10
Auch an diesem Mittwochmorgen umgab sie die süße Vorahnung des Frühlings, der bald kommen wollte. Heute würde sie, da war sie sich sicher, den Fall Platzer zu Ende bringen. Diese Zuversicht, vermengt mit der prickelnden Luft, stimmte sie heiter.
Als sie die Eichendorffstraße auf der Suche nach einem Parkplatz entlangfuhr, sah sie den Polizeiwagen direkt vor dem Heim stehen. Im eingeschränkten Halteverbot. Das mussten die zwei Kollegen von der Inspektion Ost sein, die Heinrich ihrer Weisung entsprechend einbestellt hatte. Sie überlegte noch, ob sie die Kollegen auf einen legaleren Parkplatz umdirigieren sollte, entschied sich dann aber dagegen. Manchmal konnte einem so ein silbern-grünes Auto von Nutzen sein. Genau wie die Dienstmontur ihrer Begleiterin – Frau Brunner war ihrer gestrigen Bitte nachgekommen und in Uniform erschienen. Sie wendete und stellte ihren ebenfalls silbern-grünen BMW direkt dahinter.
»Guten Morgen, Frau Steiner«, begrüßte sie ein gedrungener Polizist mit kurzem Bürstenhaarschnitt. Dieses ungesund rote Gesicht hatte sie doch schon einmal gesehen … Neben ihm stand eine blutjunge Frau mit blondem Pferdeschwanz. Nach einer Weile konnte sie den Bürstenhaarschnitt zuordnen – dieser Kollege hatte vor einer Woche vor der Platzer’schen Wohnung Wache gestanden.
»Herr Bartels hat uns nicht gesagt, worin unser Einsatz hier besteht. Was erwarten Sie von uns, Frau Steiner?«
»Zunächst einmal: Präsenz zeigen. Wenn wir Sie brauchen, wird Frau Brunner Sie zu dieser Befragung hinzuziehen.«
Auf seinen fragenden Blick fügte sie hinzu: »Genaueres kann ich Ihnen leider im Moment auch nicht sagen. Das wird die Befragung ergeben.«
Dann drehte sie sich um und betrat die Lobby des Seniorenstifts. Am Tresen blieb sie stehen und nickte Frau Striegel zu, die sofort von ihrem Stuhl aufsprang und sich ihr mit besorgtem Gesicht näherte.
»Guten Morgen, Frau Steiner. Sie wollen doch sicher mit mir sprechen?« Es klang wie »Nicht Sie schon wieder!«.
»Nein, ich müsste noch einmal mit Herrn Schneider-Sörgel reden. Es gibt da noch ein paar Unstimmigkeiten.«
»Dann bitte ich ihn herunter. Sie können sich gerne in unserer Cafeteria unterhalten.«
»Danke, aber wir gehen lieber nach oben.«
Als sie den Treppenabsatz erreicht hatten, hörte sie im Hintergrund Frau Striegel sagen: »Frau Steiner wird Sie jetzt gleich aufsuchen, Herr Schneider-Sörgel. Nur dass Sie Bescheid wissen und sich darauf vorbereiten können.«
Diesmal erwartete sie der Künstler nicht an seiner Appartementtür. Sie klopfte und musste eine Weile warten, bis sich die Tür öffnete. Schneider-Sörgel gab sich überrascht, als er sie sah, zu überrascht für die telefonische Ankündigung durch die Verwaltungsleiterin. Und er sagte, was Frau Striegel sich gedacht, aber nicht auszusprechen gewagt hatte: »Sie schon wieder!«
»Ja, ich schon wieder, Herr Schneider-Sörgel. Und das hier«, sie deutete auf die neben ihr stehende Anwärterin, »ist meine Kollegin Frau Brunner. Wir dürfen doch hereinkommen.« Es sollte eine Frage sein, aber es klang wie eine Feststellung.
»Nein.«
Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an ihm vorbei in den Raum sehen zu können.
»Ach schade, Ihre Staffelei ist ja heute leer. Ich hätte meiner Kollegin gern das hübsche, fast fertige Ölgemälde von meinem letzten Besuch bei Ihnen gezeigt. Wo steht es denn jetzt?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Da war kein Bild auf der Staffelei.«
»Doch, Herr Schneider-Sörgel. Da war ein Bild. Und zwar«, sie langte in ihre Umhängetasche, zog die kleine gerahmte Fotografie heraus, die sie gestern in der Waltherstraße hatte mitgehen lassen, und hielt sie ihm hin, »dieses hier.«
In Schneider-Sörgels Gesicht zeigte sich für einen kurzen Moment, in einem kaum wahrnehmbaren Heben und Senken der Augenlider, ein immenses Erstaunen. Doch schon nach einer Sekunde hatte er sich wieder in der Gewalt. Das beherrschte er gut, dieses von Verdruss und Übellaunigkeit gekennzeichnete Mienenspiel, dem jetzt sogar ein klein wenig Hochmut beigemengt war.
Sie überlegte. Ob er in seiner Vorsorge so weit gegangen war, dieses immerhin fast fertige Gemälde von seinem Urenkel zu vernichten? Nein, das traute sie dem Künstler nicht zu. Schon seiner Eitelkeit wegen nicht.
»Entweder Sie übergeben uns dieses Gemälde augenblicklich, oder Frau Brunner wird zusammen mit den beiden Kollegen, die vor dem Haus warten, Ihr Appartement danach durchsuchen.«
»Haben Sie denn überhaupt einen Hausdurchsuchungsbefehl dafür? Ich kenne meine Rechte.«
»Bei Gefahr im Verzug brauche ich keinen Durchsuchungsbeschluss. Und ab sofort ist Gefahr im Verzug. Also, was ist? Zeigen Sie es uns freiwillig, oder müssen wir danach suchen?«
Er schüttelte den Kopf und wollte ihnen schon die Tür vor der Nase zuschlagen, da stellte Eva Brunner schnell den Fuß in den Rahmen. Während die Anwärterin Brunner mit ihrem Handy telefonierte, trat die Hauptkommissarin Steiner in das Appartement und sah sich aufmerksam um.
Eine Minute später standen die zwei Polizisten ebenfalls in dem von der Sonne durchfluteten Appartement. Schließlich setzte sich Wilhelm Schneider-Sörgel an den kleinen Tisch auf einen seiner unbequemen beigefarbenen Stühle und sagte: »Es ist hinter dem Kleiderschrank nebenan.« Er wies auf die rechte Tür.
Eva Brunner ging als Erste in das aufgeräumte Schlafzimmer, die beiden Schutzpolizisten folgten ihr. Sie hörte ein knarzendes Geräusch, dann ein Quietschen. Als die drei Uniformträger wieder zurückkehrten, trugen sie das Gemälde bei sich.
»So«, sagte Paula und gab sich Mühe, dabei amtlich und wichtig zugleich zu klingen, »dieses Bild ist hiermit als Beweismaterial beschlagnahmt.« Sie überreichte der Anwärterin die Fotografie. »Bitte, Frau Brunner, veranlassen Sie die Überführung dieser beiden Dokumente ins Polizeipräsidium.«
Obwohl Eva Brunner genau wie sie selbst wusste, dass die zwei Bilder vor keinem Gericht dieser Welt irgendeine Bedeutung als »Beweismaterial« in diesem Mordfall haben würden, spielte sie ihre Rolle in dieser Farce bühnenreif. Sie nickte kurz mit dem Kopf und wies die beiden Polizisten an, ihr nach draußen zu folgen.
Daraufhin setzte sich Paula ungefragt zu Schneider-Sörgel an den kleinen runden Tisch, legte Stift und Notizblock vor sich und sah dem Künstler in die Augen. Nein, ein banges Gefühl oder gar Furcht konnte sie auch jetzt darin nicht erkennen. Schneider-Sörgel schien sich seiner Sache noch immer sehr sicher zu sein.
»Was hatten Sie mit diesem Bild eigentlich vor? Wollten Sie es für sich behalten, oder sollte es ein Geschenk für Ihre Tochter werden?«
Sie erhielt keine Antwort.
»Wissen Sie, das verstehe ich nicht. Es ist doch nicht strafbar, ein Bild von seinem Urenkel zu zeichnen. Mit dieser völlig überflüssigen Geheimnistuerei haben Sie sich keinen Gefallen getan. Damit, und nicht mit der Zeichnung selbst, haben Sie sich erst verdächtig gemacht. Warum sollte das niemand wissen, dass Sie der Vater von Melitta Ruckdäschel sind? Das ist doch nichts, was man verbergen müsste. Es sei denn …«
Das Ende des Satzes ließ sie unausgesprochen. Und auch die darin versteckte Verdächtigung, die alles und nichts bedeuten konnte. Die so vage und schwammig war und damit exakt ihrem Kenntnisstand, wie tief Schneider-Sörgel in diesem Doppelmord steckte, entsprach. Sie hoffte, dass eine so ungeheuerliche Unterstellung ihn zum Reden bringen würde.
Doch Schneider-Sörgel blieb seiner Taktik des beharrlichen Schweigens treu. Stumm, aufrecht und unbeeindruckt musterte er sie. Erst als sie eine Spur Belustigung in seinem Gesicht zu erkennen glaubte, konfrontierte sie ihn mit dem einzigen Unterpfand, das ihr in dieser Sache noch zur Verfügung stand.
»Na, dann lassen wir das vorerst. Etwas anderes: Warum haben Sie mich das letzte Mal angelogen? Und mir diese Räubergeschichte von der gestohlenen Kreditkarte aufgetischt? Wir haben nämlich zwischenzeitlich Ihre Konten überprüft. Sie waren zwar im Krankenhaus, aber zu dem fraglichen Zeitpunkt wurde kein einziger Cent von Ihren Konten abgehoben.«
Schneider-Sörgel schloss einen Moment die Augen und strich sich mit einer schnellen Handbewegung über die Stirn. Dann richtete er den Blick wieder auf sie, sagte aber nichts.
Also fuhr Paula fort. »Im Übrigen glaube ich Ihnen auch nicht, dass Frau Platzer Ihnen diesen Brillantring gestohlen hat. Wissen Sie, was ich glaube? Dass Sie den Brillanten Ihrer Tochter geschenkt haben, und die hat ihn sich als Ohrstecker umarbeiten lassen. Aber das ist jetzt zweitrangig. Mit dem vorgeblichen Gelddiebstahl haben Sie sich auf jeden Fall gleich zweierlei Vergehen strafbar gemacht. Zum einen der Rufschädigung von Frau Platzer post mortem und zum anderen der vorsätzlichen Falschaussage gegenüber der Polizei. Und das kann ich Ihnen mit Gewissheit sagen: Der Grund für diese offensichtliche Lüge interessiert nicht nur mich. Auch das Gericht wird wissen wollen, was es damit auf sich hat, warum Sie eine Ermittlungsbeamtin anlügen. Und seine Schlüsse daraus ziehen.«
Sie wartete, ob der Verweis auf eine strafbare Handlung sein nach wie vor beharrliches Schweigen brechen würde. Damit hatte sie all ihre Trümpfe auf den Tisch gelegt. Wenn er jetzt nicht reden würde, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehen.
Als Schneider-Sörgel endlich den Mund aufmachte, lächelte er sie vielsagend und überlegen an.
»Ach, Frau Steiner, in meinem Alter kann man schon mal was durcheinanderbringen. Das Gedächtnis funktioniert nicht mehr so gut wie früher. Es ist möglich, dass ich mich da getäuscht habe. Vielleicht fiel dieser Diebstahl in eine andere Zeit als in die meines Krankenhausaufenthaltes, vielleicht habe ich Frau Platzer mit einer anderen Pflegerin verwechselt – oder einem männlichen Pfleger –, vielleicht gab es überhaupt keinen Diebstahl, und ich hab mir das in meiner beginnenden geistigen Verwirrung nur eingebildet? Wer weiß.«
Sie war enttäuscht und wütend. Über sich, aber auch über diesen beherrschten, smarten alten Mann. Und immer, wenn sie sich von einem Verdächtigen derart provoziert fühlte wie momentan, geriet sie ins Schwadronieren, wurde sie unkontrolliert und schwatzhaft. Und auch ein wenig aggressiv.
»Ich frage mich, wie das für Ihre Tochter war, so ohne Vater aufzuwachsen, anfangs zumindest. Schön bestimmt nicht. Aber irgendwann haben Sie ja offenbar zueinandergefunden. Ich denke mir, jetzt sind Sie froh, doch noch so etwas wie eine Familie zu haben. Im Alter ist so was ja mitunter ganz praktisch. Man ist dann nicht so allein, gell? Na, die nächste Zeit müssen Sie ja wohl oder übel auf Frau Ruckdäschel verzichten. Wir haben sie nämlich verhaftet. Und ob der Kontakt dann noch über Ihre Enkeltochter und den Urenkel aufrechterhalten bleibt, wer weiß? Das ist ja nur die zweite und dritte Linie. Und wenn Ihre Tochter nach langer Zeit aus dem Gefängnis kommt, dann kann es durchaus sein, dass Sie das nicht mehr miterleben.«
Jetzt war sie zu weit gegangen. Sie wollte ihn verletzen, das ja, aber nicht auf diese schäbige Art und Weise, die sich ausschließlich auf sein Alter bezog. Sie holte kurz Luft.
»Was mich noch interessieren würde, ist, ob Sie bei den Treffen von Frau Platzer mit ihrer Halbschwester dabei waren. Aber das glaube ich nicht. Denn dann hätten Sie Frau Platzer von einer anderen Seite erlebt, von einer ganz privaten und vielleicht liebenswürdigen. Denn ich bin überzeugt, bei diesen Zusammenkünften mit Ihrer Tochter zeigte sie sich …«
Es klopfte an der Tür. Da Schneider-Sörgel keine Anstalten machte aufzustehen, musste sie öffnen gehen. Es war Heinrich.
»Kommst du bitte mal. Ich muss dir was sagen.«
Sie trat auf den Gang, zog die Tür bis auf einen schmalen Spalt hinter sich zu und sah ihn fragend an.
»Dein Tipp von heute früh, Frieders Aussage in Bezug auf das Thalliumsulfat abzugleichen, war klasse. Das hat sich voll rentiert, nochmals bei der chemischen Fakultät von der Uni Erlangen nachzuhaken. Stell dir vor, was ich herausgefunden habe. Raten!« Es war ihm anzusehen, dass er innerlich jubilierte.
»Nein, bitte nicht. Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für solche Spielchen. Du erzählst mir augenblicklich, was du weißt, und das so kurz wie möglich.«
»Du kommst wohl mit deinem Verdächtigen da drin nicht so recht voran?«
Sie antwortete nicht, sah ihn nur aus zusammengekniffenen Augen an.
»Mit dem, was ich dir jetzt sage, kannst du ihn sofort verhaften lassen. Und zwar ohne jeden richterlichen Haftbeschluss.«
»Heinrich, ich bitte dich …«
»Also gut. Ich rufe also in Erlangen an und habe auch sofort genau den richtigen Mann am Telefon. Dr. Heinz Hetz, seines Zeichens Assistent von irgend so einem Professor. Den Namen habe ich hier aufgeschrieben. Einen Augenblick.« Er kramte in seiner Jackentasche.
Sie legte ihm gereizt die Hand auf den Unterarm. »Uninteressant. Weiter!«
»Auf jeden Fall sagte dieser Dr. Hetz, dass sie vor zwei Monaten einen Anruf von einer älteren Dame bekommen haben. Deren Mann war Chemiker und hatte sich im Keller ein Hobbylabor eingerichtet. Mit allen Schikanen. Eben auch mit diesem Thalliumsulfat. Nachdem der Mann, also dieser Chemiker, gestorben war, hatte seine Frau das Labor im Keller einfach so gelassen, wie es war. Irgendwann ist die Frau ins Altersheim gegangen, und ihre Kinder sind in das Haus, das ihr nach wie vor gehörte, gezogen. Willst du wissen, wann das war?«
»Nein. Weiter!«
»Okay. Vor einem halben Jahr sind die Kinder, die jetzt auch schon gut in den Sechzigern sind, ausgezogen, in eine kleinere Wohnung. So weit, so gut. Das alte Haus hat die Chemiker-Witwe dann an einen Immobilienmakler gegeben, zum Verkauf. Der aber sagte zu ihr: Bevor er das Objekt irgendwelchen Interessenten zeigen könne, müsse das Labor im Keller geräumt werden. Also ruft sie unseren Dr. Hetz in Erlangen an, und der und seine Mitarbeiter kümmern sich um diese Räumung.«
Sie sah die Begeisterung in seinem Gesicht, konnte sich aber auf diese wirre Geschichte keinen Reim machen. Vor allem keinen, der mit ihrem Tatverdächtigen etwas zu tun hatte.
Heinrich schien ihre wachsende Ungeduld zu spüren, denn er fuhr schnell fort. »Das klingt für dich vielleicht momentan alles recht harmlos …«
»Ja, das tut es wirklich«, fiel sie ihm ins Wort. »Und auch sehr verworren.«
»Geduld, Geduld. Jetzt kommt es. Ich rufe also diese alte Dame an. Und rat mal, wo ich die gefunden habe?«
»Ich werde nicht raten, du wirst es mir augenblicklich sagen, zum Donnerwetter!«
»Genau hier im Haus, im Philipp-Melanchthon-Heim.«
»Ach.«
»Ja, ach. Frau Lindner, so heißt die Frau, achtundachtzig und immer noch topfit im Kopf, und ich unterhalten uns also eine Zeit lang und dabei stellt sich heraus, dass bevor Hetz und seine Leute dieses Kellerlabor geräumt haben, noch jemand anderer sein Interesse daran bekundet hat. Nämlich unser …«
»Schneider-Sörgel«, ergänzte sie.
»So ist es. Er hatte zu Frau Lindner gesagt, dass er als Künstler oft mit Chemikalien arbeiten müsse und ob er sich dieses Labor mal ansehen dürfe, bevor die Uni-Leute kämen. Denn manches, was er dringend bräuchte, gerade zum Fixieren, gäbe es auf dem Markt nicht mehr. Frau Lindner hat ihm das geglaubt und ist mit ihm zu ihrem Haus gefahren, wo er sich mit allerhand Sachen eingedeckt hat. Zwei volle Plastiktüten hat er aus dem Labor getragen. Natürlich hat die Lindner überhaupt keinen Verdacht dabei geschöpft, sie hat ihn einfach gewähren lassen. Und soll ich dir was sagen?«
Wieder eine von seinen rhetorischen Fragen, die er sich umgehend selbst beantwortete. »Das mit dem Fixieren war vorgeschoben. Der wollte aus dem Keller irgendein Gift mitgehen lassen. Das war doch für den eine einmalige Chance, an das Zeug heranzukommen. Also können wir von Mord mit Vorsatz ausgehen. Oder siehst du das anders?«
»Das sehe ich genau wie du, Heinrich. Genau so.«
»Nimmst du ihn gleich mit?«
Sie überlegte. »Jetzt gleich noch nicht. Wir machen was anderes, was viel Besseres. Schau doch mal, ob du diese Frau Lindner hier auftreibst. Und wenn du sie gefunden hast, komm mit ihr hier rauf. Sie braucht auch gar nichts zu sagen. Ich bin mir sicher, wenn er sie in deiner Begleitung sieht, weiß er, wie er dran ist. Dumm ist der nämlich nicht. Im Gegenteil, das ist ein ganz Schlauer.«
Dann öffnete sie die Tür und ging zu ihrem Tatverdächtigen zurück, setzte sich lächelnd neben ihn und wartete.
Nach einer Weile, die ihr unendlich lange vorkam, die in Wirklichkeit aber nur ein paar Minuten dauerte, klopfte es erneut an der Tür.
»Das ist diesmal nicht für mich, Herr Schneider-Sörgel. Das ist für Sie.« Sie nickte ihm auffordernd zu.
Ohne sie mit einem Blick zu würdigen, ging er zur Tür, öffnete sie schwungvoll und – blieb starr vor Schreck stehen.
Sie dagegen lächelte Frau Lindner freundlich an. Es war die alterslose zierliche Dame mit der Perlenkette über dem beigefarbenen Rollkragenpullover, die bei ihrem ersten Besuch im Seniorenstift neben ihr und der Verwaltungsleiterin Striegel auf der Terrasse Platz genommen hatte.
»Vielen Dank, Frau Lindner, dass Sie so rasch kommen konnten. Heinrich, begleitest du unsere Zeugin bitte wieder zurück auf ihr Zimmer?«
»Das ist nett von Ihnen. Aber mich muss niemand auf mein Zimmer begleiten. Ich bin zwar alt, aber nicht behindert. Weder körperlich noch geistig.«
»So habe ich das auch nicht gemeint«, entgegnete Paula. »Sondern lediglich als Geste der Aufmerksamkeit von uns, der Polizei, Ihnen gegenüber, die Sie sich diese Mühe für uns gemacht …«
»Nochmals danke für das Angebot«, unterbrach sie Frau Lindner in ihrem Gestammel, »aber danke, nein.« Leichtfüßig trippelte sie den Gang zurück.
Heinrich sah ihr anerkennend hinterher, dann trat er in Schneider-Sörgels Zimmer. Er stellte sich neben seine Chefin und musterte den Künstler, der in sich zusammengesunken auf seinem nun viel zu hohen Lehnstuhl saß. Jetzt war nichts mehr von seiner einstigen Überlegenheit zu spüren. Der so kurze wie stumme Auftritt der Chemiker-Witwe schien seinen Widerstand zu Fall gebracht zu haben.
Paula sprach aus, was alle in diesem Raum wussten.
»Sie haben sich das Thalliumsulfat, also das Rattengift, aus dem früheren Labor von Herrn Lindner besorgt. Und dabei vorgegeben, es für Ihre Arbeit als Maler zu brauchen. Darum auch hat seine Witwe keinen Verdacht dabei geschöpft. Dann, vor zwei, drei Wochen, haben Sie es in ein Getränk gegeben und diesen tödlichen Cocktail Frau Platzer angeboten. Und da Frau Platzer, wie Sie wussten, extrem geizig war und zudem völlig ahnungslos, wird sie Ihr Angebot auch gern und sofort angenommen haben.«
Sie hielt kurz inne, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Dann fuhr sie fort: »Sie wollten Ihrer Tochter damit, wenn man das so sagen kann, einen Gefallen erweisen. Sie wollten ihr mit diesem Mord helfen. Ihre dauerhafte finanzielle Misere würde damit, so hofften Sie, ein Ende haben. Sie sind davon ausgegangen, dass nach Frau Platzers Tod Ihre Tochter alles, deren Ersparnisse genauso wie die Wohnung, erbt.«
Schließlich fügte sie noch hinzu: »Liebe ist ein starkes Motiv. Das stärkste überhaupt.«
Da richtete sich Wilhelm Schneider-Sörgel wieder kerzengerade auf. Er sah sie streng und vorwurfsvoll an.
»Ihr lächerlicher Verdacht steht auf wackligen Beinen, Frau Steiner. Auf sehr wackligen Beinen. Richtige Beweise für Ihre Unterstellung haben Sie nicht? Also Beweise im Sinne von Fingerabdrücken oder einer Aussage von Frau Lindner, dass ich Gift, dieses – wie sagten Sie? – Thalliumsulfat aus ihrem Keller mitgenommen habe?«
»Nein, solche Art Beweise haben wir nicht. Das stimmt. Aber wir haben Indizien. Erstens sind Sie der Vater von Melitta Ruckdäschel und als solcher an ihrem Wohlergehen interessiert. Zweitens waren Sie in Lindners Labor. Drittens haben Sie mich angelogen, was die angeblich gestohlene Kreditkarte anbelangt.«
»Ach ja, der Kontendiebstahl, bei dem ich mich, so wie es aussieht, getäuscht habe. Das wird sich so wohl nie ganz klären lassen, was es damit auf sich hatte. Aber das habe ich Ihnen ja schon versucht zu erklären. Auch wenn Sie solche Art Vergesslichkeit in Ihrem Alter anscheinend noch nicht verstehen können. Ich bin mir sicher, andere Amtspersonen haben dafür mehr Verständnis«, sagte er.
Er brachte sogar dieses überlegen-spöttische Lächeln zustande, das sie vor einer halben Stunde so in Rage versetzt hatte. Er schien von seiner Unangreifbarkeit wieder überzeugt zu sein.
»Sie haben Frau Platzer die beiden Diebstähle unterstellt, weil Sie glaubten, sie damit in der Hand zu haben und zu erpressen. Zum Wohle Ihrer Tochter.«
Genau in diesem Moment fiel ihr der passende Tagebucheintrag dazu ein – »die wollen alle nur mein Geld«.
»Aber da hat Frau Platzer nicht mitgespielt. Pech für Sie. Und Pech für Ihre Tochter. Denn die steckte schon damals in Geldschwierigkeiten. Doch Frau Platzer hat sich nicht erpressen lassen. So sparsam, wie sie war, hätte sie nie und nimmer ihres guten Rufes wegen Geld bezahlt, nur damit Sie Schweigen bewahren. Der war das Geld wichtiger als ihr Leumund. In diesem einen Punkt, aber nur da, haben Sie sich verschätzt, Herr Schneider-Sörgel.«
Da veränderte sich das Gesicht des alten Mannes, das Lächeln verschwand. Er schwieg und wartete mit versteinerten Zügen, was noch kommen würde.
»Doch was ich nicht verstehe: Warum hat Ihre Tochter ihre Halbschwester an der Wohnungstür erstochen und ist dadurch ein unnötiges Risiko eingegangen? Sie hätte doch nur noch ein paar Tage abwarten müssen, dann wäre Frau Platzer an dem Rattengift, das Sie ihr verabreicht haben, gestorben. Das war doch eine todsichere Angelegenheit.«
Sie sah ihn fragend an. Er aber senkte den Blick, und um seinen Mund erschien ein leidender Zug. Das ging ganz schnell.
»Ach, so war das. Sie haben sich untereinander nicht abgesprochen. Frau Ruckdäschel wusste gar nichts von Ihrem Plan und Sie umgekehrt nicht von ihrem. Darum also dieser unnötige Zweifach-Mord, der Ihrer Tochter zum Verhängnis wurde. Wer weiß, wenn Sie beide darüber miteinander gesprochen hätten, vielleicht hätte man Ihnen wirklich nichts nachweisen können. Ihnen nicht und auch Frau Ruckdäschel nicht. Die hätte ja dann gar nichts mehr unternehmen müssen, nur in aller Ruhe abwarten, bis das Gift wirkt.«
Schließlich fügte sie nicht aus Häme, nur der Vollständigkeit halber noch hinzu: »Aber selbst dann hätte sich dieser Mord nicht gelohnt. Frau Platzer hat nämlich ihr gesamtes Hab und Gut dem Nürnberger Tierheim in der Stadenstraße vermacht.«
Nach einer kurzen Pause sagte sie schließlich: »Herr Schneider-Sörgel, ich verhafte Sie hiermit wegen des dringenden Mordverdachts an Elvira Platzer. Die Kollegen von der Polizeiinspektion Ost werden Sie jetzt mitnehmen und umgehend dem Haftrichter vorführen.«
Heinrich nickte ihr zu und verließ das Zimmer.
»Dann werde ich meine Sachen packen.« Das kam sehr leise. Schneider-Sörgel stand auf und ging auf sein Schlafzimmer zu.
Sie erhob sich ebenfalls und folgte ihm. Als er den Türgriff bereits in der Hand hielt, drehte er sich zu ihr um und sah ihr flehend in die Augen.
»Das möchte ich gerne alleine machen. Wenn Sie zwischenzeitlich im Wohnzimmer auf mich warten wollen, Frau Steiner?«
Als sie mit der Antwort zögerte, sagte er, und sein Ton ließ nichts an Schärfe zu wünschen übrig: »Ich bin es gewohnt, so etwas alleine zu tun. Und ich bin es gewohnt, dass man mir meinen freien Willen lässt.«
Sie ahnte, nein, sie wusste, was Schneider-Sörgel vorhatte. Sollte sie ihn gewähren lassen? Ihm diesen Wunsch erfüllen und tatenlos bei seinem Ableben zusehen? Nein, das durfte sie nicht. Andererseits, was hatte ein solcher Mann im Gefängnis zu erwarten? Wie würden seine letzten ihm verbleibenden Jahre dann aussehen? Was wäre das für ein Leben? Ein freudloses und würdeloses Absitzen der Zeit. Aber wer war sie, dass sie sich zum Komplizen eines Mörders machen konnte? Ihm die Verantwortung für seine Tat abnahm und sich damit eine Rolle anmaßte, die ihr nicht zustand? Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Das geht leider nicht.«
Sie sah ihm zu, wie er seine kleine Reisetasche packte.
»Sie müssen nicht darauf antworten, aber interessieren würde mich schon, seit wann Sie mit Ihrer Tochter in näherem Kontakt stehen?«
»Wir haben uns erst spät kennengelernt. 2008 war das, im Krankenhaus. Gertraude war damals schon sehr krank. Sie wusste, dass sie bald sterben würde. Da wollte sie reinen Tisch machen und hat uns ins Südklinikum einbestellt.«
»Und da haben Sie auch Frau Platzer getroffen«, sagte sie.
Schließlich fragte sie noch beiläufig: »Warum haben Sie Ihre Tochter eigentlich nicht unterstützt? Also mit Geld unterstützt, meine ich. Sie stehen doch finanziell ganz gut da, wie wir bei der Konteneinsicht festgestellt haben.«
»Ich fürchte, Sie überschätzen meine Möglichkeiten, Frau Steiner. Das Stift ist nicht eben billig. Und Melitta ist eine sehr anspruchsvolle Frau. Und auch sehr fordernd. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Außerdem habe ich ihr in den letzten Jahren wiederholt und großzügig unter die Arme gegriffen. Aber jetzt«, Schneider-Sörgel senkte kurz den Blick, »wollte ich nicht mehr. Jetzt musste mal Schluss sein damit.«
Als er seine Reisetasche in das Wohnzimmer hinübertrug, kehrte Heinrich mit Eva Brunner zurück. Die Anwärterin wollte Schneider-Sörgel Handschellen anlegen, da protestierte Paula.
»Das lassen wir in diesem Fall. Das braucht es nicht.«
Wilhelm Schneider-Sörgel sah sie lächelnd, ja sogar dankbar an. Dann stellte er sich ans Fenster und blickte lange auf die leere Staffelei. Schließlich griff er entschlossen nach seiner Tasche und folgte Eva Brunner nach draußen.
Als er eine halbe Stunde später in der Fürther Straße vor dem Oberlandesgericht Nürnberg-Fürth aus dem Wagen aussteigen sollte, war Wilhelm Schneider-Sörgel bereits tot. Reste der aufgebissenen Zyankalikapsel befanden sich noch in seiner Mundhöhle.
Wieder eine halbe Stunde später erfuhr Paula davon. Und regte sich maßlos über diese Schlamperei und Unachtsamkeit der Kollegen auf. Sie hatte schon den Telefonhörer in der Hand, um in der Polizeiinspektion Ost anzurufen, da legte sie ihn ganz behutsam wieder auf. Ihr war nämlich eingefallen, dass sie es war, die ausdrücklich auf die Handschellen verzichtet hatte. Und außerdem gefiel ihr die Vorstellung, dass Wilhelm Schneider-Sörgel sich zuletzt erkämpft hatte, woran er gewöhnt und was ihm wichtig war – seinen freien Willen.