13   Gefangenschaft

 

 

Dongjing, Sommer 1072

 

In den letzten Monaten war ich sehr oft mit Quo-Mi ausgeritten und hatte mit ihr zusammen die Gegend erkundet. Schon bald fand ich mich auch alleine überall zurecht und kannte ein paar abgelegene Orte, an denen ich mich frei und unbeschwert bewegen konnte.

Der Weg zu meinem Lieblingsplatz führte mich zunächst über die Felder hinter dem Palast. Nach einer Weile erreichte man den Waldrand. Zwischen den Bäumen führte ein kleiner Pfad in den Wald hinein und wenn man diesen nicht verließ, gelangte man nach längerer Zeit in einen kleinen Ort. Ich verließ allerdings schon bald den Weg zur linken Seite und ritt querfeldein durch das ansteigende Gebiet. Die Bäume standen nicht besonders dicht, so dass man zügig reiten konnte. Ich genoss den Anblick der Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Baumkronen bis auf den Waldboden bahnten. Der Frühling war bereits vorüber, aber das satte Grün der Bäume war noch nicht von der Sonne ausgebleicht, und ich befand mich inmitten einer Vielzahl von Grüntönen. Die Vögel zwitscherten ihre Lieder und der Wind blies gerade eine Wolke Blütenpollen heran, die in den Strahlen der Sonne sichtbar wurden.

Schließlich gelangte ich auf die Anhöhe des kleinen Berges und folgte nun dem Pfad bergabwärts. Dort unten befand sich ein kleiner See, den ich recht bald entdeckt hatte. Beinahe täglich ritt ich zu dieser Stelle und hatte den Ort bis jetzt immer menschenleer vorgefunden. Und auch heute versprach der Platz wieder angenehme Einsamkeit.

Die Sonne stand hoch und ich verspürte leichten Hunger. Ich lenkte Ning zu unserem gemeinsamen Stammplatz, stieg ab und legte dem Pferd lediglich Fußfesseln an, so dass es grasen konnte, wo es wollte, ohne sich dabei allzu weit zu entfernen. Ich selbst nahm am Rande des Teiches Platz und packte meine mitgebrachte Mahlzeit aus. In meinem Lederbeutel fand ich ein paar Stücke Brot und ein paar Kemiri-Nüsse. Das Wasser aus meinem Beutel war noch angenehm kühl und ich nahm einige Schlucke. Zufrieden legte ich mich zurück und betrachtete den Himmel. Durch die Baumkronen konnte ich das Blau erkennen und sah die Wolken, die vorbei zogen. Der Wind wehte leise durch die Blätter und ließ die Baumspitzen hin und her wiegen. Das Rauschen machte mich schläfrig; ich schloss die Augen und lauschte dem Treiben der Natur. Ab und an knackte es im Gehölz, die Vögel zwitscherten und in der Nähe hämmerte ein Specht an einem Baum. Unmittelbar neben meinem Ohr hörte ich Ning, wie sie büschelweise Gräser abbiss und verspeiste. Die glatte Wasseroberfläche wurde ab und an durch ein Plätschern gebrochen, wenn ein Fisch nach einer Fliege schnappte, und hin und wieder summte ein Insekt.

Die Atmosphäre veränderte sich und ich schreckte hoch. Offenbar war ich eingedöst. Vielleicht hatten mich auch die Flügelschläge aufgebrachter Vögel geweckt und ich hatte das Gefühl, als wäre ich nicht mehr alleine. Ich stand auf und sah mich genau um. Doch niemand war zu sehen.

Schnell packte ich meine Sachen zusammen und ging zu Ning, die ebenfalls die Ohren aufgestellt hatte.

„Hörst du auch etwas?“, fragte ich das Pferd, als erwartete ich tatsächlich eine Antwort.

Ning schnaufte und schüttelte ihre Mähne. Zügig saß ich auf und steuerte den Rückweg an. Die Sonne war schon um einiges weitergezogen auf ihrer Bahn. Ich hatte den halben Nachmittag verschlafen.

Auf dem Rückweg begegnete ich niemandem, und war darüber sehr froh. Vielleicht war ein größeres Tier in der Nähe gewesen und hatte die Vögel aufgeschreckt. Ich würde sicherheitshalber ein paar Tage warten, bis ich wieder hierher käme.

 

Derweilen kündigte sich im Palast die Rückkehr der Ehrwürdigen Hauptfrau an. Sie hatte die kalten Wintertage und den Frühling in ihrem Sommersitz am Meer verbracht und würde nun in den nächsten Tagen im Palast eintreffen. Böse Zungen meinten, Shinlans neues Kind wäre schuld an der Rückkehr, denn Suan-Jen hatte noch immer keinen legitimen Nachfolger für Shenzong geboren, obwohl sie bereits über dreißig Sommer zählte. Die Minister drängten schon seit langem darauf, dass in der Nachfolgerfrage endlich etwas voranginge. Deshalb hatten sie beschlossen, ein Testament aufzusetzen, in dem festgelegt wurde, dass Shinlans erster Sohn dem Kaiser Shenzong auf den Thron folgen solle, wenn Suan-Jen nicht seinen Sohn gebären würde.

Nun war Shinlans Neugeborenes tatsächlich ein Junge geworden und der ganze Hof freute sich über den Knaben Dan-Dan. Shinlan war sehr beliebt – beliebter als die Hauptfrau – und natürlich war die Freude verhalten, als man von deren Rückkehr erfuhr.

„Was will sie denn hier?“, jammerte Su-Ling, die sehr wohl wusste, welchen Plan die Ehrwürdige Hauptfrau hatte.

Shinlan, die sich bereits gut von den Strapazen der Geburt erholt hatte, lachte. „Das weißt du doch genau. Und das ist auch der Grund für deine Verstimmung. Wann hatte er das letzte Mal Zeit für dich?“

Su-Ling setzte ein betrübtes Gesicht auf. „Seit ihrer Ankunft erst zwei Mal.“

Shinlan gluckste. „Wenn man bedenkt, dass das nun schon zwei Wochen sind, dann kann ich nachvollziehen, dass das für dich ‚erst‘ zwei Mal sind. Wenn man Min-Tao fragen würde, sie würde das ganz anders sehen.“ Shinlan sah sich um. „Nicht wahr, meine Liebe?“, witzelte sie in meine Richtung.

Ich lächelte zurück. Seit er mir das Pferd geschenkt hatte und ich die damit verbundenen Freiheiten genoss, hatte ich an diese Angelegenheiten nicht mehr gedacht und war zu der Überzeugung gekommen, vielleicht auch ein oder zwei Mal zur Verfügung zu stehen, in Anbetracht dessen, was Shenzong mir ermöglicht hatte. Dass er dennoch nicht nach mir rief, erfreute mich umso mehr.

„Du wirst sehen“, fuhr Shinlan fort. „Sowie sie schwanger ist, wird sie wieder abreisen. Sie erträgt den alten Kanzler noch weniger als zuvor, seit sie glaubt, das mit Dan-Dan wäre seine Idee gewesen.“ Shinlan blickte auf den kleinen Kerl, der genüsslich an der Brust seiner Mutter trank und vollkommen unschuldig drein blickte. Was kümmerte ihn die Welt der Politik da draußen, solange er die ihm zustehende Milch bekam, gewickelt wurde und man ihn warm und weich wiegte.

 

Der Sommer ging vorüber und der Herbst stand vor der Tür. Ich ritt beinahe jeden Tag aus und durchquerte mittlerweile vollkommen alleine die Ländereien um den Palast. Die Wachen an den Toren hatten sich daran gewöhnt, dass Quo-Mis „Schwester“ alleine ritt, und ich war dankbar für diese erste Hilfestellung gewesen. Doch schon bald war mir klar, dass ich lieber alleine unterwegs war und Quo-Mi respektierte meinen Wunsch.

 

Es gab ein paar Häuser in der Gegend, deren Bewohner mir nach ein paar Monaten bekannt genug waren, so dass ich einzelne Worte mit ihnen wechselte. Besonders eine Familie am anderen Ende des Waldes war mir gegenüber sehr herzlich. Ich hatte eines Tages – es war besonders heiß gewesen – meinen Trinkvorrat aufgebraucht und war sehr durstig gewesen. Auch Ning konnte einen Eimer Wasser vertragen.

Als ich an dem Haus vorbeikam, stand die Bauersfrau davor und blickte auf, als ich angetrabt kam. Die Frau musste mir den Durst angesehen haben, denn sie winkte und bot mir einen Krug Wasser an: „Setzt Euch und gönnt Eurem Pferd eine Pause. Ihr seht beide sehr durstig aus.“

Dankend nahm ich die Einladung an und stieg ab. „In der Tat; ich bin sehr durstig.“

„Ihr wohnt in der Nähe?“, fragte die Frau und schaute sogleich etwas beschämt auf den Boden. Leicht stotternd fügte sie hinzu: „Verzeiht – ich – habe Euch schon – des Öfteren gesehen und ich dachte…“

„Ich komme aus der Stadt. Ich bin zuständig für dieses Pferd und sorge dafür, dass es genügend Bewegung bekommt. Mein Herr kommt selbst nicht mehr dazu.“ Ein Teil der Wahrheit war schließlich keine Lüge, fand ich.

Die Frau blickte etwas enttäuscht und ich fragte mich, warum wohl. Doch ich ging dem nicht weiter nach, trank den Krug Wasser leer, den man mir gereicht hatte und gab ihn dankend zurück. „So, jetzt muss ich wieder weiter. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Vielleicht komme ich darauf noch einmal zurück, wenn ich darf.“

Die Frau verneigte sich. „Jederzeit. Ihr seid immer herzlich willkommen.“

„Nein, sie ist es nicht“, wehte der Wind ihre Stimme in meine Richtung, als ich das Haus hinter mir gelassen hatte.

Wen hatte die Frau wohl erwartet, wunderte ich mich und gab Ning einen kräftigen Schenkeldruck. Schon kurz darauf ritten wir wie der Blitz über die herbstlichen Wiesen und waren wenig später am Palast angekommen.

 

Am kaiserlichen Hof herrschte mittlerweile wieder die gewohnte Ordnung, nachdem Suan-Jen sich aufs Neue eingerichtet hatte. Es waren bereits drei Vollmonde vergangen und noch immer sah man der Ehrwürdigen Hauptfrau keine Anzeichen einer Schwangerschaft an.

 

„Das kann ja auch nichts werden, wenn sie immer so verbissen durch die Gegend läuft“, sagte Su-Ling.

„Sei still. Es steht dir nicht zu, so über die Ehrwürdige Frau zu sprechen.“ Cheng-Si schickte einen strengen Blick in die Richtung der Frau, die sie gerade rügte. „Auch wenn sie nicht unser aller Freundschaft besitzt, so hat sie doch ein Recht auf Mitgefühl in ihrer Situation. Nicht jede Frau ist gesegnet mit einem gebärfreudigen Körper, wie Shinlan ihn besitzt.“

„Soll ich etwa ein schlechtes Gewissen deshalb bekommen?“ Shinlan wirkte ein wenig beleidigt.

Ich wusste, dass Shinlan lieber Shenzongs Hauptfrau geworden wäre und konnte ihre Reaktion gut verstehen.

„Nein, Shinlan. Du weißt genau, was ich damit sagen will.“ Cheng-Si legte eine gutmütige Miene auf. „Aber wir sind uns doch alle einig, dass wir ein leichteres Leben haben, wenn der Kaiser endlich einen legitimen Sohn hat.“

Alle nickten.

 

Der Winter zog ins Land und Suan-Jen blieb die gleiche dünne Frau, die sie war, als sie ein halbes Jahr zuvor in Dongjing angekommen war. Ihre Frustration machte sich immer deutlicher bemerkbar und die Diener klagten bereits hinter vorgehaltener Hand über ihre ungerechte und unberechenbare Art.

Ich entfloh der stickigen Atmosphäre der kalten Jahreszeit auf dem Rücken meines Pferdes. Selbst an besonders kalten Tagen ritt ich für längere Zeit aus und nutzte die wenigen Stunden des Tages, um an der frischen Luft zu sein. Der See an meinem Lieblingsplatz war eingefroren und bot ein wunderschönes Winterbild. Ich war damals, nach jenem seltsamen Ereignis im Sommer, einige Wochen lang gar nicht mehr zu dieser Stelle gekommen. Mittlerweile fühlte ich mich jedoch wieder sicher und ritt regelmäßig zum kleinen See. Seitdem hatte ich nichts Außergewöhnliches mehr bemerkt.

 

Jetzt, da Schnee lag, konnte ich die verschiedenen Spuren sehen, die die Tiere hinterließen, wenn sie am Teich vorbeikamen, und keiner der Abdrücke schien einem Raubtier zu gehören.

Die erste wärmere Luft, die der Frühling brachte, ließ den Schnee schmelzen und den Boden aufweichen. Dadurch hatte ich Schwierigkeiten, meine heimlichen Pfade zu reiten und musste auf den Hauptwegen bleiben. Eines Tages hörte ich einen Schrei. Er kam von weit her und klang nach einer Frau in Not. Ich trieb Ning an und ritt in die Richtung, aus der ich den Schrei vermutete. Wieder ertönte ein Hilferuf und nun konnte ich auch Männerstimmen hören. Hastig zog ich an den Zügeln und brachte mein Pferd zum Stehen. Sollte ich nachsehen, was dort geschah oder war das zu gefährlich? Ich war unerkannt geblieben während all der Zeit, die ich nun ausritt und wollte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Abgesehen davon konnte ich überhaupt nicht beweisen, wer ich war und bezweifelte, ob die Männer das interessieren würde.

Die Frau in der Ferne schrie erneut und eine zweite, ältere Frauenstimme kam dazu.

„Nein, bitte. Lasst sie mir“, war alles, was ich verstand. Ich sah mich um und erkannte, dass ich mich in der Nähe meiner sommerlichen Gastgeberin befand. War das am Ende die Frau, die mir Wasser gereicht hatte?

Entschlossen ritt ich los. Nach der Wegbiegung gelangte ich an den Ort, den ich vermutet hatte. Das Haus stand am Rande der Lichtung. Ich erkannte, dass es sich um Soldaten des Kaisers handelte, die an einer jungen Frau zerrten. Die andere – eine Ältere – schlug kraftlos auf den einen der Soldaten ein. Ich erkannte die Frau, die mich damals bewirtet hatte, als ich an der Hütte vorbeigekommen war.

Der zweite Soldat schlug gerade nach der Alten, als ich angeritten kam und nach ihm trat.

„Aufhören!“, schrie ich aufgebracht. In meiner Wut vergaß ich meine eigene Sicherheit. „Sofort!“

Der getroffene Mann erhob sich kopfschüttelnd und sah mich wütend an. „Frau, schleich dich! Du hast hier nichts zu suchen. Verschwinde, oder wir nehmen dich auch gleich mit!“

„Dazu habt ihr gar nicht das Recht! Ich bin Min-Tao, eine Frau des Kaisers. Lasst sofort das Mädchen los!“

Die Männer sahen mich verblüfft an und brachen nach einer kurzen Schreckenssekunde in schallendes Gelächter aus.

„Min-Tao? Du willst Min-Tao sein?“, feixte einer der Männer. „Eine Frau des Kaisers? Wir haben ja schon viel gehört von der Reitenden Kaiserin. Aber jedes Kind weiß doch, dass das ein Gespinst der Bauern ist. Der Kaiser würde seinen Frauen niemals gestatten, den Palast zu verlassen.“

Der andere Mann packte Nings Zügel und griff nach meinem Bein. So schnell konnte ich gar nicht schauen, wie ich vom Pferd gezogen wurde, und musste hilflos mit ansehen, wie man an meinen Gewändern zerrte.

„Sieh her, Weib. Deine Füße!“

„Was ist mit meinen Füßen?“, konterte ich trotzig.

„Sie sehen aus, wie die einer Bauersfrau!“

„Zeng! Lass die Frau in Ruhe.“ Der zweite Mann war blass geworden und klopfte seinem Kameraden auf den Rücken. „Zeng. Sieh doch!“

Jener Zeng erhob sich fluchend von mir und stellte sich neben seinen Kameraden. Dieser zeigte auf Nings Hinterlauf, und die beiden Männer starrten auf das kaiserliche Brandsiegel. Erschrocken blickten sie mir ins Gesicht. Doch der Schreck dauerte nur eine kurze Weile, denn Zeng hatte einen weiteren Gedanken. Er kam auf mich zugestürmt und riss an meinem Haar: „Du bist nicht nur eine Lügnerin, sondern auch noch eine Diebin. Woher hast du das Pferd?“

„Es gehört mir!“

„Das kann nicht sein. Das ist das Pferd des Kaisers.“

„Zeng, bitte. Vielleicht ist sie es ja doch.“ Der andere Soldat wirkte hilflos.

„Songji! Halt endlich dein Maul! Wir haben hier eine dreckige Lügnerin, die sich als eine der kaiserlichen Frauen ausgibt. Wir wissen doch beide, dass der Kaiser niemals – unter keinen Umständen – seinen Frauen gestattet, den Palast ohne ihn zu verlassen.“ Zeng sah böse auf mich herab. „Wir nehmen sie mit. Und die andere sowieso!“

Ich protestierte, hatte aber keine Kraft mich gegen die Männer zu wehren. Als wären wir leicht wie Federn, packten uns die beiden Männer wie Säcke über den Rücken ihrer Pferde. Dann ritten sie mit uns davon.

Panik stieg in mir auf. Niemand wusste, wo ich war – vor allem, niemand würde nach mir suchen. Wang Anshi hatte mir mehr als deutlich gemacht, dass Shenzong nach außen hin meine Freiheiten dementieren würde. Dass mir zudem noch die Isolation blühte, sollte ich tatsächlich gerettet werden, vergaß ich in meinem Schreck.

Die alte Frau blieb weinend zurück.

 

Die beiden Soldaten ritten nicht in Richtung Palast, soviel konnte ich erkennen.

„Wohin reiten wir?“, fragte ich.

„Das geht dich nichts an!“, herrschte Zeng, der mich bei sich aufs Pferd genommen hatte.

Nach einer Weile gelangten wir an eine Baracke, die von einem Holzzaun umrahmt war. Dahinter sah ich von Weitem schon viele andere Menschen und weitere Soldaten. Was geschah hier? Ich konnte mir keinen Reim auf diese Angelegenheit machen.

Als die Pferde das Gatter erreichten, wurde ein Tor geöffnet und die Tiere schritten durch die Öffnung. Im Inneren angekommen, stiegen die Männer ab und zerrten die uns grob von den Pferden.

„Wen hast du mitgebracht?“ Ein dritter Soldat war herangetreten und betrachtete mich und dann Ning, die nervös hin und her tänzelte.

„Da ist eine, die behauptet, die Herrin Min-Tao zu sein. Ist das zu fassen?“ Zeng lachte noch immer über den vermeintlichen Scherz. „Außerdem ist sie eine Diebin.“

„Woher willst du das wissen?“ Songji machte sich noch immer Sorgen und hatte offenbar kein gutes Gefühl dabei, sich in meiner Nähe aufzuhalten. Er wich mir aus, so oft er konnte. „Woher willst du wissen, dass sie es nicht wirklich ist?“

Zeng blickte seinen Kameraden abschätzig an. „Ich habe es dir doch schon ein paar Mal gesagt. Noch nie hat eine der verbotenen Frauen den Palast verlassen. Schon gar nicht alleine.“

„Diese hier sieht aber nicht aus wie eine Bauersfrau.“ Der dritte Soldat, Jan-He, war ebenfalls skeptisch.

„Sieh´ doch mal ihre Füße an!“ Entnervt wies Zeng auf meine Füße. „Sehen so edle Frauen aus?“

„Ich habe gehört, dass Min-Tao tatsächlich normale Füße haben soll. Und es geht auch das Gerücht, dass eine der Frauen regelmäßig zu Pferd den Palast verlässt.“ Jan-He gab Zeng einen leichten Schlag auf die Schulter. „Hast du davon noch nichts gehört?“

„Das ist doch Weibergewäsch. Niemand hat je diese Frau zu Gesicht bekommen, die da in der Gegend herumreitet.“ Dennoch sah mich Zeng beunruhigt an. Ich sah ihm förmlich an, wie er überlegte, was wäre, wenn die anderen beiden doch Recht behalten sollten.

Er musterte mich und ich sah ihn trotzig an. Anders als die Frauen der Bauern wich ich seinem Blick nicht aus. Eines war klar: Mit mir hatte er eine selbstbewusste Frau vor sich, die sich nichts gefallen lassen würde. Und wenn er mich nur ein wenig genauer betrachten würde, würde ihm meine Haut auffallen. Wobei ich, so fiel mir ein, von der Arbeit mit den Pferden ziemliche Schwielen an den Händen bekommen hatte. Vielleicht sollte er mich doch nicht so genau ansehen; ich bildete Fäuste und steckte sie hinter den Rücken.

Dieser kleine Anflug von Zweifel genügte meinem Entführer offenbar, sich nun doch sicher zu fühlen. Er griff nach meiner Hand – genau das, was ich zu vermeiden versucht hatte.

„Weich wie Seide! Nur ein wenig Hornhaut von den Zügeln. Du scheinst es nicht gewohnt zu sein, zu arbeiten.“

„Das brauche ich auch nicht!“, blaffte ich zurück. „Ich sage die Wahrheit und Ihr werdet Schwierigkeiten bekommen, wenn all dies heraus kommt. Was ist das hier für eine Versammlung? Was sind das für Menschen? Ich habe nicht den Eindruck, als seien sie freiwillig hier!“

Diesem Zeng ging allmählich die Luft aus. Ihm schwante wohl, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, wusste aber offenbar nicht, wie er aus dieser Sache wieder herauskommen sollte – und zwar lebend. Denn wenn ich tatsächlich eine kaiserliche Frau war, war er ein toter Mann.

Was dieser Kerl nicht bemerkte, war meine Sorge, es könnte herauskommen, dass ich auf keinerlei Unterstützung hoffen konnte. Wang Anshi wäre es doch ganz Recht, wenn ich auf diese Weise verschwand.

Wie sollte ich hier wieder heraus kommen?

 

Die Sonne war untergegangen und es wurde kalt. Die Baracken innerhalb des eingezäunten Feldes hatten nicht genug Platz für die vielen Menschen, die sich dort aufhielten und so drängten sich die Insassen aneinander, als es Nacht wurde. Das hatte zwar den Vorteil, dass man nicht so sehr fror. Der Nachteil war jedoch, dass das Lager fast ausschließlich Männer enthielt und nur fünf Frauen. Wir konnten uns zwar gegenseitig Wärme spenden, dennoch froren wir entsetzlich. Ein paar der Männer hatten ihre Umhänge abgenommen und uns gegeben, doch sie hatten selbst kaum genug am Leib und ich hatte ein schlechtes Gewissen, die Umhänge anzunehmen.

Lieber Himmel, hilf uns, schickte ich in die Nacht. Jemand musste kommen und uns finden!