22 Die Hoffnung stirbt zuletzt
Qin, Sommer 1075
Die Übelkeit hatte nicht aufhören wollen und ich verspürte gleichzeitig einen größeren Hunger als gewöhnlich. Erst hatte ich es auf die viele frische Luft zurückgeführt, die ich nach dem Winter auf dem Rücken der Pferde bekam. Doch das Reiten musste ich bald aufgeben, weil mir regelmäßig schlecht wurde. Die permanente Übelkeit ließ zwar nach einiger Zeit nach, aber sie kehrte immer wieder in Form von heftigen Brechanfällen zurück, wenn ich nicht rechtzeitig etwas zu Essen fand.
„Kind, was ist mit dir? Ich habe gehört, du reitest nicht mehr aus?“ Cheng-Si war offenbar auf meine Übelkeit aufmerksam geworden und hatte mich in meiner Wohnung besucht.
„Ja, Mutter. Mir ist in letzter Zeit sehr oft schlecht.“
Cheng-Si hob ihre Augenbrauen und blickte mich prüfend an. Ich bot wahrscheinlich noch den gleichen Anblick, der sich mir heute Morgen in der polierten Silberplatte gezeigt hatte: Blass mit roten Augenrändern und mein Gesicht dünn wie das einer Ziege. Das ständige Übergeben war anstrengend und ich hatte einiges an Gewicht verloren.
Cheng-Si aber starrte nicht in mein Gesicht.
Ich folgte ihrem Blick. Sie sah auf meine Brust, die in letzter Zeit auf wundersame Weise zu wachsen schien.
„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte die Alte und nahm meine Hand in die ihre. „Wann hattest du das letzte Mal deine Blutungen?“, wollte sie wissen.
Erstaunt sah ich sie an, dachte aber nach und bekam immer größere Augen. „Drei Vollmonde sind vergangen“, flüsterte ich entsetzt und hatte plötzlich das Bedürfnis, meinen Bauch zu halten. „Mutter, was bedeutet das?“
Cheng-Si seufzte. „Kind, das weißt du doch selbst am besten! Du bist schwanger!“ Sie stand auf und lief nervös im Raum auf und ab. „Drei Vollmonde. Das ist zu spät, um dich zum Kaiser zu führen. Es würde auffallen!“
„Was würde auffallen?“ In meinem Kopf rasten die Gedanken. Ich würde ein Kind bekommen. Von Bao!
„Eine Sechsmonats-Geburt fällt immer auf! Verstehst du das nicht?“ Cheng-Si musste sich offenbar zügeln, nicht zu schreien.
Daran hatte ich nicht gedacht und wurde blass. Wie konnte ich dem Kaiser glaubhaft machen, es wäre sein Kind, wenn ich seit Monaten nicht mehr das Bett mit ihm geteilt hatte? „Was soll ich jetzt tun?“, flüsterte ich und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.
Cheng-Si dachte nach. „Wir können es nicht mehr wegmachen. Das Kind ist schon zu alt und die Wahrscheinlichkeit, dass du ebenfalls stirbst, ist sehr groß.“ Sie überlegte weiter. „Vielleicht können wir dich verstecken, bis das Kind da ist.“
„Und wenn es dann da ist?“ Mit einem Mal hatte ich einen fahlen Geschmack im Mund.
„Dann geben wir es einer anderen Frau!“
„Wie könnt Ihr es wagen?“, presste ich zunächst leise hervor, wurde dann aber immer lauter. „Nie würde ich es erlauben!“, schrie ich hysterisch.
Cheng-Si rannte auf mich zu und rüttelte mich. „Still“, befahl sie, doch ich konnte und wollte mich nicht beruhigen. Da gab sie mir eine Ohrfeige. „Halt den Mund! Die Leute werden noch aufmerksam auf uns!“
Abrupt verfiel ich in Schweigen. Noch nie war ich von Cheng-Si geschlagen worden. Geschockt setzte ich mich hin und starrte sie an.
„Was glaubst du, ist deine Alternative, wenn das hier herauskommt?“ Cheng-Si machte eine kleine Pause bevor sie fortfuhr. „Sie werden dich töten! Und das Kind ebenfalls! Ist dir das nicht klar?“
Still weinte ich vor mich hin. Natürlich wusste ich das – irgendwo in meinem Kopf; aber ich wollte es nicht wahrhaben. Trauer überkam mich. Niemals würde ich Bao sein Kind zeigen können und ein Leben mit diesem kleinen Menschen war mir auch verwehrt. „Was soll ich also tun?“, fragte ich in meine Hände, die ich schützend vor mein Gesicht hielt.
„Täusche eine Krankheit vor und bleibe hier. Niemand – NIEMAND – darf wissen, dass du ein Kind erwartest. Sie alle wissen, dass der Kaiser nicht der Vater sein kann!“
Als Cheng-Si mich schließlich verließ, hatten wir einen detaillierten Plan ausgearbeitet. Für die erste Zeit konnte man den Bauch noch unter den Gewändern verstecken, wenn man es nicht darauf anlegte, die Schwangerschaft zur Schau zu stellen, wie Shinlan es immer getan hatte. Diese war stets stolz gewesen, ein ums andere Mal kugelrund zu werden. Es brach mir beinahe das Herz, dass ich mein Glück nicht ebenfalls kundtun durfte.
Ausgerechnet Shinlan war es, die wenige Wochen später eine Neuigkeit bekannt gab. „Im Frühling wird der Kaiser erneut Vater werden!“
Eine Hitzewelle überkam mich und mein Puls raste. War ich etwa entdeckt worden? Woher konnte Shinlan das wissen?
Mit großer Willenskraft widerstand ich dem Wunsch, meinen Bauch zu schützen. Ängstlich suchte ich Augenkontakt zu Cheng-Si, die aber beinahe unmerklich den Kopf schüttelte. „Mach dir keine Gedanken und höre zu!“, schienen ihre Augen zu antworten.
Shinlan fuhr auch schon fort. Sie zeigte ein fröhliches Lächeln und reckte ihren Bauch nach vorne. „Da drin“, deutete sie auf die unsichtbare Wölbung, „wächst ein neues Kaiserlein.“
Alle lachten herzlich – und ich vor tiefer Erleichterung. Ich musste mich setzen, sonst wäre ich mit Sicherheit zusammengebrochen. Was für ein Glück! Jetzt würden sich alle um Shinlan kümmern und niemandem würden die Veränderungen an mir auffallen.
Wie ich mich täuschte! Shinlan war zu oft schwanger gewesen, als dass sie eine andere werdende Mutter nicht erkennen würde. Wie Cheng-Si kannte auch sie die Zeichen einer Schwangerschaft, hatte sie diese doch mehrmals an sich selbst erfahren.
„Wie lange willst du es noch verheimlichen?“, fragte sie mich, als wir unter uns waren.
Ich arbeitete gerade an einer Stickerei und stach mir vor Schreck beinahe in den Finger.
„Was meinst du?“, versuchte ich mich unbeteiligt zu geben.
„Du weißt sehr wohl, was ich meine. Ich kann es sehen. Du hast dich verändert und ich kenne diese Veränderungen. Mir kannst du nichts vormachen.“
Noch immer versuchte ich, meine Tarnung aufrecht zu erhalten und blickte wie beiläufig von meiner Handarbeit auf. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst!“
Shinlan deutete auf meine Unterarme. „Hier, man sieht verstärkt deine Adern. Ich weiß nicht warum, aber wenn ein Kind im Bauch wächst, dann scheint mehr Blut zu fließen. Überall am Körper sieht man plötzlich dunkle Venen. Vor allem am Busen.“
Unbewusst verschränkte ich meine Arme vor der Brust.
„Und hier“, fuhr Shinlan fort. „Dein Gesicht ist etwas runder. Man merkt es kaum, aber du strahlst, als hättest du eine Sonne in deinem Bauch. Man sieht gleichzeitig aus, als wäre man so klar wie ein Bergbach.“
Ich spürte die prüfenden Blicke Shinlans und fühlte mich zunehmend unwohler. Meine Gedanken rasten und ich suchte nach einem Ausweg. In meiner aufkommenden Panik wählte ich den falschen Weg und gab Shinlan – ohne es zu wollen – einen entscheidenden Hinweis. „Wie kann ich schwanger sein, wenn ich seit Monaten nicht mehr beim Kaiser gelegen habe.“
Shinlan starrte mich an, starrte auf meinen Bauch, dann wieder in mein Gesicht, wurde blass und presste schließlich ein „Das ist dein Untergang“ heraus.
Ich schluckte laut und wandte mich wieder meiner Stickerei zu.
Shinlan rang offensichtlich mit sich und war sich nicht sicher, ob sie ihre Gedanken aussprechen wollte. Schließlich, nach ein paar Minuten des gemeinsamen Schweigens, legte sie ihre Hand auf meinen Arm. „Du musst etwas tun, Min-Tao! Du musst dich dringend zum Kaiser legen!“
Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Dazu ist es zu spät! Ich habe seit sechs Vollmonden keine Blutungen mehr gehabt.“
„Seit sechs Vollmonden? Dann wirst du einen Jungen bekommen!“
Überrascht sah ich sie an. „Wie kommst du darauf?“
„Du siehst nicht aus wie ein Hefekuchen!“
Ich verstand nicht, was sie damit meinte, musste aber bei diesem Vergleich kurz auflachen, bevor ich wieder ernst wurde.
„Das Wissen der alten Frauen ist sehr groß“, sagte Shinlan, „und unterscheidet sich sehr von dem, was die Ärzte sagen. Glaub mir, ich habe schon viel gehört, was Männer meinen, über eine Schwangerschaft zu wissen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, das wird auch immer so bleiben. Wie soll ein Mann auch wissen, wie man sich fühlt, wenn er es nicht am eigenen Leib erforschen kann?“ Sie sah mir ernst in die Augen. „Glaub mir, du bekommst einen Sohn, aber du wirst das nicht mehr lange verbergen können.“
Ich wollte Cheng-Si nicht verraten und behielt für mich, dass ich bereits eine Verbündete hatte und einen Plan. Bis zur Geburt würde ich in meinen Gemächern bleiben. Was dann käme, würden wir sehen. Doch bis dahin hatte ich ja noch ein wenig Zeit.
Niemand schöpfte Verdacht. Shinlan hatte meine Schwangerschaft für sich behalten und konzentrierte sich auf ihre eigene. Diesmal war es nicht so einfach wie die letzten Male. Sie war stets müde und fühlte sich sehr schwer. Ihre Bewegungen waren die einer alten Frau und manchmal sprach sie von stechenden Schmerzen unterhalb der Rippen. Die Hebamme des Hofes wich nicht mehr von ihrer Seite und allmählich machten wir uns Sorgen um Shinlan.
***
Im Spätsommer, als Shinlan die Hälfte ihrer fünften Schwangerschaft hinter sich gebracht hatte, bekam sie plötzlich hohes Fieber. Man hatte sie in ihr Quartier gebracht, und dort lag sie schmerzverzerrt in ihrem Bett. Cheng-Si war bei ihr.
„Mutter, ich habe starke Schmerzen. Irgendetwas stimmt nicht“, flüsterte sie.
„Hab Mut, mein Kind! Es wird schon alles gut werden.“ Cheng-Si drückte liebevoll ihre Hand.
Die Hebamme trat aus dem Hintergrund ans Bett und begann mit ihren Untersuchungen. Routiniert tastete sie den gewölbten Bauch ab, fühlte den Puls und sah sich Shinlans Augen an.
„Mutter, mir ist kalt!“, klapperte Shinlan mit den Zähnen, obwohl ihr Körper zu glühen schien.
Cheng-Si holte weitere Decken aus einer der Kleidertruhen.
Vor dem Haus hatten sich die anderen Frauen versammelt. Sie machten sich große Sorgen um ihre Schwester. Shinlan war stets ein so positiver und fröhlicher Mensch, dass es schon unheimlich war, sie so geschwächt und schmerzerfüllt zu sehen.
„Sie hätte nach der letzten Schwangerschaft eine längere Pause gebraucht!“, vermutete die eine.
„Es gibt schließlich Mittel, so etwas zu verhindern!“, bemerkte Su-Ling, die sich seit Jahren erfolgreich vor einer Empfängnis schützte.
„Sie liebt eben Kinder“, wusste eine andere und das war die Wahrheit. Shinlan ging in ihrer Mutterrolle auf und sah es als Ehre an, dem Kaiser so viele Kinder wie möglich zu gebären.
Die Frauen lenkten sich mit ihren Vermutungen gegenseitig von ihrer Angst um Shinlan ab.
Die Kranke verfiel nach Tagen hohen Fiebers schließlich in Halluzinationen. Sie redete viele unverständliche Worte, aus denen man erahnen konnte, dass sie glaubte, ein Kind zu sein. Die Hebamme seufzte, als sie wieder einmal das Fieber kontrolliert und den Bauch untersucht hatte. Cheng-Si, die in der ganzen Zeit nicht von ihrer Seite gewichen war, wusste dieses Seufzen sehr gut zu deuten. „Mit dem Kind stimmt etwas nicht, nicht wahr?“
Die Hebamme nickte. „Der Bauch wird immer härter. Ich fürchte, das Kind lebt nicht mehr.“
Cheng-Si keuchte: „Und das heißt?“
„Das heißt, Shinlans Körper wird von innen heraus vergiftet“, antwortete die Hebamme.
Cheng-Si war geschockt. „Kann man es herausholen?“
Die Hebamme nickte. „Ja, aber ich kann nicht garantieren, ob sie“ – mit dem Kopf nickte sie in Shinlans Richtung – „das überlebt.“
Cheng-Si überlegte eine Weile, dann hatte sie einen Entschluss gefasst. „Tut alles, was Ihr könnt. Ihr habt meine Erlaubnis!“
Die Hebamme nickte und ging in ihr Quartier. Mit einer Kräutermischung, die seit Generationen ein Geheimnis ihrer Zunft war, kam sie wieder zurück. In einem Holzgefäß stampfte sie die getrockneten Blätter zusammen und goss sie mit heißem Wasser auf. Von der herb duftenden Flüssigkeit nahm sie die Hälfte ab, ließ sie abkühlen und vermischte sie mit Entenfett. Die Masse, die daraus entstand, schmierte sie auf den prallen Bauch und massierte sie in die Haut ein, so gut es ging. Shinlan stöhnte bei jeder Berührung, war aber so tief im Delirium, dass sie sich nicht allzu sehr wand.
Den restlichen Sud flößte man ihr immer wieder schluckweise ein und nach mehreren Stunden des Wartens und Leidens kam der Körper in Bewegung. Shinlan öffnete mit einem Mal weit die Augen und setzte sich schreiend auf. Es war tief in der Nacht und die meisten Frauen waren schlafen gegangen. Bei diesem Schrei allerdings waren alle hellwach und rannten hinaus, um sich in Shinlans Wohnung zu versammeln. Cheng-Si verwehrte ihnen jedoch den Zutritt zum Schlafgemach, also nahmen sie alle in Shinlans Wohnzimmer Platz.
Der Sud hatte bewirkt, dass der schwangere Körper der Mutter den toten Körper des Kindes abstieß und austreiben wollte. Shinlan hatte die Wellen, in denen die Schmerzen kamen, kaum unter Kontrolle und war nach Tagen hohen Fiebers binnen kurzer Zeit noch erschöpfter als zu Anfang. Es dauerte weitere Stunden, bis klar war, dass der geschundene Leib aus eigener Kraft nicht weiter kommen würde. Also entschied sich die Hebamme zu einem drastischeren Schritt. Sie ölte sich die Hand und den Arm bis zum Ellenbogen ein und glitt in Shinlans Körper hinein. Von außen sah man, wie sie sich vortastete und nach dem richtigen Weg suchte. Der Sud hatte den Gebärmuttermund schon geöffnet und als die Hebamme bei der Fruchtblase angekommen war, platzte diese auf und der stinkende Inhalt floss aus Shinlans Körper heraus. Spätestens jetzt wusste man, dass das Kind schon mehrere Tage tot war.
Die Hebamme ergriff einen der Embryofüße und zog leicht daran. Shinlan schrie auf und Cheng-Si eilte zu ihr hin. Es bedurfte großer Kraft, die Frau zurückzudrücken und zu halten, bis die Hebamme den kleinen Körper unter einem letzten Schrei der Mutter herausgezogen hatte.
Das graue Knäuel war handtellergroß. Cheng-Si wollte es sofort wegbringen lassen, doch die Hebamme bestand darauf, es Shinlan zu geben: „Sie muss sich verabschieden können.“ Also wurde der kleine Körper in ein Tuch gewickelt und Shinlan auf die Brust gelegt.
„Hier, Shinlan, hast du deinen Sohn!“ Cheng-Si streichelte der jüngeren Frau den Kopf und küsste ihr die Stirn. Doch Shinlan war inzwischen in eine Ohnmacht gefallen, aus der sie nicht wieder erwachte.
Ein Tumult war am Hofe ausgebrochen. Die Nachricht von Shinlans Tode hatte nicht nur unter den Frauen für große Aufregung gesorgt, denn plötzlich stand das Gerücht im Raume, Suan-Jen habe Shinlan aus Eifersucht vergiften lassen. Es war zu hitzigen Debatten gekommen, die schließlich auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Suan-Jen hielt den Anfeindungen und dem Druck nicht lange stand und flüchtete schließlich Richtung Dongjing, um von dort weiter nach Osten, in ihr geliebtes Winterdomizil, zu ziehen.
Shinlan hatte derweil ihre letzte Ruhe weit entfernt von Qin erhalten. Shenzongs Mausoleum Yongyu befand sich neben den Mausoleen seiner Vorfahren. Keine der Frauen war jemals auf dem Grabgelände der Song gewesen. Auch an Shinlans Bestattung durften sie nicht teilnehmen. Es waren die Minister und Priester, die Shinlan zusammen mit Shenzong zu Grabe trugen.
Die gesamte Grabstätte war sehr groß und es gab bereits mehrere Mausoleen. Die des Kaisers lag am anderen Ende. Der Trauerzug ging angeführt von den Priestern und Shenzong den heiligen Weg entlang, vorbei an verschiedenen Menschen- und Tierskulpturen, bis sie an die Mauern des Mausoleums kamen. Shinlan würde in einem Nebengrab außerhalb des Mausoleums begraben werden. Von ihrem Grab aus konnte man das Tor zum Mausoleum selbst sehen und hatte einen Blick auf die beiden Steinlöwen, die den Eingang bewachten. Da Shinlan nicht die Hauptfrau war, zog sich die Zeremonie nur über die frühen Morgenstunden und nicht über einen ganzen Tag hin. Still wurde der tote Körper begraben, begleitet vom Duft der Räucherstäbchen, die es der Seele erleichtern sollten, sich vom Körper zu lösen und sich für das nächste Leben vorzubereiten.
***
Nachdem Suan-Jen den Palast verlassen hatte, beruhigte sich die Lage ein wenig. Alle Frauen waren mit sich selbst beschäftigt und daher fiel es niemandem auf, dass ich meine Gemächer nicht mehr verließ.
Shinlans Schicksal hatte mich sehr verschreckt und ich sah mit Angst und Panik auf die letzten Wochen, die vor mir lagen.
Das Jahr war mittlerweile weit fortgeschritten und die letzten warmen Tage neigten sich dem Ende zu. Die Wiesen verloren ihr sattes Grün und die Natur stellte sich auf den Winter ein.
Mein Bauch war mittlerweile zu einer beachtlichen Größe herangewachsen, wie ich fand. In meinen eigenen vier Wänden fühlte ich mich vor fremden Blicken sicher und betrachtete oft meinen Körper. Shinlan hatte Recht behalten. Von meiner Figur hatte ich nicht viel eingebüßt. Wenn man mich von hinten sah, mochte man nicht meinen, eine derartige Kugel zu sehen, wenn ich mich umdrehte. Der Bauch stand spitz nach vorne ab und in letzter Zeit hatte ich sogar an der Haut erkennen können, dass sich das Kind in mir bewegte. Gelegentlich bekam ich einen derartigen Stoß, dass es mir den Atem raubte.
Als Cheng-Si einmal zu Besuch war, machte der kleine Insasse gerade wieder auf sich aufmerksam und es tat mir sehr gut, diese Erfahrung mit jemandem zu teilen.
Doch die Hausmutter wollte von meinem Enthusiasmus nichts wissen. „Denk daran“, sagte sie nüchtern. „Du wirst es nicht bei dir behalten können! Das Beste ist, du gewöhnst dich nicht allzu sehr daran!“
Bei diesen Worten verkrampfte sich mein Herz, doch ich wusste, dass die Alte Recht hatte. „Gebt mir doch wenigstens diese Zeit. Lasst mich so tun, als könnte ich es behalten. Ihr werdet es mir so oder so weg nehmen, das weiß ich und Ihr wisst, dass ich es weiß!“
Cheng-Si schwieg.
Das Miteinander wurde in den nächsten Wochen sehr schwierig und ich war jedes Mal froh, wenn sie mich alleine ließ und ich in meiner eigenen Welt leben konnte. Bald genug würde alles anders werden. Doch ich wollte nicht daran denken. Immer öfter schweiften meine Gedanken zu meinem Geliebten, der so fern war und von nichts wusste.
„Bao“, flüsterte ich in Richtung Westen. „Ich wünschte, du könntest hier sein und das alles mit mir gemeinsam erleben. Shinlan sagte, es wird ein Sohn. Aber das wäre mir egal, wenn ich dir unser Kind nur einmal zeigen könnte!“
Mit silbrigen Tränenspuren im Gesicht schlief ich ein, während ich den Bauch fest umklammert hielt.