24   Ein Neuer ERdenbürger

 

Qin, Winter 1075

 

Wirklich kalte Tage waren angebrochen. Es schien fast, als wollte die Natur alle daran hindern, hinauszugehen. Wir Frauen blieben lieber in unseren warmen Gemächern und wieder einmal stand das Glück auf meiner Seite. Auf diese Weise konnte ich auch in den letzten Wochen meiner Schwangerschaft neugierigen und entlarvenden Blicken entgehen.

 

Mittlerweile fühlte ich mich wie ein Fass. Ich konnte nicht glauben, dass mein Körper solch eine Dehnung aushalten würde und befürchtete, jeden Moment zu platzen. Als der Bauchnabel langsam nach außen trat, bekam ich Panik und bat Cheng-Si um Hilfe.

Diese sah sich alles an und musste schmunzeln. „Es sieht wahrlich gefährlich aus. Aber sei beruhigt. Das ist ganz normal. Der kleine Kerl in deinem Bauch hat langsam keinen Platz mehr. Wo soll er noch hin?“ Und mehr zu sich selbst sagte sie: „Es wird Zeit!“

Fragend sah ich sie an. „Zeit?“

Cheng-Si fuhr aus ihren Gedanken: „Wir müssen dich hier weg bringen. Du kannst das Kind unmöglich hier in deinen Gemächern bekommen. Das wird eine laute Angelegenheit.“

Ich hatte noch Shinlans Schreie im Kopf und diese machten mich nicht unbedingt mutiger und zuversichtlicher. „Wo soll ich hin?“

„Ich habe einen Ort gefunden. Eine kleine Hütte außerhalb der Palastmauern“, erklärte Cheng-Si. „Dorthin verirrt sich niemand. Abgesehen davon werden die winterlichen Verhältnisse die Menschen abschrecken, auch nur in die Nähe der Hütte zu kommen.“

Skeptisch sah ich an mir herab. „Ich frage mich nur, wie ich selbst dahin gelangen soll. Wollt Ihr mich dorthin rollen, verehrte Mutter?“

Cheng-Si lachte. „Nein, natürlich nicht. Aber du wirst eine Hebamme zur Seite haben. Alleine schaffst du das nicht und ich kann dich erstens nicht begleiten, noch weiß ich zweitens genug über das Gebären, als dass ich dir eine Hilfe sein könnte.“ Cheng-Si dachte weiter nach. „Ich werde alles in die Wege leiten. Noch kannst du dich bewegen, in ein paar Tagen ist das vielleicht nicht mehr der Fall.“

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und ließ mich allein.

Ein paar Nächte später kehrte sie zurück und half mir, mich fertig zu machen. Cheng-Si wickelte mich in ein schwarzes, löchriges Tuch ein, das mein Antlitz verbarg. Zitternd näherten wir uns dem Tor.

Dort standen drei Wachen, die uns den Weg versperrten. Cheng-Si gab sich zu erkennen und die Männer wurden etwas lockerer.

„Was wollt Ihr?“ fragte der eine. „Ich darf niemanden mehr hinauslassen.“

„Sei so gut und mache eine Ausnahme“, bat Cheng-Si. „Einer der Frauen in meinem Haus ist nicht gut und ich kann ihr nicht helfen. Dieses Kräuterweiblein hat genug Wissen, um eine Linderung der Schmerzen zu erwirken, aber leider sind ihr die Mittel ausgegangen.“

„Warum holt Ihr niemanden aus dem Haus der Genesung? Dort gibt es gute Ärzte.“ Der Soldat war skeptisch geworden und auch seine beiden Kameraden gesellten sich dazu.

„Mein lieber Fu! Du bist doch der kleine Fu, dem ich als Kind einmal gründlich den Hintern versohlen musste, weil er in mein Haus geschlichen war?“ Cheng-Si stellte sich direkt vor den Mann und sah ihn sich genau an.

Fu, der Soldat, fühlte sich offenbar unangenehm ertappt, denn sein Gesicht färbte sich selbst in der Dunkelheit rot. Er trat von einem Bein auf das andere und wirkte plötzlich wieder wie ein kleiner Junge. „Ja, Herrin. Das war ich.“

„Willst du dich also wieder mit mir auf Diskussionen einlassen über Dinge, die du nicht verstehst? Lass uns vorbei und wir sind in wenigen Stunden wieder zurück.“

Die Kameraden lachten. „Du bist in das Haus der Frauen eingebrochen?“ – „Was bist du denn für ein Schlimmer!“

„Ihr bleibt hier“, herrschte Fu zornig und deutete auf Cheng-Si. „Aber ich begleite Euer Kräuterweiblein nach Hause, damit ihr nichts passiert.“

Cheng-Si sog merklich die Luft ein, sah aber keine andere Möglichkeit und willigte ein. „Bring sie sicher in die Straße des Drachen, wo sie wohnt und nimm Rücksicht auf sie. Sie ist nicht mehr so gut bei Fuß und wird länger brauchen, als du mit deinen langen Beinen!“ Und zu mir sagte sie: „Gib gut acht auf den Weg. Wir sehen uns in ein paar Stunden wieder. Hoffentlich hast du die richtigen Kräuter bei dir im Haus.“

Ich grunzte zur Antwort.

 

Den Weg zu dieser besagten Straße des Drachen kannte ich nicht, ließ mich aber während des Gehens immer wieder leicht zurückfallen, so dass Fu, ohne es zu merken, den Weg vorgab. An der Haustür angekommen, klopfte er. Die Türe öffnete sich.

„Verzeiht die Störung“, entschuldigte sich Fu, „aber Euer altes Weib braucht dringend ihre Kräuter. Im Palast erwartet man sie bereits.“

Eine alte Frau stand in der Türe, griff nach meinem Arm, zog mich herein und knallte die Tür vor Fus Gesicht wieder zu. „Männern ist der Zutritt nicht erlaubt“, rief sie durch die Tür.

 

***

 

Fu wartete eine Weile und wurde langsam ungeduldig. Als er schon an die Türe klopfen wollte, öffnete sie sich, heraus kam das gebeugte Weiblein und humpelte voran.

An den Toren wartete bereits Cheng-Si und nahm sie in Empfang. „Gott sei Dank bist du wieder da. Bitte komm schnell und hilf uns.“

Und zu Fu gewandt rief sie: „Danke, dass du sie begleitet hast. Du bist doch nicht mehr der Rotzlöffel, der du früher warst.“

Seine Kameraden lachten erneut und die Wachen zogen sich in ihre Stube zurück.

 

Cheng-Si ließ am nächsten Morgen verkünden, dass es Min-Tao nicht gut ging.

„Sie hat von Shinlan geträumt und ist zusammengebrochen. Ich bitte euch, ihren Wunsch zu respektieren, sie in den nächsten Tagen in Ruhe zu lassen.“

Da allgemein noch Trauer um Shinlan herrschte, fanden die Frauen nichts dabei und ließen Min-Tao in Frieden. Wenn schon eine Magd sich um Ning kümmern musste, bedeutete dies, dass es Min-Tao wirklich schlecht ging.

 

***

 

Ich wartete bereits im Flur des Hauses, in dem ich in der Nacht zuvor Unterschlupf erhalten hatte. An den Toren des Palastes wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen vor Aufregung. Vor allem, als dieser Fu darauf bestanden hatte, mich zu begleiten. Glücklicherweise hatte er nicht gemerkt, dass ich im Hause durch eine andere, wirklich alte Frau, ausgetauscht worden war. Man hatte dort keine Fragen gestellt und schien auf Anhieb zu begreifen, um was es ging. Die Alte hatte sich meinen Umhang geschnappt und war nach kurzer Zeit vor die Tür getreten. Dieser Fu hatte nichts bemerkt und war brummelnd hinterher getrottet. Vorerst war ich in Sicherheit gewesen. Jetzt, da es wieder hell war, sollte es zur Hütte außerhalb der Stadt gehen. Eine Frau holte mich ab und führte zwei Pferde mit sich.

„Ich bin Dai Lian-Cui. Ich werde Eure Hebamme sein.“ Die junge Frau verneigte sich.

 

Nach einem beschwerlichen Ritt waren wir bei der Hütte angekommen. Ich war fürchterlich erschöpft und legte mich sofort hin.

 

***

 

Lian war eine relativ junge Hebamme. Sie hatte noch nicht viele Geburten durchgeführt, aber Cheng-Si vertraute ihr, und bei Lian wusste man, dass sie verschwiegen war. Natürlich war sie überrascht gewesen, als sie sah, wen sie zu betreuen hatte. Min-Tao galt am Hof als Einzelgängerin, die nichts für Männer übrig hatte. Man hatte sie auch mit keinem anderen Mann in Verbindung gebracht, nachdem nicht einmal der Kaiser sich mit ihr vereinigte. Lian kannte die Geschichten, die man sich von Min-Tao erzählte. Wenngleich die wenigsten wussten, dass es sich bei der Reitenden Kaiserin aus Dongjing um Min-Tao handelte. Lian wusste es und sie bewunderte die kaiserliche Frau, die sich ihre Freiheiten erkämpft hatte und zudem intakte Füße hatte. Zu Zeiten, in denen sich die Damen der Oberschicht durch verunstaltete Füße von der gewöhnlichen Frau abgrenzten, kam das einer freundlichen Geste und sogar einer Respektsbezeugung gegenüber der Unterschicht gleich. Auch wenn Min-Tao das niemals bezweckt oder forciert hätte, denn sie hatte nur ihre eigene körperliche Unversehrtheit im Sinne.

 

***

 

Zwischen mir und meiner Hebamme herrschte zunächst eine befangene Distanz, die mir sehr unangenehm war. Aus irgendeinem Grund bewunderte mich die junge Lian und mir war das nicht geheuer.

Am Abend, als wir vor einem knisternden Feuer saßen und es eigentlich ein gemütliches Beisammensitzen hätte sein können, betrachtete ich sie von der Seite. Das Schweigen lag wie eine schwere Decke über uns. Auch traute Lian sich nie, mich direkt anzusehen

„Warum hilfst du mir? Du weißt doch sicher um die Umstände meiner Schwangerschaft!“

Lian war offenbar froh, dass endlich ein Gespräch stattfand. „Ich weiß nicht, wer der Vater ist, wenn Ihr das meint, Herrin.“

„Du bist noch nicht sehr alt“, merkte ich vorsichtig an. „Wieso hat Cheng-Si dich geschickt?“

„Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben, Herrin!“

„Bitte, sag nicht immer Herrin zu mir. Das ist mir unangenehm.“

Lian nickte zustimmend.

„Ich verstehe nicht, warum du solch ein Risiko auf dich nimmst, mir zu helfen, wo du doch weißt, dass ich den Kaiser hintergangen habe.“

„Eure Beweggründe interessieren mich nicht. Ich weiß von der Beziehung zwischen Euch und dem Kaiser. Ich habe schon viel von Euch gehört!“

Nun war ich überrascht. „Man spricht über mich? Was gibt es zu erzählen? Ich bin niemand Besonderes!“

„Glaubt das nicht! Wisst Ihr denn nicht, welche Geschichten man sich von Euch erzählt?“, fragte Lian aufgeregt. „Ihr seid doch die Reitende Kaiserin, nicht wahr?“

„Wie bitte?“, entfuhr es mir. „Wer erzählt sich denn das?“

„Das Volk. Ihr seid bereits jetzt eine Legende.“

Das war es also, was Shenzong gemeint hatte. Ich war in Dongjing anscheinend unvorsichtig gewesen. Kein Wunder, dass er mir nicht mehr gestattete, inkognito auszureiten.

„Das erklärt allerdings noch immer nicht, warum du mir hilfst!“, stellte ich fest.

Lian verharrte einen Augenblick schweigend. Dann schien es, als nahm sie allen Mut zusammen und sagte: „Ich bin selbst ein verbotenes Kind.“

„Ein verbotenes Kind?“

„Ja, Ihr erwartet auch ein solches. Ihr seid eine Frau des Kaisers und dürft als solche mit keinem anderen Mann Verkehr haben. Doch nicht alle Frauen sind bei ihrem Kaiser so glücklich wie die ehrenwerte Su-Ling oder die ehrenwerte Shinlan. Meine Mutter ist eine Frau des alten Kaisers gewesen. Doch mein Vater war ein anderer. Beide mussten sterben, als es herauskam und ich verdanke mein Leben Cheng-Si, die mich damals versteckte. Das kaiserliche Protokoll sieht derartige Vorkommnisse sehr streng und unter Shenzong hat sich das nicht geändert.“ Lian machte eine kurze Pause. Etwas leiser und zu Boden blickend sagte sie: „Ich mag Euch sehr, ich bewundere Euch.“ Die junge Hebamme hob den Blick. „Und ich stehe tief in Cheng-Sis Schuld. Diese beiden Gründe und das Ungeborene in Eurem Bauch sind für mich Anlass genug, Euch zu helfen!“

Lian hatte ihre Erzählung beendet und ich spürte die Aufrichtigkeit in ihren Worten.

„Ich danke dir sehr für deine Hilfe“, sagte ich. „Und ich bin froh, dass du bei mir bist!“

 

Von nun an war der Aufenthalt in der Hütte angenehmer. Es hätte fast schön sein können, wenn da nicht die ständige Angst vor der Geburt gewesen wäre. Ich hatte noch keine erlebt, weder von einer Verwandten, noch von einer Bediensteten. Ich wusste nicht, was auf mich zukam, kannte nur vom Hören die Schreie Shinlans und das Wissen, dass diese bei ihrer letzten Schwangerschaft unter Schmerzen gestorben war. Abends saß ich am Feuer, starrte in die Flammen und malte mir aus, wie es sein würde.

Vor allem fühlte ich mich einsam. Natürlich war Lian bei mir, viel lieber aber wäre mir Bao gewesen. Er würde mir die Ruhe geben, die Lian mir nicht geben konnte, so sehr sie sich auch anstrengte. Tränen liefen mir über die Wangen, während ich meinen Bauch umklammerte und mich – wie schon so oft – daran festzuhalten schien. Warum war er nur so weit weg?

Tränenüberströmt schlief ich vor dem Feuer ein.

 

„Soll ich dir ein wenig die Füße kneten? Du siehst müde aus!“

Hände griffen nach meinen Zehen und ich konnte nur schwer die Augen öffnen. Wer sprach da? Diese Stimme kannte ich doch!

„Liebes! Deine Füße sind ja eiskalt!“, fuhr die Stimme fort.

Mein Herz raste! „Bao! Was machst du hier?“, murmelte ich im Halbschlaf und öffnete die Augen.

Er sah mich sehr erstaunt an. „Was meinst du! Wo soll ich denn sein?“

Fassungslos starrte ich ihn an. Das konnte doch nicht wahr sein! War das ein Traum? Ich spürte seine Hände auf meinen Füßen, spürte die Wärme seiner Handflächen auf meiner Haut. Wie konnte das sein?

„Bist du es wirklich?“ Ich tastete nach ihm und stach mit meinem Zeigefinger in seinen Unterarm.

„Was machst du denn da?“ Bao lachte. „Du schaust mich an, als wäre ich ein Gespenst!“

„Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier bist!“

Bao sah mich an und ließ meine Füße los.

Ich beobachtete, wie er meine Beine in die Decke einwickelte und sah ihn auf mich zukommen. Sein Gesicht kam immer näher und ich konnte ihn bereits riechen, bevor sich seine Lippen auf die meinen legten.

Der Kuss fühlte sich echt an und ich schloss die Augen.

Bao umschloss mein Gesicht mit seinen Händen und küsste mich intensiv.

„Du bist es wirklich!“, seufzte ich, als er sich von mir löste.

Bao lachte und ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht. „Natürlich bin ich es! Ich wünschte, ich könnte immer bei dir sein! Aber ich muss bald wieder gehen!“

Entsetzt riss ich meine Augen auf. „Du bleibst nicht bis zur Geburt?“

„Das kann ich nicht!“

„Warum nicht? Du bist den langen Weg hierhergekommen, um nur für eine kurze Weile zu bleiben?“

„Es war kein langer Weg, meine Geliebte!“

Wovon sprach er?

„Was meinst du damit?“, fragte ich.

Bao setzte sich hinter mich und nahm mich in den Arm. Eine Weile wiegte er mich, doch dann merkte ich, dass sich etwas veränderte.

„Ich muss nun wieder gehen“, hörte ich Bao wie von Weitem sagen.

Mein Körper wurde sehr schwer und die Augen fielen mir zu. Knisternd hörte ich das Prasseln des Feuers und wollte rufen.

„Bleib“, schrie ich, doch es kam mir nicht über die Lippen. Die Augen noch immer schwer, wälzte ich mich auf meinem Lager hin und her. Schließlich konnte ich die Augen wieder öffnen – doch ich war alleine.

Die Tür öffnete sich und ich fühlte die kühle Luft auf meinem Gesicht.

Lian war hereingekommen.

„Wo ist er?“, rief ich.

Sie sah sich um. „Wen meint Ihr?“

„Bao! Er war hier. Er muss dir begegnet sein, als ihr draußen wart!“

Die Hebamme sah mich schräg an. „Hier war niemand! Wir sind dermaßen eingeschneit, dass man nicht zu uns gelangen kann, selbst wenn man wollte!“

Das glaubte ich nicht. Ich war felsenfest von der Anwesenheit meines Geliebten überzeugt und wollte mich auch von nichts anderem überzeugen lassen.

„Vielleicht habt Ihr geträumt? Schwangere haben oft sehr intensive Bilder im Schlaf.“

Ungeduldig erhob ich mich und watschelte zur Tür. Ich musste mich vergewissern, dass draußen wirklich Schnee lag und niemand vorbei gekommen war.

 

Vor der Tür türmte sich das kalte Weiß und nirgends Spuren, die hierher führten. Es war nicht zu fassen. Ich hatte ihn doch gespürt, sogar gerochen! Wie war das möglich?

„Habe ich tatsächlich geträumt?“, fragte ich und befühlte meine Lippen. War ein solch intensiver Traum möglich? Ich erinnerte mich an die anderen Träume, die ich mit Bao geteilt hatte. Auch diese waren mir real erschienen. Vielleicht waren wir nun durch das gemeinsame Kind enger verbunden und somit auch ein intensiveres Bündnis im Schlaf möglich?

Ich spürte den fragenden Blick von Lian und mehr zu ihrer Beruhigung sagte ich: „Du hast Recht. Es war nur ein Traum. Ich bin sehr müde!“

Lian lächelte, doch ihre Stimme war voller Mitleid. „Ihr vermisst ihn sehr, nicht wahr?“

Ich nickte und wandte mich ab.

Den nächsten Tag verbrachte ich mit viel Schlafen vor dem Feuer. Mehrmals hatte ich auf dem Bett versucht, bewusst von Bao zu träumen, aber es wollte nie so richtig funktionieren, wie vor den beruhigenden Flammen des Feuers. Also verlegte ich meine Schlafstelle direkt vor den Kamin und verbrachte meine Zeit damit, in das flackernde Rot-Orange zu starren. Ab und an fiel ich in eine Art Schlaf und dies waren die Momente, in denen ich mich Bao am nächsten fühlte.

 

***

„Du hast den schönsten runden Leib, den ich je gesehen habe!“ Bao legte seine Hand auf den prallen Bauch und kuschelte seinen Kopf zufrieden in Min-Taos Armbeuge.

„Wie viele runde Leiber hast du denn schon von so nahe gesehen?“, scherzte Min-Tao.

„Keine“, musste er zugeben. „Aber ich bin mir sicher, du hast den schönsten Bauch!“ Er sah sie von unten an und wirkte so zufrieden, dass es seiner Geliebten Tränen in die Augen trieb. Sie weinte in letzter Zeit öfters. Die kleinste Nichtigkeit brachte sie zum Weinen und es wirkte auf ihn, als wäre für sie alles intensiver: Trauer, Freude, Angst...

„Wovor hast du Angst?“ Bao streichelte ihr Gesicht.

„Davor, dass ich alleine bin, wenn das Kind kommt!“

„Du bist nicht alleine! Ich bin bei dir! Ich bin immer bei dir!“

 

Bao erwachte. Das Feuer in seinem Zelt war kurz vor dem Erlöschen und er griff reflexartig nach einem weiteren Holzscheit. Die Glut fraß gierig das neue Holz und wuchs zu einem kleinen Feuer an.

Baos Traum hallte noch in seinem Kopf. Er hatte in letzter Zeit beinahe jede Nacht einen Traum von seiner geliebten Min-Tao und fühlte sich ihr dabei so nah, wie schon lange nicht mehr. Ein Gefühl sagte ihm, dass es nicht mehr lange hin wäre, bis sie ihr gemeinsames Kind zur Welt bringen würde.

Wenigstens konnte er im Traum bei ihr sein. Tagsüber lebte er den Alltag eines Soldaten und konnte dabei relativ gut die quälenden Gedanken unterdrücken. Aber hier, in der Nacht und in seinen Träumen, war er der verletzlichste Mann der Welt – so schien es ihm. In seiner Ausbildung hatte er vieles gelernt, was ihn lebend durch alle Widrigkeiten brachte, die man sich als Soldat und Kämpfer vorstellen konnte; aber wenn es um Min-Tao ging, entdeckte er sich selbst neu. Bao wusste manchmal nicht, wie er damit umgehen sollte, doch auf der anderen Seite genoss er das Gefühl, geliebt zu werden und lieben zu können. Umso bitterer war es für ihn, dass er ausgerechnet in ihren schweren Stunden nicht bei ihr sein und sie unterstützen konnte.

Im Traum hatte er gesagt, er wäre immer bei ihr, und das meinte er auch jetzt, im wachen Zustand, sehr ernst. Sie hatten schon immer auf einer anderen Ebene kommunizieren können und Bao schien es, als wäre das in den letzten Wochen sogar noch intensiver möglich. Er vertraute darauf, dass er im entscheidenden Moment Hilfe für sie sein konnte, wenn auch nicht körperlich, sondern in ihren Gedanken.

 

***

 

Die Schläfrigkeit, in die ich nur allzu bereitwillig verfallen war, war nach ein paar Tagen plötzlich verflogen. Stattdessen stellte sich eine Art Unrast ein, die mich dazu antrieb, in der Hütte herumzulaufen. Wäre es draußen nicht so kalt gewesen, hätte ich in der Natur spazieren gehen können; dieses Gefühl, eingesperrt zu sein, machte mich nicht unbedingt friedlicher. Im Gegenteil, ich wurde zunehmend gereizter. Lian konnte mir nichts mehr recht machen. Mal war es zu kalt, mal zu warm in der Hütte, mal zu dreckig, mal zu stickig, mal zu zugig. Der nach vorne stehende Bauch hatte sich gesenkt und gab mir stündlich mehr das Gefühl, mein Bauch würde bereits zwischen den Knien hängen. Der Rücken schmerzte, und ab und an spürte ich ein Ziehen im Unterleib, als würde man meine Eingeweide herausreißen wollen. Lian zeigte mir, wie ich in diesen Momenten zu atmen hätte und so fand ich mich vermehrt in gebückter Haltung vor, ein langgezogenes „Aah“ singend.

Dann plötzlich…

„Ich habe mich nassgemacht!“, schrie ich peinlich berührt. „Bin ich jetzt schon so schwerfällig, um rechtzeitig den Austritt zu erreichen?“

Lian war herbeigeeilt und betrachtete die Pfütze, die sich unter mir gebildet hatte. „Das ist kein Urin! Euer Kind will kommen!“

Mir stockte der Atem. Einerseits aus Schreck, andererseits aus einem erneuten Schmerz, der meinen Körper durchzog. „Geht es jetzt los?“ Diese Frage war vollkommen überflüssig, aber ich wollte mich lieber noch einmal vergewissern.

Lian nickte.

„Und was soll ich jetzt tun?“ Verängstigt traute ich mich nicht, mich zu bewegen und verharrte in dieser seltsam gebückten Haltung, die mir das Aussehen eines schlagartig versteinerten Mutteräffchens gab. Lediglich die Augen bewegte ich weit aufgerissen hin und her und Lian musste bei meinem Anblick fürchterlich lachen.

Ich fand das jedoch alles andere als witzig und blitzte die Hebamme mit zusammengekniffenen Augen an. „Was. Ist. So. Komisch“, zischte ich durch die zusammengebissenen Zähne.

Lian lachte noch immer. „Es tut mir leid, aber Euer Anblick ist wirklich zum Lachen! Kommt, legt Euch auf Euer Lager. Wir schüren das Feuer groß, so dass Ihr die nassen Kleider ausziehen könnt. Nackt gebiert es sich angenehmer.“ Lian führte mich vorsichtig zu der Strohmatratze in der Nähe des offenen Kamins und half mir, mich hinzulegen.

Als ich ausgezogen da lag, mit einer Decke über den Schultern, sah ich über den Bauch in die Flammen.

„Es geht los!“, flüsterte ich. „Bitte hilf mir!“

 

***

 

Die Nacht brach herein. Die Soldaten hatten sich versammelt zur Jahreswende und feierten ausgiebig. Es war viel Schnee gefallen und er hüllte sie hier in ihrem Winterlager noch fester ein.

Bao saß mit seinen Männern am Feuer und aß mit ihnen.

„Es geht los!“, rief einer seiner Männer und begann, um das Feuer zu tanzen. Andere folgten ihm und sie tanzten, um in alter Weise den Göttern zu danken.

„Es geht los“, hallte es in Baos Kopf nach und ihm wurde seltsam schwer. Er starrte in das Feuer. Seine Männer verschwanden für ihn mehr und mehr im Hintergrund. Sein Geist schien davon zu fliegen. Über die Berge, unter sich eine Decke von Schnee. Sein Geist flog weiter, bis er eine Hütte erblickte. Der Sturzflug war schnell und endete genauso abrupt, wie er begonnen hatte. Und mit einem Mal hatte Bao das Gefühl, vor seiner Frau zu knien. Sie lag auf dem Rücken und er konnte direkt zwischen ihre Beine sehen. Über den Bauch hinweg erkannte er ihr Gesicht, welches schmerzverzerrt schnaufte und ab und an auch schrie.

„Ich bin hier!“, rief sein Geist und es hatte den Anschein, als könnte Min-Tao ihn hören.

 

***

 

Erschöpf, aber aufgewühlt hatte ich es mir vor dem Feuer so bequem wie möglich gemacht. Lian hatte die nassen Kleider zum Waschen eingeweicht. Ich arbeitete hart an mir, nicht in Panik zu verfallen, doch es war schwer, die Schreie von Shinlan aus dem Kopf zu bekommen, zumal ich nun vermehrt das Gefühl hatte, auseinander gerissen zu werden.

Die Hebamme hatte Wasser zum Kochen gebracht und viele Tücher neben mich gelegt. Die Schmerzen, die meinen Körper in immer kürzer werdenden Abständen durchfuhren, schienen immer heftiger zu werden, und ich war jedes Mal überrascht von ihrer steigenden Intensität.

„Wie lange dauert es denn noch?“, japste ich zwischen zwei Schmerzwellen.

Lian tastete mich ab. „Es kann nicht mehr allzu lange dauern. Die Öffnung ist schon sehr weit. Versucht, Euch auszuruhen, wenn Ihr schmerzfrei seid, dann habt Ihr genügend Kraft für das letzte Stück Arbeit.“

Die Zeit schien stehen zu bleiben. Immer wieder bekam ich Schmerzen, die sich wie ein Ring um meine Hüfte zu ziehen schienen und ich bemerkte auch, dass ich zunehmend müde wurde. Schließlich war ich so erschöpft, dass ich während der nächsten Welle nicht mehr richtig atmen konnte.

„Ich kann nicht mehr!“, schrie ich. „Himmel, ich werde sterben!“

Lian beruhigte mich. „Ihr werdet leben! Das verspreche ich Euch! Seid mutig. Es geht gut voran!“

„Gut voran?“, fauchte ich. „Hast du denn schon ein Kind, dass du das beurteilen kannst?“

„Nein, natürlich nicht.“ Lian blieb trotz der Beleidigung ruhig. „Aber ich versichere Euch, dass es gut gehen wird.“

Eine Schmerzwelle nach der anderen kam und ging. Wohl starb ich nicht, aber ich wurde immer erschöpfter. Schließlich, als ich mit meinen Kräften am Ende zu sein glaubte, hörte ich eine Stimme.

„Hier bin ich!“

Es war Bao, den ich hörte.

Für einen kurzen Augenblick vergaß ich alles um mich herum und richtete den Blick in die Flammen. War das das Ende? Sah ich jetzt schon Bilder im Feuer? Da war eindeutig Baos Gesicht zu erkennen und ich hörte wieder sein „Ich bin hier“.

Ob Einbildung oder nicht, ich schöpfte daraus mit einem Mal eine ungeahnte Kraft, richtete mich auf und stützte mich, nach vorne gebückt, auf meine Hände. Kaum hatte ich die Beine breit gemacht, durchfuhr mich ein Schmerz, der viel intensiver war als alles bis dahin Gewesene. Lian begriff, dass das Kind jede Minute kommen würde und hockte sich hinter mich. Ich starrte in das Feuer und atmete tief ein und aus. Schließlich holte ich noch einmal tief Luft und mit dem nächsten Schrei kam zwischen meinen Beinen ein kleiner Kopf zum Vorschein.

„Sehr gut! Noch einmal und Ihr habt es geschafft!“ Lian griff nach dem Köpfchen und als ich den nächsten Schrei tat, glitt auch der Rest des Neugeborenen aus meinem Körper. Wie aus Wut über die plötzlich fehlende Wärme seiner gewohnten Umgebung, stieß es einen krähenden Schrei aus und ballte die Fäustchen.

Glücklich starrte ich noch immer in das Feuer. Lian hatte mir den kleinen Jungen auf den Bauch gelegt und ich betrachtete sein kleines, faltiges Gesicht. Vorsichtig streichelte ich über die zarten Wangen und sah erneut in Richtung Feuer.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich den Flammen zu, und das Feuer veränderte sich.

Baos Gesicht lächelte und verschwand.

 

***

 

Bao wurde aus seinen Gedanken gerissen, als seine Männer einen Freudenschrei taten. Er benötigte einige Augenblicke, sich zurecht zu finden, denn er war noch zu überwältigt von den Bildern, die er eben in seinem Kopf wahrgenommen hatte. Er hatte Min-Tao gesehen, wie sie vor ihm gesessen hatte. Er war Betrachter einer Szene gewesen, die so unbeschreiblich war, dass er sie niemals hätte in Worte fassen können. Min-Tao war unwahrscheinlich schön gewesen, obwohl sie große Schmerzen gehabt haben musste. Doch dann schien sie ihn entdeckt zu haben und von diesem Augenblick spürte Bao eine Veränderung in ihr. Sie hatte sich aufgerichtet und sich ihm zugewandt. Er konnte ihre Brüste sehen, wie sie abstanden, dahinter den prallen Bauch. Irgendwann war etwas zwischen ihren Beinen herausgekommen und in die Arme der anderen Frau geglitten. Diese hatte das kleine Bündel auf Min-Tao gelegt und dann hatte er den großartigsten Anblick seines bisherigen Lebens gehabt: seine Frau mit seinem Sohn auf der Brust.

Er spürte Min-Taos warmen Blick auf sich gerichtet und hörte sie sagen: „Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch“, schickte er in ihre Richtung und dann verschwand das Bild.

Nun saß er wieder am Feuer inmitten seiner Männer, die gerade zu einem Freudengeheul ansetzten.

„Als wäre es ihm zu Ehren“, freute sich Bao leise für sich, obwohl er natürlich wusste, dass man sich um ihn herum wegen der ausgelassenen Tänze und der Feier freute. „Mein Sohn ist der größte Reichtum, den das Leben mir schenken kann. Nenne ihn Shao“, schickte Bao als letztes in die Nacht, dann tanzte auch er.

 

***

 

„Wie soll er heißen?“, fragte Lian.

Ich konnte den Blick nicht von meinem Sohn abwenden. Lian hatte die Nabelschnur an zwei Stellen mit abgekochten Rosshaaren abgebunden und in der Mitte durchtrennt. Dann hatte sie den Kleinen vorsichtig vom Blut gereinigt und die gelbe Schmiere in seine Haut einmassiert. Nun lag der kleine Mann an meiner Brust und hatte gerade sein erstes Mahl zu sich genommen. Das Saugen des Neugeborenen hatte sich merkwürdig und doch so normal angefühlt!

„Ich nenne ihn Shao!“, beschloss ich überglücklich.

Der kleine Shao rülpste, als wollte er dem zustimmen.