüren. Jemand lief außerhalb des Zimmers und näherte sich. Ich spürte, wie die Bretter unter mir leicht nachgaben.
„Ihr seid wieder wach“, sagte die männliche Stimme, die ich schon das letzte Mal vernommen hatte. Der Mann kniete sich neben mich und diesmal war ich nicht geblendet. Ich blickte in das Gesicht eines alten Mannes, der mich freundlich ansah. „Mein Name ist Gishin Itosu.“ Er verneigte sich. „Ihr seid hier in Sicherheit.“
Erneut sah ich mich um und hob den Kopf. „Shao. Wo ist mein Sohn?“
Itosu sah mich an. „Ihr wart alleine, als ich Euch fand. Einen Jungen habe ich nicht gesehen.“
„Er ist noch ein Säugling.“ Verzweifelt ließ ich den Kopf zurückfallen. „Sie haben ihn mir weggenommen.“ Die Tränen brachen wieder aus mir heraus und hinterließen schmale Silberstreifen in meinem Gesicht. Meine Schultern bebten unter dem stummen Schrei und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Mir war, als schnürte mir der Hals zu, und dieser Schmerz zog sich brennend bis in die Brust.
Itosu legte seine Hand auf meinen pochenden Kehlkopf und sofort wurde ich von einer wohligen Wärme erfasst. Die Trauer um meinen Sohn ebbte ab und ich fiel in eine angenehme Schwere.
Kurz bevor ich einschlief, hörte ich ihn murmeln: „Ich glaube, Ihr müsst Euch noch ein wenig ausruhen. Eure Geschichte könnt Ihr mir später erzählen, wenn Ihr kräftiger seid.“
Jemand bewegte meine Beine und ich öffnete die Augen. Itosu kniete am Ende meines Körpers und wickelte gerade meinen linken Fuß in Tücher ein. Ich sah an mir herunter und erschrak ein wenig. Mit eigenen Augen sah ich, wie er meine Füße berührte – doch wieder spürte ich: Nichts. Nur wenn Itosu mit den Tüchern meine Knöchel streifte, kitzelte es ein wenig.
Schließlich war der alte Mann mit dem Einbinden fertig und griff neben sich. Schweigend sah ich zu, wie er mit der einen Hand einem blankpolierten Holzkästchen etwas Langes, Spitzes entnahm und mit der anderen nach meinem Knöchel griff. Ich erkannte eine Nadel und sah – mehr erstaunt denn überrascht – zu, wie er sie zielsicher drei Finger breit oberhalb des Fußknöchels setzte. Schon wollte ich protestieren, als mir eine wohlige Wärme auffiel, sowie das Gefühl, tatsächlich Füße zu haben. Denn bis jetzt war es, als ob unterhalb des Knöchels nichts existierte.
Ich hatte mich auf meine Ellenbogen gestützt und sah zu, wie Itosu auch am zweiten Knöchel eine Nadel in der Innenseite setzte. Schließlich zog er noch zwei weitere Nadeln aus dem Kästchen und tastete meine Knie an den Außenseiten ab. Auch hier versenkte er jeweils eine Nadel zielsicher und freute sich, als ich vor Entspannung seufzte und mich auf den Rücken fallen ließ.
„Das ist das Meer der Energie“, sagte er.
„Meer der Energie?“, fragte ich interessiert.
Itosu nickte. „Dieser Punkt fördert die Durchblutung in Euren Beinen.“
Meine Beine! Das war es, was mich zum Thema zurückbrachte. „Was ist mit meinen Füßen? Wieso sind sie eingebunden? Und wieso fühlen sie sich so – unwirklich an?“
„Ihr habt Euch die Füße verletzt und ich habe sie, so gut es ging, versorgt.“
Mit dieser Aussage war ich zunächst zufrieden. Im Moment wollte ich die volle Wahrheit ohnehin nicht wissen. Ich lugte auf die Nadeln in meinem Knie und weiter unten an meinem Knöcheln. „Wozu sind sie?“, fragte ich neugierig.
„Sie sollen Euren Körper unterstützen, die Energie dorthin zu transportieren, wo sie Eure Füße benötigen.“ Itosu sah sich meine Beine näher an und zog die Nadeln schließlich wieder heraus. „Das dürfte reichen für heute“, sagte er. Er verließ den Raum und ich hörte draußen das Blubbern von kochendem Wasser.
„Ich möchte gerne aufstehen“, rief ich dem alten Mann hinterher.
„Dazu ist es noch zu früh“, tönte es zu mir herüber. „An Eurer Stelle würde ich mich noch ein wenig ausruhen, bevor Ihr daran denkt, Eure Füße wieder zu gebrauchen.“
Unschlüssig starrte ich an die Decke. Schließlich brach ich das entstandene Schweigen. „Ihr habt mir noch nicht gesagt, wo ich hier bin.“
„In der Hütte von Itosu Gishin.“
„Das weiß ich. Aber wo ist das?“
„Das kommt darauf an, von welchem Standpunkt Ihr das betrachtet. Mein nächster Nachbar würde sagen, es ist weit entfernt, aber der Vogel auf dem Baum nebenan ist wohl anderer Meinung.“
Der alte Mann tat geheimnisvoll; aber ich war noch zu müde, um mich auf ein Ratespiel einzulassen. Er wirkte nicht gefährlich und so legte ich mich wieder zurück und beobachtete, wie er schließlich im Zimmer auf und ab ging, während er Ordnung schaffte.
Er hatte die alten Tücher zusammengerafft und hinausgetragen. Draußen blubberte noch immer das Wasser vor sich hin und ich nahm an, dass er die besudelten Verbände auskochte.
Wieder fiel mein Blick auf meine dick eingewickelten Füße. Vorsichtig bewegte ich die Zehen, aber nach wie vor war da dieses unbeschreibliche, unwirkliche Gefühl der Taubheit. Die Füße juckten und ich rieb sie aneinander.
„Lasst das bitte bleiben“, rief Itosu von außen herein.
„Ich mache doch gar nichts“, antwortete ich.
„Ihr reibt Eure Füße aneinander. Das reizt Eure Wunden nur noch mehr.“
„Woher wisst Ihr das?“, fragte ich verwundert.
„Dass es Eure Wunden reizt? Na, das dürfte eine logische Folge auf die Reibung sein.“
„Nein“, lachte ich, „woher wisst Ihr, dass ich meine Füße aneinander reibe.“
„Das kann ich hören“, antwortete Itosu schlicht. „Hört bitte auf damit, sonst verrutscht am Ende alles.“
Konzentriert versuchte ich, meine Beine still zu halten.
Nach einer Weile kam der alte Mann wieder herein. In der Hand hielt er eine dampfende Schale. „Habt Ihr Hunger?“, fragte er.
Vorsichtig richtete ich mich auf und nickte.
Itosu kniete sich. Mit der einen Hand stützte er mich und mit der anderen führte er die Schale an meine Lippen. Die Suppe schmeckte sehr würzig.
„Das wird Euch stärken. Ihr müsst langsam Euren Kreislauf wieder in Schwung bringen.“
Vorsichtig trank ich in kleinen Schlucken von der Flüssigkeit. Ich war nun schon einige Minuten gesessen und konnte die Schale alleine halten.
„Kann ich etwas Fleisch haben?“, fragte ich, doch Itosu schüttelte den Kopf.
„Fangt langsam an, Mädchen. Ihr habt tagelang nichts gegessen.“
„Tagelang?“, fragte ich erstaunt. „Wie lange bin ich denn schon hier?“
Itosu sah zur Tür hinaus und schien nachzurechnen.
„Wir haben Halbmond. Der Mond war voll, da wart Ihr bereits einige Tage hier.“
Bestürzt schwieg ich. Suchte man nach mir? Würde man mich hier finden?
Als schien Itosu meine Gedanken zu erraten, sagte er: „Es ist auch keiner gekommen, um nach Euch zu fragen. Es scheint, als ob man Euch nicht vermisst.“
Seine Feststellung hatte nichts Verletzendes und war frei von Neugierde. Ich konnte seine ehrliche Anteilnahme spüren und wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.
„Was ist mit meinen Füßen?“, fragte ich erneut. „Sind sie schwer verletzt?“
Itosu überlegte eine kurze Weile und schien mehrere Antworten abzuwägen. Dann aber entschied er sich offenbar für die Wahrheit, denn es war schrecklich, was er mir erzählte.
„Sie sind Euch auf Eurer Reise da draußen in der Kälte erfroren“, sagte er und beobachtete mich. „Ich habe Euch im Schnee gefunden – halbtot. Aber Eure Seele wollte anscheinend noch nicht aufgeben und so gelang es mir, Euch in meinem Haus soweit zu pflegen, dass Ihr wieder aufgewacht seid.“ Itosu schien sich alles noch einmal vor Augen zu führen und blickte in die Ferne. „Niemand war bei Euch und es war so viel Neuschnee gefallen, dass ich auch keine Spuren fand. Es war ein Wunder, dass ich Euch überhaupt entdeckt habe unter den Schneemassen.“
In mir kamen Bilder und Gefühle hoch: Meine Wut, als ich Cheng-Si trat und davon ritt; der zunehmende Sturm; der viele Schnee; die Kälte; meine Frustration und Panik; der Sturz zu Boden; der warme Atem meines Pferdes, als es an mein Gesicht stupste und mich aufzufordern schien, mich zu erheben; und zu guter Letzt: Dunkelheit.
Doch jetzt erinnerte ich mich an noch etwas anderes…
Es war dunkel; ein fürchterliches Gefühl umgab mich, als fiele ich ins Ungewisse. Schwerelos trieb ich umher und es war, als gäbe es keine Zeit. Schließlich aber tauchte weit entfernt ein Licht auf; wurde immer größer. Es pulsierte in roten und gelben Farbtönen und wirkte warm und kühl zugleich. Ich lenkte meine gesamte Konzentration auf dieses Licht und verspürte den Drang, darauf zu zugehen. Mit einem Mal war alles um mich herum erhellt. Doch das Gefühl des Fallens nahm nicht ab, verstärkte sich durch die Helligkeit nur noch mehr, und ich geriet in Panik. Von weitem hörte ich jemanden rufen: „Entscheide dich.“
Ich wusste nicht, worauf ich mich konzentrieren sollte und ließ schließlich erschöpft locker. Eine Lichtwelle schwemmte mich mit sich und das rasante Tempo nahm wieder ab. Es war, als gleite ich durch Raum und Zeit und das Licht umhüllte mich schließlich in warmes Rot. Das grelle Gelb war vollkommen verschwunden, und ich fühlte mich wohl. Innere Ruhe erfasste meinen Verstand und es wurde wieder dunkel um mich...
„Es war kein schöner Anblick, als ich Euch gefunden hatte. Ich dachte erst, Ihr wäret tot…“ Itosus Worte holten mich wieder zurück aus meiner Erinnerung und ich sah, dass er sehr ernst geworden war. Fast hatte ich das Gefühl, er spräche nur zu sich, während er sich offenbar an den Tag erinnerte, als er mich gefunden hatte.
***
Itosu erinnerte sich an den Tag, als wäre es gestern gewesen. Er war auf der Suche nach Brennholz gewesen, als er – wider seine Gewohnheit – den Weg über den Hügel abkürzte. Normalerweise blieb er auf dem Trampelpfad durch den Wald, aber an diesem Tag hatte er das unbestimmte Gefühl, einen anderen Weg einschlagen zu müssen. Er war den Hang hinaufgeklettert, kämpfte sich durch den Neuschnee und hätte geflucht, wenn er nicht in seinem langen Leben die Erfahrung gemacht hätte, sich immer auf sein Gefühl verlassen zu können. „Itosu“, hatte er zu sich gesagt, „das Leben wird dir schon eine Überraschung bereithalten.“ Und so war es auch gekommen.
Als er den Hügel erklommen hatte und aus dem Wald herausgetreten war, sah er eine Hand am Boden liegen. Erschrocken kniete er sich hinunter und schob die weißen Massen, die die Hand umgaben, beiseite. Nach und nach kamen ein Arm, dann ein Kopf, Schultern und schließlich ein Frauenkörper zum Vorschein. Itosu legte seine Hand auf den Hals der Frau und spürte einen kläglichen Rest an Lebensenergie. Er ließ das Brennholz zurück und trug stattdessen den leblos scheinenden Körper in seine Hütte, wickelte die Frau in Felle und kümmerte sich um ihre Füße, die bereits dunkel leuchteten.
Itosu hatte von seiner Großmutter gelernt, die Lebensenergie eines jeden Lebewesens positiv zu beeinflussen und er hatte schon vielen kranken Tieren geholfen, wieder gesund zu werden. Diese Frau war nach langem der erste Mensch, den er behandelte, denn er führte hier in seiner Hütte ein sehr zurückgezogenes Leben.
Er setzte all sein Wissen ein. Auch verwendete er die Akupunkturnadeln, die er von seiner Großmutter bekommen hatte, braute Tee, machte Wickel und gab ihr Energieschübe, so oft er konnte. Die Energie der Kranken aber ließ mehr und mehr nach und Itosu spürte, wie der letzte Rest an Wärme aus den Beinen aufwärts zum Kopf wanderte.
Doch Itosu gab nicht auf. Er war sich zu sicher, dass in ihrem Körper noch ein Rest von Lebensenergie steckte. Er setzte eine Nadel direkt auf Ihre Schädelplatte. Es war eine spezielle Stelle, die er einst von seiner Großmutter gezeigt bekam. Der Impuls der Nadel würde dazu führen, dass der Körper den Energiefluss wieder in alle Gliedmaßen freigeben würde, wenn der Patient dies auch in seinem tiefsten Inneren zuließe. Itosu hoffte, dass die junge Frau noch genug Lebenswillen in sich trug und rief sie an: „Entscheide dich!“
„…und Ihr habt Euch entschieden“, sagte er zu seiner jungen Patientin, die ihm gebannt zuhörte. „Ich war so froh für Euch, als die Energie sich wieder in Eurem Körper verteilte.“ Itosu kehrte kurz aus den Bildern seiner Erzählung zurück und sah sie an. „Lediglich Eure Füße schienen rettungslos verloren.“ Er fuhr mit seiner Erzählung fort. „Ich begann, Fußwickel zu machen…“
Itosus Großmutter hatte ihn auch in ihr Wissen über Heilkräuter eingeweiht, und er wählte unter anderem Beifuß, den er – zusammen mit anderen Kräutern – zu einem Brei zerstieß und auf die Füße der Frau strich. Des Nachts, wenn er schlief, wirkte der Sud ein, und am Tag legte er in regelmäßigen Abständen seine Hand auf und setzte die Nadeln an Schädel, Knie und Knöchel. Bei der jungen Frau ließ eine Verbesserung nicht lange auf sich warten. In den Wochen, in denen sie im Delirium lag, hellten sich die Füße von einem dunklen Lila zu einem kräftigen Rot auf. Die Hitze verschwand, doch die Füße schienen gefühllos zu bleiben. Itosu wusste nicht, ob sie die Füße je wieder würde benutzen können, doch er hatte gelernt, für alles offen zu sein. Wenn die junge Frau gehen wollte, würde sie einen Weg finden, das zu tun.
Doch im Moment war daran noch nicht zu denken. Er war froh gewesen, als sie endlich erwachte, und nun saß sie vor ihm und schlürfte ihre Suppe.
***
„In ein paar Tagen werden wir beginnen, Euch feste Nahrung zu geben und schon bald werdet Ihr wieder normal essen können.“ Itosu lächelte mich an.
„Ich danke Euch für alles, was Ihr für mich getan habt. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen kann.“
„Nun, ich wäre schon glücklich, wenn ich wüsste, wen ich hier pflege.“
Misstrauisch überlegte ich, ob ich ihm sagen konnte, wer ich war.
Itosu merkte, dass ich mich in einem Zwiespalt befand. Er kam mir entgegen und sagte: „Wenn Ihr Euch nicht an Euren Namen erinnern könnt, dann nennen wir Euch fürs erste ‚Shao-Ma‘ – Mutter des Shao. Einverstanden?“
Für diesen Vorschlag war ich sehr dankbar. Es schmerzte mich, an Shao erinnert zu werden, aber mir blieb der Trost, seine Mutter zu sein, wo auch immer er sich aufhielt.
„Einverstanden“, sagte ich und leerte meine Schale.
Am nächsten Tag wurde wieder der Verband gewechselt. Ich beobachtete den alten Mann, wie er das alte Tuch des rechten Fußes abwickelte und in eine Schale zu seiner Rechten warf. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte ich nicht gemerkt, dass jemand meine Füße berührte. Noch immer spürte ich lediglich Berührungen oberhalb des Knöchels.
Itosu rieb seine Handflächen schnell aneinander, nahm anschließend trockene Lappen, die zu seiner Linken lagen, tauchte sie in die daneben stehende Schale mit einem grünen Brei und legte sie auf meine Füße.
Verängstigt wandte ich den Blick ab. Im Blickwinkel sah ich, wie er vorsichtig Tücher um den Fuß wickelte.
Dann wechselte er auch am linken Fuß den Verband, und als er damit fertig war, sah er mich aufmerksam an. „Es wird noch einige Zeit dauern, bis das geheilt ist“, sagte er, „doch wenn Ihr es wollt, werdet Ihr wieder laufen können.“ Er lächelte. „Wenn Ihr es wollt“, wiederholte er geheimnisvoll.
Schon bald war es mir zu langweilig, alleine im Raum auf meiner Schlafstelle zu liegen. Nebenan hörte ich Itosu arbeiten. Er hatte mir erzählt, dass er Stoffe webte und das kontinuierliche Klopfen, das beim Zusammendrücken der Fadenreihen entstand, ließ vermuten, dass er große Routine darin hatte. Ich war es nicht gewohnt, ruhig zu liegen und war schließlich so neugierig und voller Bewegungsdrang, dass ich mich aufsetzte. Mein Blick fiel auf meine Füße, besser gesagt, auf das, was einmal meine Füße gewesen waren. Dick eingewickelt sahen sie aus wie Klumpen und kamen mir fremd vor.
„Meister Gishin“, – ich hatte mir angewöhnt, Itosu so anzusprechen – „könnt Ihr bitte kommen?“
Klappern im Nebenraum machte deutlich, dass Itosu sich aus dem Webrahmen herausschälte. „Braucht Ihr Hilfe?“ Er hatte sich neben mich gekniet.
„Ich würde mich gerne ein wenig zu Euch setzen.“
„Oh, es geht Euch schon so gut? Das freut mich.“ Er griff unter mich und hob mich hoch. Kaum zu glauben, dass so ein alter Mann mich tragen konnte, aber Itosu hielt mich mit einer verblüffenden Leichtigkeit in den Armen und ließ mich im anderen Zimmer wieder auf einer Decke ab. Dann stellte er einen Krug mit Wasser neben mich und widmete sich wieder dem Webrahmen.
Aufmerksam beobachtete ich ihn bei der Arbeit. Das eine Ende der Webschnüre war an einer Holzleiste befestigt, die an der Wand verankert war. Das andere Ende, an dem der fertige Stoff hing, war in eine Art Holzzange eingeklemmt, so dass er vor sich nur die letzten fünfzig Reihen hatte. Die Holzzange hatte an beiden Seiten eine Art Gürtel, den Itosu um seine Hüfte gelegt hatte; er steckte sozusagen im Webrahmen und hatte über seinen Knien den fertigen Stoff liegen. Die Dichte des Stoffes erzielte er unter anderem durch die Spannung der Fäden und diese konnte er kontrollieren, in dem er sich mehr oder weniger stark in den Gurt stemmte.
Die Spannfäden verliefen über einen Kamm, der sie so trennte, dass das Schiffchen mit dem Zierfaden wie ein Pfeil durchschoss. Mit Interesse sah ich, wie der Faden hin und her glitt und der Stoff auf diese Weise Reihe für Reihe wuchs.
„Für wen fertigt Ihr die Stoffe?“
Itosu sah auf und schob das Schiffchen sozusagen blind weiter. „Ich verkaufe sie auf dem nächsten Markt, eine Tagesreise entfernt.“ Er wies auf ein paar Ballen, die in einer Ecke des Raumes sauber aufeinander gestapelt lagen. „Die werde ich bald liefern.“ Er sah mich wieder an und fügte hinzu: „Wenn es Euch besser geht, dass ich Euch ein paar Tage alleine lassen kann.“
Schuldbewusst hatte ich das Gefühl, der alte Mann hätte schon längst aufbrechen müssen. „Wie lange würde es dauern, bis Ihr wieder zurück wärt?“
Itosu rechnete nach. „Einen Tag, bis ich dort bin; einen halben Tag, um die Stoffe auszuliefern und neue Aufträge anzunehmen. Ich könnte noch am selben Tag den Rückweg antreten und wäre am dritten Tag zurück. Aber Ihr seid noch nicht so weit, dass ich Euch alleine lassen kann. Und es ist noch nicht so dringend, als dass ich sofort gehen müsste.“
Darüber war ich erleichtert. Solange ich mich noch nicht alleine fortbewegen konnte – in irgendeiner Art – wollte ich nicht alleine zurückbleiben.
Ein paar Tage später hatte Itosu sich, während ich schlief, aufgemacht, Brennholz zu sammeln. Frisch erwacht verspürte ich den dringenden Wunsch meiner Blase, sich zu entleeren. Wie sollte ich das anstellen?
Normalerweise half mir Itosu, obwohl es mir anfangs sehr peinlich gewesen war, die Hilfe des Mannes in Anspruch nehmen zu müssen; doch schon bald empfand ich ihn als so vertraut, dass seine Anwesenheit keine Rolle mehr spielte.
Jetzt aber – wenn ich nicht bald eine Lösung fand – würde um mich herum eine Pfütze entstehen. Diese Vorstellung war mir doch sehr unangenehm.
Ich setzte mich auf und versuchte mich zu knien. Das klappte ganz gut, auch wenn es im Schienbein ziemlich zog. Kniend robbte ich voran, verspürte aber einen zunehmenden Schmerz in der Wade, der schließlich so schlimm war, dass ich mich auf den Bauch legen musste.
Da lag ich nun und suchte einen akzeptablen Weg, mich zu erleichtern. Knien war nicht möglich aufgrund der Schmerzen in den Beinen. Also zog ich mich mit beiden Armen vorwärts und robbte zur Tür. Der Blasendrang wurde immer schlimmer und ich musste erkennen, dass ich es niemals rechtzeitig bis nach draußen schaffen würde.
Mein Blick fiel auf die Schalen im Regal und ich änderte meine Robb-Richtung. Mit letzter Kraft hangelte ich nach einer der Schalen, warf dabei das Regal um und musste mit ansehen, wie alles zu Bruch ging. Erschöpft und frustriert ließ ich meine Stirn auf den Boden knallen und benässte den Fußboden nicht nur mit meinen Tränen.
So liegend fand Itosu mich kurz darauf, als er aus dem Wald zurückkehrte. Ich weinte mittlerweile bitterlich und als der alte Mann mich hochheben wollte, schlug ich nach ihm. „Lasst mich! Ich bin schmutzig!“
„Das macht mir nichts. Kommt, wir müssen Euch umziehen. Ihr erkältet Euch sonst.“
„Das ist mir egal! Dann sterbe ich vielleicht endlich! In diesem Zustand will ich nicht weiterleben!“
„Ihr redet sehr dumme Sachen. Ich kann verstehen, wenn Ihr Euch ärgert. Aber das ist kein Grund, sich aufzugeben.“ Resolut hob er mich aus dem Chaos.
„Ich habe alles kaputt gemacht“, flüsterte ich unter Tränen.
„Das kann man doch alles ersetzen. Aber ein Leben nicht und ich bitte Euch, habt wieder Mut.“
Itosu holte neue Kleider und wenig später lag ich trocken und wohlig unter meiner Decke.
Vor Erschöpfung schlief ich ein.