20 Abzug in den Westen
Qin, Ende des Jahres 1074
Der Winter mit seiner Dunkelheit und Kälte war auf unserer Seite und Bao verbrachte fast jede vierte Nacht bei mir, ohne dass wir jemals gestört wurden. Sich bei Tag zu begegnen war unmöglich. Hier war alles viel kleiner und nicht so weitläufig wie in Dongjing; hinzu kam, dass die Ehrwürdige Frau mit all ihrem Gefolge nach Qin gekommen war. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, dass es Suan-Jen ein leichtes gewesen war, mich aus dem Verborgenen beobachten zu lassen und ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, unter wessen Beobachtung ich außerhalb meiner Gemächer stand. Nein, die Gefahr, entdeckt zu werden, war uns beiden zu groß und so blieb es bei den Nächten.
Mit Beginn des neuen Jahres kam Bewegung in das Heer. Von Bao wusste ich, dass Shenzong für die ersten Frühlingstage den Abmarsch des Heeres plante. Bald würde es zu einer Konfrontation mit Xia kommen. Bao hatte täglich strategische Besprechungen mit Wang Anshi und ich wusste, er würde mich bald verlassen müssen. Allein der Gedanke daran nahm mir den Atem.
„In wenigen Tagen werden wir abmarschieren!“, hatte er eines Abends gesagt und freundlicherweise damit gewartet, bis ich nach unserer Vereinigung erschöpft neben ihm lag.
„Hmpf“, brummte ich vor mich hin und war mit den Gedanken noch an einer Stelle unterhalb seines Nabels.
„Wir werden uns eine Zeit lang nicht sehen können!“
Da hatte ich es begriffen und öffnete die Augen, hielt den Atem an und flehte leise: „Nimm mich mit!“ Ich wusste, dass ich ihn nicht bitten konnte zu bleiben.
„Du weißt, dass das nicht geht!“ Nach einigem Zögern schob er murmelnd noch ein paar Worte nach. „Selbst wenn es ginge, wollte ich es nicht!“
„Wieso?“, fragte ich halb empört, halb erstaunt.
Bao schwieg zunächst.
„Den Bao, den du kennst, kann und will ich nicht mischen mit dem, der Soldat ist und in den Krieg ziehen muss“, flüsterte er schließlich. Er drehte sich mir zu und strich mir übers Kinn. „Seit ich jung bin, habe ich mein Leben den Kampfkünsten und allem, was dahinter steht, gewidmet. Aber erst durch dich…“, er streichelte meine Wange, „…bin ich vollkommen. Hier darf ich Gefühle zeigen, mich fallen lassen, verletzlich sein. Das kann ich mir da draußen nicht erlauben, Min-Tao.“ Er sah mich eindringlich an. „Was aber noch viel schlimmer ist: Jetzt habe ich etwas zu verlieren. Wenn ich dich mitnähme und dir geschehe etwas… Ich weiß nicht, wozu ich fähig wäre.“ Er hielt inne. „Darüber hinaus“, fuhr er fort, „scheinst du zu vergessen, dass du eine Frau des Kaisers bist. Das macht alles nur noch komplizierter.“
Zärtlich nahm ich seine Hand und führte sie an die Stelle, unter der mein Herz wild pochte.
„Meine Liebe aber gehört dir“, sagte ich.
***
Bao lag noch wach, hielt die schlafende Min-Tao in seinen Armen und starrte in die Dunkelheit. Wie sollte es weiter gehen? Er würde in den Krieg ziehen und er hoffte, dass er heil wiederkommen würde. Würde dieses Versteckspiel unverändert weiterlaufen können? Oder würde er seine Dienste unter Shenzong aufgeben? Ob er sie mitnehmen könnte?
„Das ist vollkommener Blödsinn!“, schalt ihn seine Vernunft. „Du kannst nicht einfach eine der verbotenen Frauen mitnehmen und meinen, du hättest mit ihr ein ungestörtes und glückliches Leben!“ Fast war es, als lachte ihn seine Vernunft aus und der Spott traf ihn im Herzen.
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben!“, schrie Bao in Gedanken.
„Nicht in diesem Leben“, ertönte es tief in seinem Inneren.
Doch Bao wollte das nicht hören.
***
Der Abmarsch kam für mich viel zu früh. Bereits eine Woche später saß ich mit den anderen Frauen vor dem Thronsaal und sah zu, wie der Kaiser die Truppen in den Westen verabschiedete. Shenzong hatte seinen Thron hinaus ins Freie bringen lassen. Er war in seinen roten, gold-umsäumten Umhang gekleidet und hatte wieder seinen schwarzen Hut mit dem seitlichen Gestänge aufgesetzt. Auch diesmal sah er in meinen Augen ziemlich lächerlich aus, doch mir war nicht nach Lachen zu Mute. Heute war der Tag, an dem ich meinen Geliebten verlor.
Im Gegensatz zum Hofstaat glaubte ich nicht an die Geschichten, Bao sei unverwundbar. Ich hatte von verschiedenen Gerüchten gehört, die man sich erzählte. Für mich glorifizierten die Soldaten ihren Anführer in einer Weise, die mit der Realität nicht viel gemein haben konnte. Da gab es Geschichten, Bao wäre verprügelt worden, ohne einen einzigen blauen Flecken davon zu tragen; Gerüchte, er hätte sich noch nie bei den Übungen verletzt; es gab sogar Geschichten, er könne einen Angreifer – ohne ihn zu berühren – zu Fall bringen.
Für mich war die Welt der Soldaten und des Kämpfens sehr fremd. Schon immer war ich der Meinung gewesen, dass man mit der richtigen Politik keine Kriege benötigte. Vater hatte das im Kleinen sehr anschaulich demonstriert; seine Bediensteten waren, soweit ich feststellen konnte, die glücklichsten, die ich je getroffen hatte. Und es hatte nie größere Streitereien mit den Nachbarn gegeben. Von Vater wusste ich aber auch, dass es manchmal nötig war, Gewalt anzuwenden, wenn man die Menschen vor etwas Schrecklichem bewahren wollte. Xia, so hatte man immer wieder gehört, stelle eine Bedrohung für das chinesische Volk dar, denn es sei ein Land voller Wilder, die immer wieder Rechte an fremdem Land beanspruchten und wahrscheinlich bald nicht mehr gewillt seien, die hohen Tributzahlungen zu leisten. So hatte es jedenfalls Cheng-Si wiedergegeben.
Bao selbst äußerte sich selten dazu; im Grunde genommen nur dann, wenn ich danach fragte; und ich fragte nicht oft. Ich wusste, er wollte sich erst vor Ort eine Meinung bilden und dann nach seinem Gewissen handeln. Manchmal fragte ich mich, was geschehen würde, wenn sich Baos Gewissen nicht mit Shenzongs Befehlen vereinbaren ließe.
Etwas blendete mich und holte mich aus meiner Gedankenwelt. Bao hatte ein goldenes Schwert gezogen und hielt es in seiner Hand. Vorsichtig betrachtete ich ihn von oben bis unten. Dieser Anblick hatte so gar nichts mit meinem Bao zu tun. Vielmehr war es, als stünde dort ein fremder Mann, auch wenn der Körper der gleiche war, der nachts neben mir lag.
Das Haar war zu einem Zopf gebunden, der am Hinterkopf hochgesteckt war. Seine Gesichtszüge wirkten hart und konzentriert. Der Oberkörper war nackt und ich konnte das Muskelspiel gut erkennen. Er hatte eine makellose Haut ohne Schrammen, Narben oder ähnlichem. So, wie er da stand, schien es tatsächlich, als könne man ihm nichts anhaben.
Bao hatte einen bodenlangen, schwarzen Rock an, der durch einen breiten schwarzen Seidengürtel festgehalten wurde. Der Gürtel war auf der rechten Seite gebunden und seine Enden reichten ebenfalls bis zum Boden. Bei manchen Bewegungen konnte man seine Zehenspitzen erkennen, anscheinend war er barfuß.
In seiner rechten Hand hielt er das dünne, gebogene Schwert, das er gezogen hatte. Die Sonnenstrahlen hatten sich im Metall gefangen und davon war ich aus meinen Gedanken geschreckt. Jetzt hielt Bao das Schwert mit zur Seite gestrecktem Arm schräg nach unten. Er stand am Rande der Treppe und blickte hinunter in den Hof. Dort hatten sich seine Soldaten formiert. Sie bildeten vier Blöcke von je hundert Männern, die jeweils in Reihen zu zehnt standen. Sie waren offensichtlich die Eliteeinheit der kaiserlichen Armee – die Soldaten, die von Bao besonders intensiv trainiert worden waren.
Hinter den vierhundert Männern gruppierten sich Soldaten zu Pferd. Ich zählte zwei Reihen zu je fünfzig Reitern. Das wiederum mussten die Anführer des restlichen Kaiserlichen Heeres sein, das auf der großen Wiese vor dem Palast Aufstellung genommen hatte. Es waren unsagbar viele Soldaten, die der Kaiser an diesem Tag in den Westen entsandte.
Bao hob sein Schwert nun langsam in die Höhe und als er mit der Spitze des Schwertes in den Himmel stieß, ertönte ein lauter Schlachtruf unter den Soldaten. Es war ohrenbetäubend und wir Frauen zuckten zusammen.
Bao drehte sich zu Shenzong, legte das Schwert auf den Boden und wartete auf ein Zeichen des Kaisers, an ihn herantreten zu dürfen. Als es ihm gewährt worden war und Bao in etwa fünfzehn Schritte entfernt zu Seiner Hoheit stand, setzte dieser zu einer Ansprache an.
„Bao Sen-Ho“, hallten Shenzongs Worte über den Palast. „In den letzten Jahren hast du herausragende Arbeit geleistet. Du hast nicht nur mein Heer geformt, sondern auch eine vortreffliche Anlage bauen lassen. Von hier aus habe ich einen guten Überblick über die Befreiung der Menschen in Xia. Ich wünsche dir alle Unterstützung, die dich zu einem ehrenhaften Sieg bringt.“
Zwei Diener traten aus dem Hintergrund hervor und stellten vorbereitete Tischchen mit Räucherstäbchen an die Seite von Bao. Die Stäbchen wurden entzündet und ein heller, kräftig-aromatischer Rauch stieg allen in die Nase. Dieses Ritual wurde durchgeführt, um den Geist zu reinigen und die Sinne für das Wesentliche zu schärfen.
Ich konnte sehen, wie Bao die Augen schloss und tief ein- und ausatmete.
„Möge mir das Eine zur Seite stehen in diesen Stunden und meinen Geist und Körper in Einklang bringen“, betete er mit seiner tiefen Stimme.
„Geht nun und bringt den Sieg.“ Shenzong winkte ab.
Ich knetete meine Hände. Wenn er doch nur nach Frieden verlangen würde und nicht nach Sieg, dachte ich. Ich beobachtete, wie Bao sich wieder seinem Heer zuwandte, einen Brustpanzer anlegte und die Treppen langsam hinabstieg. Unten angekommen wartete bereits ein Pferd, welches er bestieg. Er ritt an seinen Einheiten entlang und verließ schließlich, gefolgt von seinen Männern, den Hof.
Dann war er fort.
Wir Frauen hatten uns erhoben und waren auf dem Weg in unsere Räumlichkeiten. Shenzong hatte sich ebenfalls zurückgezogen mit Wang Anshi und war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar. Shenzong befand sich nun im Krieg – nur wusste Xia davon noch nichts.
Mir war nach Baos Abzug entsetzlich schlecht. Ich hatte diese fürchterliche Übelkeit unterdrücken können, bis ich in meinen Räumen war. Dort hatte ich nach dem nächstbesten Behälter gegriffen, mich übergeben und mich danach weinend auf meine Schlafstelle gelegt.
Er war gegangen und ich wusste nicht, ob ich ihn jemals wieder sehen würde.