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Sie wachte morgens um halb acht auf: erschöpft, verkatert, mit Kopfschmerzen. Das würde heute ein böser Tag werden.

Halb schlafend, halb wach spürte sie, wie das Monster von ihr Besitz ergriff. Dieser ungebetene Dauergast, ja dieser Stalker, der sie seit einigen Wochen immer zur selben Zeit, in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen, überfiel. Aus dem Hinterhalt, aufdringlich und übermächtig. Unbeherrschbar, das ängstigte sie. Von Tag zu Tag mehr. Das Einzige, womit sie ihn einigermaßen im Zaum halten konnte, war: sofort aufstehen, sich den Alltagsverrichtungen widmen, keinen Leerlauf in Taten und Gedanken zulassen. Missmutig stieg sie aus dem Bett und schlurfte in die Küche.

Dort schaltete sie die Kaffeemaschine ein, sah auf die Kaiserburg, die sich vor ihrem Küchenfenster erstreckte – sonst ein Anblick, den sie immer genoss und dessentwegen sie diese simpel geschnittene Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Balkon und ohne Fenster im Bad gekauft hatte. Heute, wie schon in den vergangenen Wochen, spendete ihr die prächtige Kaiserstallung allerdings keinen Trost. Heute war sie nur irgendein Gemäuer, nichtssagend, grau, trist und vor allem – uralt.

Sie angelte sich die große Tasse aus dem Spülbecken, in dem sich das benutzte Geschirr von zwei Tagen stapelte, goss sich Kaffee ein und murmelte halblaut Richtung Küchenuhr: »Drecksgeburtstag.«

Paula Steiner, Kriminalhauptkommissarin in den Diensten des Polizeipräsidiums Mittelfranken, neunundvierzig, ledig und auch sonst ohne jedes Talent für ein ausgefülltes Familien- oder Sozialleben, hatte derzeit nur eine Sorge, und das war ihr unaufhaltsam näher rückender fünfzigster Geburtstag, das Monstrum, das einer Planierraupe gleich alles niederwalzte, was das Leben an Annehmlichkeiten und Vergnügungen für sie bereithielt. In zehn Tagen war es so weit. Dann würde sie von einem Tag auf den anderen in einer anderen, einer in ihren Augen deutlich minderwertigeren Liga spielen. Dann könnte sie auf Fragen nach ihrem Alter, die sie in letzter Zeit mehr und mehr als eine dreiste Zumutung, gar als eine Ungezogenheit empfand, nicht mehr mit einem vagen »Ende vierzig« antworten. Dann wäre der Abstand zu ihren beiden Mitarbeitern – der blutjungen, gerade mal fünfundzwanzig gewordenen Eva Brunner und dem in ihren Augen ebenfalls ausgesprochen juvenilen vierunddreißigjährigen Heinrich Bartels – noch, ja vielleicht nicht größer, aber augenfälliger, deutlicher auf jeden Fall.

Zu all diesem Übel kam hinzu, dass sie sich den unvermeidlichen Gratulanten würde stellen müssen. Zumindest im Präsidium. Das erwartete man von ihr, wie sie selbst das bisher von ihren Kollegen bei runden Geburtstagen auch erwartet hatte. Ein hausinterner Brauch, den sie heute, während sie grübelnd unter der Dusche stand, das erste Mal gründlich in Frage stellte: Warum eigentlich musste das so sein? Genügte es nicht, dass man sich an diesem Tag von etwas Liebgewonnenem unwiderruflich verabschieden musste? Das war doch kein Grund zum Feiern, eher für das Gegenteil: Es war ein Grund, sich einzuigeln, sich zu verkriechen und zu hoffen, dass dieses einschneidende Datum möglichst unbemerkt von der Außenwelt vorüberging. Sie nahm sich vor, gleich heute noch für eine entsprechende Klarstellung im Kollegenkreis zu sorgen: Eine wie auch immer geartete Feier würde es von ihrer Seite nicht geben; desgleichen würde sie sich Geschenke oder Gratulationen, egal ob persönlich oder schriftlich, mit allem Nachdruck verbitten.

Gedankenschwer verließ sie kurz darauf die Wohnung und überquerte den Vestnertorgraben, ohne wie sonst die Kaiserburg, das ihrer Ansicht nach schönste Gebäude ihrer Heimatstadt Nürnberg, mit einem bewundernden Blick zu würdigen. Erst als sie zügigen Schrittes den Hauptmarkt hinter sich gelassen hatte und in die Kaiserstraße abgebogen war, blieb sie unvermittelt stehen.

Irgendetwas war an diesem Dienstag anders als sonst. Irgendetwas Neues lag in der Luft. Es dauerte eine Weile, bis Paula Steiner darauf kam, was dieses Etwas war: Heute schien nach einem kalten, langen und harten Winter der erste Tag in diesem Jahr zu sein, an dem es weder regnete noch schneite. Sie sah zum Himmel. Keine Wolken, kein ewiges Grau-in-Grau, heute spannte sich über ihr dieses perfekte monochrome Blau, nach dem sie sich in den vergangenen Wochen so gesehnt hatte.

Noch immer war es kühl und kahl, aber das Vermanschte und Abgenutzte, das Feuchte und Fahle der vergangenen Monate schien vorbei, die Kraft des Winters gebrochen zu sein. Endlich. Sie blieb stehen und atmete die frische, prickelnde Luft mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Heiterkeit, vermengt mit einer kleinen Prise Zuversicht, erfüllte sie und tilgte augenblicklich ihre Übellaunigkeit der frühen Morgenstunden. Schließlich setzte sie sich wieder in Bewegung und legte den Rest des Weges mit gedrosseltem Tempo zurück. Wer sie so schlendernd durch die Kaiserstraße gehen sah, hätte in ihr eine Spaziergängerin oder eine Touristin vermuten können, die auf Nürnbergs teuerstem Pflaster die Schaufensterauslagen begutachtete.

Um drei viertel neun öffnete sie die Tür zu ihrem Büro. Enttäuscht registrierte sie, dass es verwaist und kalt war. Die beiden anheimelnden Konstanten ihres Arbeitsalltags fehlten: Gesellschaft und Wärme. Ohne den Mantel abzulegen, marschierte sie zur Heizung unter dem Fenster und drehte den Regulator auf die höchste Stufe. Erst als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, sah sie den gelben Zettel, der auf ihrem Telefonhörer klebte:

An: Fr. Steiner

Von: E. Brunner

Zeit: 8.06 Uhr

Mitteilung: Fahre jetzt in die Eichendorffstraße 73. Allein, da Sie leider nicht da sind und Herr Bartels sich für heute krankgemeldet hat. Werde dort die Ermittlungen leiten und auf Ihr Eintreffen warten.

Noch bevor sie die Notiz zu Ende gelesen hatte, waren der Verdruss und die schlechte Laune zu ihr zurückgekehrt. Hatten sich durch diese Mitteilung noch um ein gehöriges Maß potenziert. Hier machte ja jeder, was er wollte! Der eine feierte krank, gerade wie es ihm in den Sinn kam, und es kam ihm immer öfter in den Sinn. Und die andere mit ihren lächerlichen fünfundzwanzig Jahren maßte sich Befugnisse an, die ihr in keiner Weise zustanden! Die nur ihr als Leiterin der Kommission zukamen. »Werde dort die Ermittlungen leiten. Da Sie leider nicht da sind«. Eine Unverschämtheit ihr gegenüber war das.

Am meisten störte sie das »leider« in der Notiz. Was gab es da zu bedauern, wenn sie nicht zur selben Zeit wie ihre übereifrige Kollegin im Büro war? Und selbst wenn sie erst verspätet hier eintreffen würde, wäre das kein Grund für einen derartigen versteckten Tadel, den sie aus diesem »leider« heraushörte. Sie hatte ihre Kommission nicht mehr im Griff, das musste und würde sie ändern. Und zwar heute noch. Sie in ihrem Alter und mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen ließ sich doch nicht von diesen beiden Grünschnäbeln auf der Nase herumtanzen! In dem Moment, als sie in dieser Gedankenkette nur mehr ein klitzekleines Glied von einem handfesten Wutausbruch trennte, klingelte das Telefon.

»Na endlich, Paula, dass man dich auch mal erwischt! Ich versuche es schon seit einer Stunde. Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragte Matthias Breitkopf, ihr Kollege vom Kriminaldauerdienst, zwar leutselig, aber auch ein wenig vorwurfsvoll.

»Wo ich war? Das kann ich dir sagen: auf dem Weg hierher. Nur zur Erinnerung, lieber Matthias, falls dir das in deiner freien Zeit über das Wochenende entfallen sein sollte: Meine offizielle Arbeitszeit hat noch gar nicht begonnen. Die beginnt nämlich erst Punkt neun Uhr, also«, sie sah auf ihre Armbanduhr, »in zwölf Minuten. Wenn du mich dann immer noch nicht am Telefon erwischst, kannst du mich gerne fragen, wo ich gewesen bin.«

»Oh, da ist aber jemand heute mit dem linken Bein zuerst aufgestanden. Das ist man bei dir gar nicht gewöhnt, so viel schlechte Laune schon am frühen Vormittag.«

»Ich habe keine schlechte Laune!«, schrie sie in den Hörer. »Noch nicht. Das kann sich aber bald ändern, wenn du weiter so …«

»Ist ja schon gut, Paula, reg dich nicht auf. Der Grund, warum ich anrufe, ist der: Zum einen hat sich Heinrich krankgemeldet, und zum andern hat man in der Eichendorffstraße eine weibliche Leiche gefunden. Die Nachbarin dieser Frau ist aufmerksam geworden, weil sich unter der Wohnungstür ihr gegenüber ein roter Fleck, in dem sie eine Blutlache vermutete, ausgebreitet hat. Sie hat die Schutzpolizei verständigt, die haben die Wohnung aufgebrochen, dann haben die mich informiert, ich habe es wiederum an Fleischmann gemeldet, weil ich ja wissen musste, wer von euch das übernehmen soll, und Fleischmann wollte dich unbedingt damit beauftragen. Nachdem du aber noch nicht«, Breitkopf suchte nach einer harmlosen Formulierung, »so früh, also vor Dienstbeginn sozusagen, an deinem Platz warst und demzufolge nur Frau Brunner zu sprechen war, habe ich deiner Mitarbeiterin gesagt, sie soll versuchen, dich daheim zu erreichen, damit du gleich von da aus dahinfährst. Ohne den Umweg zum Präsidium.«

»Mich hat niemand versucht, daheim zu erreichen. Wann hast du denn mit Frau Brunner gesprochen?«

»Das war«, sie hörte das rasche Umblättern von Papier, »exakt um sieben Uhr dreiundfünfzig. Oh, dann hat sie wohl nicht bei dir angerufen?«

»Nein, hat sie nicht. Aber das macht nichts«, log Paula tapfer, »dann mache ich mich halt jetzt gleich auf den Weg. Übrigens danke für die Informationen.«

Ihr Groll Breitkopf gegenüber hatte sich während des Gesprächs verflüchtigt. Sie bedauerte jetzt, ihn anfangs dermaßen angeblafft zu haben. Und so fügte sie noch ein ebenso versöhnliches wie ernst gemeintes »Und ein Extradank für deine Nachsicht und Geduld mit mir« hinzu. Dann legte sie auf.

Fast eine Dreiviertelstunde, rechnete sie nach, hätte ihre Mitarbeiterin Zeit gehabt, sie daheim entweder über das Festnetz oder auf dem Handy zu erreichen. Beides hatte sie nicht getan. Warum nicht? Sie musste doch gewusst haben, dass sie damit eindeutig gegen die Dienstvorschriften verstieß. Und genauso bewusst musste ihr in dem Moment gewesen sein, dass diese Kompetenzüberschreitung irgendwann ans Licht kommen, zumindest ihr als ihrer Vorgesetzten auffallen würde. Beides hatte sie billigend in Kauf genommen. Warum?

Es gab nur eine Antwort auf diese Frage: weil Eva Brunner der Überzeugung war, sich diesen Verstoß gegen die Dienstvorschriften und damit diesen Affront ihr gegenüber leisten zu können. Das sprach für zweierlei: für ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl der Kommissar-Anwärterin, das schon Züge von Überheblichkeit trug, sowie für ihre eigene geschwächte Position als deren Vorgesetzte. Dagegen erschien selbst der unzuverlässige Heinrich mit seiner elendiglichen Dauerkrankfeierei in einem milderen Licht. Und auch ihre Hauptsorge – ihr bedrohlicher fünfzigster Geburtstag – war angesichts der Brunner’schen dreisten Vorwitzigkeit ganz und gar vergessen.

Geschlagene fünf Minuten saß Paula Steiner regungslos an ihrem Schreibtisch und starrte leeren Blicks aus dem Fenster. Dann endlich stand sie auf, legte sich die Jacke über die Schultern und verließ das Zimmer. Als sie bereits im Innenhof des Präsidiums angekommen war und auf den Fuhrpark zuging, blieb sie abrupt stehen. Machte dann kehrt und rannte die Treppen zu ihrem Büro hoch. Dort schaltete sie mit einer Genugtuung, der eine Spur Häme beigemengt war, die Heizung wieder auf null. Sie war nun entschlossen, sich die Hoheitsgewalt in ihrer Kommission mit aller Kraft und allen Mitteln zurückzuerobern. Und Eva Brunner sollte, wenn sie in dieses Zimmer zurückkehrte, es genauso ungemütlich und kalt vorfinden wie sie selbst heute an diesem frühen Dienstagmorgen. Und dass das schon bald der Fall sein würde, dafür würde sie umgehend sorgen.

Eine knappe halbe Stunde später parkte sie den Polizei-BMW in der so beschaulichen wie biederen Händelstraße, einer kurzen Seitengasse der viel befahrenen Eichendorffstraße, die vor allem den zahlreichen Pendlern aus dem östlichen Nürnberger Umland als Ausfallstraße diente. Seitdem sie den Entschluss gefasst hatte, sich in ihrer Kommission wieder als Primus inter pares zu behaupten, war ihre aufsteigende Wut verraucht, und auch der Anflug von Selbstzweifeln hatte sich verabschiedet. Sämtliche widersprechende Gefühlsregungen der zurückliegenden Stunden wurden durch ihre Entscheidung und den Willen, sich in ihrer Kommission wieder an die Spitze zu setzen, kurzerhand ausgelöscht.

Sie hatte sich im Griff, war klar im Kopf und entschlossen zum Handeln – und sogar ein wenig vergnügt. Als sie den Wagen abschloss, strahlte sie eine beeindruckende Ruhe und Gelassenheit aus. In diesem Moment hätte man den Kopf einer Buddha-Statue nach ihr meißeln können.

Schon von Weitem sah sie die dicht an dicht geparkten Einsatz-, Notarzt- und Rettungswagen vor der Hausnummer 73 sowie eine Menschentraube, bestehend aus sechs oder sieben sehr jungen Schutzpolizisten, von denen zwei rauchten. Und in deren Mitte Eva Brunner, die sich bestens zu amüsieren schien. Paula näherte sich der Gruppe von hinten ohne Eile, fast schon bedächtig. Aber es war kein Zögern in ihrem Gang, eher der zielgerichtete, tänzelnde Anlauf eines Panthers, der bald von hinten zum Sprung auf seine Beute ansetzen wird.

Als sie die Gruppe erreicht hatte, sahen einige der Polizisten kurz zu ihr auf, um ebenso schnell wieder wegzublicken. Niemand machte Anstalten, sie vorbeizulassen. Keiner trat zur Seite. Der Kreis blieb geschlossen. Typisches Gruppenverhalten, dachte die ehemalige Soziologiestudentin Steiner. Eva Brunner war so sehr in das Gespräch mit den Kollegen vertieft, dass sie von dem sich nähernden Panther nichts mitbekam.

»Guten Morgen, Frau Brunner, guten Morgen, meine Herren«, sagte Paula Steiner laut und sehr, sehr freundlich.

Da endlich registrierte sie auch die Jungkommissarin, die ihr zur Begrüßung lediglich einen abweisenden, hochmütigen Blick zuwarf.

Das überraschte sie nun doch. Dass es schon so weit gekommen war … Meine Schuld, dachte sie noch, ich habe alles laufen lassen. Ich hätte besser aufpassen sollen. Jetzt muss ich die Scharte auch wieder auswetzen.

»Wer leitet denn hier den Einsatz?«, fragte sie mit einem leisen Lächeln.

Es war diese betont arglos gestellte Frage, die den Halbkreis blitzschnell auflöste. Aus der vormals fröhlichen Plaudergruppe, die die Passanten zum Ausweichen auf die Straße nötigte, wurde im Handumdrehen eine vorschriftsgemäße polizeiliche Absperrung. Die beiden Raucher beeilten sich, ihre Zigaretten im Rinnstein auszudrücken, Uniformjacken wurden glatt gezogen, Haltung wurde angenommen. Schließlich deutete einer der Schutzpolizisten, ein blonder Krauskopf, in Eva Brunners Richtung.

»Dann ist die Leiche also schon abtransportiert worden?«, sagte Paula, noch immer mit diesem feinen Lächeln, ihrer Allzweckwaffe in Situationen wie dieser. Sie gab sich Mühe, ihre Frage so unbedarft und naiv wie möglich klingen zu lassen.

Als Antwort erhielt sie, wieder von dem Krauskopf, nur ein kurzes Kopfschütteln.

»Nein, das kann nicht möglich sein! Das glaube ich einfach nicht!«, rief sie erstaunt aus. Sie wandte sich ihrem stummen Informanten zu. »Denn Frau Brunner arbeitet seit einem Jahr in meiner Kommission und weiß demzufolge ganz genau, dass sie zum einen als Kommissar-Anwärterin keinen Einsatz leiten darf. Und dass sie, sollte sie dies doch tun und damit gegen die Vorschriften verstoßen, dann zum andern auf keinen Fall, aber auf gar keinen Fall den Einsatzort verlassen darf. Und dieser ist doch, soweit ich informiert bin, nicht auf dem Bürgersteig, sondern in der Wohnung da oben. Oder täusche ich mich da?«

Sie erhielt keine Antwort. Die brauchte sie auch nicht. Denn sie hatte keine Frage, sondern etwas klargestellt. Der Panther hatte seine Krallen schon ausgefahren. Noch hielt er sein Opfer im Maul, behutsam und nachdenklich. So als würde er überlegen, ob er tatsächlich zubeißen oder es noch einmal gnädig davonkommen lassen sollte. Das Beutetier nahm dem Jäger die Entscheidung ab.

»Da oben stinkt es. Das ist eine Messie-Wohnung. So was ist eine Zumutung. Ich an Ihrer Stelle würde da nicht raufgehen«, sagte Eva Brunner mit zusammengekniffenen Augen und für Paulas Geschmack eine Spur zu pampig.

Schade, wirklich schade, dachte sie noch für einen Moment, sie hat nicht begriffen, worum es geht. Und jetzt erst biss der Panther endgültig zu.

»Frau Brunner, Sie sind aber nicht an meiner Stelle. Und wenn Sie so weitermachen, werden Sie es auch nie sein. Und noch etwas: Sollte ich einen Rat von Ihnen benötigen, werde ich Sie das rechtzeitig wissen lassen. Aber ich denke, auch so weit wird es nicht kommen. Bis dahin spendieren Sie Ihre ungefragten zweifelhaften mediokren Ratschläge meinethalben jedem anderen, vielleicht den Kollegen hier von der Polizeiinspektion Ost, nur mir bitte nicht. Ist das klar?«

Ein wenig wunderte sie sich selbst über ihre Rede, vor allem über das Adjektiv »medioker«. Bis dahin hatte sie gar nicht gewusst, dass ihr Wortschatz auch solche bildungssprachlichen Perlen bereithielt.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Und jetzt kehren Sie augenblicklich ins Präsidium zurück und warten dort auf mich.«

An der Haustür angekommen, drehte sich Paula nochmals um. Sie sah auf eine mustergültige Formation von Polizisten, gerade Haltung, die Beine hüftbreit aufgestellt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Und sie sah Eva Brunner, die ihr einen schnellen, schrägen Blick zuwarf, bevor sie sich dann, ohne sich von den Kollegen zu verabschieden, eilends in Bewegung setzte.

Als sie die Treppe in die erste Etage hochstieg, hatte sie den zweiten Entschluss dieses Tages gefasst, kalten Herzens und ohne jede Genugtuung: Sie würde heute noch Frau Brunner für einige Tage vom Dienst suspendieren. In dieser Zeit würde sie versuchen, die Mitarbeiterin aus ihrer Abteilung wegzuloben. Kollege Jörg Trommen, Leiter einer Ermittlungskommission wie sie selbst, hatte in der Vergangenheit wiederholt versucht, ihr die Brunner abspenstig zu machen. Doch, das passte. Für beide Seiten. Bei Trommen mit seiner strengen Hierarchie und der eindeutigen, linearen Befehlsstruktur wäre Eva Brunner besser aufgehoben als bei ihr.

Vor der Wohnung rechter Hand stand ein gedrungener Polizist mittleren Alters Wache, rotes aufgedunsenes Gesicht, kurzer Bürstenschnitt. Neben ihm, an die Wand gelehnt, entdeckte sie den grauen abgeschabten Metallkoffer Klaus Dennerleins, in dem der Kriminaltechniker seine Gerätschaften transportierte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Sie zog ihren Ausweis aus der Manteltasche und stellte sich vor.

»Dann lösen Sie wohl jetzt die Einsatzleiterin Brunner ab?«

Sie verzichtete auf eine Richtigstellung, antwortete nur: »Ja, so könnte man das nennen.«

»Möchten Sie einen Mundschutz, bevor Sie reingehen?«

»Ist das denn nötig?«

»Meiner Meinung nach nicht. Meiner Meinung nach ist es nicht so schlimm, wie Ihre Vorgängerin getan hat. Es riecht ein wenig staubig, aber das ist auch schon alles. Aber wenn Sie wollen, hole ich Ihnen gerne etwas.«

»Nein danke. Ich versuch’s erst mal so.«

Der Polizist deutete auf den hellen Fußabstreifer aus Bast, der zur Hälfte dunkelrotbraun gefärbt war. Paula nickte als Zeichen, dass sie darüber hinwegtreten würde. Dann schob er die Wohnungstür vorsichtig nach innen, um sie einzulassen.

Nur zwanzig Zentimeter hinter der Tür lag eine tote Frau, mager und ausgezehrt, mit seltsam verrenkter Beinhaltung. Die Arme waren zu den Seiten ausgestreckt, so weit das in dem vollgestellten Flur, in dem sich Obstkisten bis knapp unter die Decke stapelten, möglich war. Große kreisrunde dunkelbraune Flecken am Bauch und in der Herzgegend, ein altmodisch geblümter Rock, der von den hervortretenden Hüftknochen fast bis an die Knöchel reichte, eine durch die umgebende Leichenblässe noch vogelartiger wirkende spitze Nase, die spärlichen, eindeutig gefärbten oder getönten Haare sorgfältig auf extrabreite Lockenwickler gedreht. Am Kopf der Toten stand Dr. Frieder Müdsam, Paula der liebste von allen Gerichtsmedizinern, und lächelte sie an.

»Ich hatte schon damit gerechnet, dass du demnächst eintreffen würdest. Dass es allerdings jetzt doch so schnell ging, hatte ich nicht vermutet. Es ist auf jeden Fall schön, sehr schön sogar, dass du«, sagte er mit Betonung auf dem Personalpronomen, »nun da bist.«

Das war alles, was er von sich aus zum Fall Brunner sagte – und auch in Zukunft sagen würde. Müdsam war zu beherrscht und auf dem zwischenmenschlichen Sektor zu wenig neugierig, um sich an den internen Klatschspiralen zu beteiligen, was sie manchmal bedauerte. Wer immer ihm etwas Pikantes aus dem Kollegenkreis erzählen würde, musste nicht befürchten, dass der Pathologe dies weitertrug. Es versandete bei ihm einfach wie ein einzelner Tropfen Wasser in der Wüste. Und doch oder gerade deshalb war das Wenige, was er ihr zur Begrüßung gesagt hatte, für sie Andeutung genug, um sich ein gutes, hinlänglich genaues Bild vom Auftreten ihrer Mitarbeiterin machen zu können.

»Also«, fuhr er fort, ohne ihr die Gelegenheit zu diesbezüglichen Nachfragen zu geben, »in der Lage, wie du die Tote im Moment siehst, haben wir sie nicht vorgefunden, obgleich sie in der Diele, und zwar hier direkt hinter der Wohnungstür, ermordet wurde. Unsere Kollegen mussten die Tür aufbrechen, um reinzukommen, dadurch haben sie ihre Stellung schon das erste Mal verändert. Dann hat man sie so hingelegt, wie du sie jetzt siehst. Wie ich bisher erkennen konnte, wurde sie erstochen. Mit einem Hirschfänger oder etwas Ähnlichem, darauf lassen die Stichwunden schließen. Es muss auf jeden Fall etwas mit einer breiten Klinge und einem zweischneidigen Schliff gewesen sein. Erst in die Halsschlagader«, er bückte sich und zeigte auf die schmale streichholzlange Wunde am seitlichen Halsansatz des Opfers, »und dann, als sie nach hinten zusammensackte, noch mal in den Bauch und in die Lenden. Ich denke, sie ist hier in der Diele verblutet. Hast du den Fleck auf und unter dem Fußabstreifer gesehen?«

Sie nickte.

»Alles Weitere wie immer nach der Obduktion.«

»Das heißt: Du könntest eigentlich schon wieder gehen?«

»Ja, ich bin so weit durch.«

»Wo sind denn die andern?«

»Die warten auf dem Balkon auf dich. Klaus, kommst du mal?«, rief Müdsam. »Paula ist jetzt da.«

Sekunden später stand Klaus Dennerlein vor ihr und begrüßte sie mit einem verschwörerischen Grinsen.

»Na endlich. Das wurde aber auch Zeit, dass du kommst. Deine Brunner hat hier nur alles aufgehalten.«

Bevor sie ihn unterbrechen konnte, fuhr er fort. »Also, was ist? Das komplette Programm?«

»Natürlich. Warum fragst du?«

Als Antwort öffnete er die Tür zu dem Zimmer, aus dem er gekommen war, und deutete mit dem Kopf in den Raum.

»Um Gottes willen!«, sagte sie mehr zu sich als zu Dennerlein. »Das ist ja furchtbar.«

Der Größe nach zu urteilen, musste das das Wohnzimmer sein. Paula hatte im Fernsehen schon einmal die Behausung eines männlichen Messies gesehen; beim Zappen war sie bei der Reportage eines Privatsenders fasziniert hängen geblieben. Aber das hier war die direkte brutale Realität, das war live. Das hier war überhaupt nicht grell, dramatisch und spannend, sondern nur banal und trist. Anrührend in seinem stummen Elend.

Ein vor langen Jahren weiß gestrichener Raum, heute fahlgelb, genau wie die fleckigen Kunststoffgardinen. Kein Wandschmuck, die Fensterbretter vollgestellt mit Nippes und verwelkten Topfpflanzen. Bücher, Zeitungen, Kataloge und Prospekte, Tüten, defekte Haushaltsgeräte und Werkzeug aller Altersstufen bis an die Decke in den zahllosen Regalen hochgestapelt, die im Schulterschluss die Wände bedeckten. Riesige Haufen von Kleidungsstücken, Schuhen, Decken und Kissen auf dem Boden. Dazwischen und darauf Plastiktüten, Kisten, Kartons und Koffer, aus denen wiederum Alltagsgegenstände mit und ohne Gebrauchsspuren hervorquollen.

Dennoch erkannte sie in dem Chaos den vergeblichen Versuch, so etwas wie Ordnung in die Unordnung zu bringen. Denn all die Behältnisse schienen thematisch sortiert zu sein. Vor ihr stand ein billiger Pappkoffer, der aufgeklappt und ausschließlich mit schwarzen Plastikkleiderbügeln bestückt war. Aus einer Abfalltüte ganz hinten schauten zwanzig – oder waren es dreißig, gar vierzig? – Fahrrad-Luftpumpen hervor.

Die Haufen und Stapel überwucherten das eigentliche Mobiliar, begruben es unter sich und machten es unbenutzbar. So glaubte sie, vor der Regalwand eine Sitzgruppe aus grünem Cordsamt, bestehend aus zwei Sesseln und einem Sofa, zu sehen. Und an der rechten Längsseite einen Schreibtisch, der unter der Last von sechs oder sieben ineinander verhakten Stühlen ächzte. Ein ausgetretener, höchstens zehn Zentimeter breiter Pfad führte zur Balkontür. Dieses Zimmer war für Außenstehende eine abstoßende Müllkippe.

»Die anderen Räume sind genauso vollgemüllt, Paula. Wenn du auf einer gründlichen Spurensicherung bestehst, wären Klaus und ich die nächsten Wochen damit mehr als ausgelastet. Das ist eine Beschäftigungstherapie für arbeitslose Kriminaltechniker.«

Bevor Dennerlein zu Ende gesprochen hatte, hatte sie sich schon entschieden.

»Nein, das braucht es nicht. Zumal mir Frieder gerade gesagt hat, dass sich der Mord direkt hinter der Wohnungstür ereignet hat. Sie wird die Tür geöffnet haben, der Täter, der seine Waffe mitgebracht hat, sticht ihr erst in den Hals, dann rammt er ihr das Messer in den Bauch und verlässt kurz darauf das Haus. Sie wird ihn kaum in die Wohnung hereingebeten haben. Wohin auch? Nein, das war eine Sache von ein paar Minuten. Ich bin mir sicher, da werdet ihr keine Spuren außer in der Diele finden.«

»Ich sehe das wie du. Wer immer sie getötet hat, muss sie völlig überrumpelt haben, denn in der Küche steht noch ein Becher mit einem Teebeutel. Also nehmen wir uns vor allem die Diele vor, wenn Frieder weg ist. Vorher geht es nicht.«

»Ist die Tote denn schon fotografiert worden?«

»Das war das Erste, was wir gemacht haben. Bernd ist übrigens auf dem Balkon und wartet auf dein Okay, dass er gehen kann.«

»Gut. Dann sag ich ihm das jetzt.«

Sie wollte schon auf den schmalen Trampelpfad treten, da gab ihr Dennerlein zu verstehen, dass sie stehen bleiben sollte.

»Du musst mich erst rauslassen, dann kannst du durchgehen. Nicht drängeln, Frau Steiner.«

Nachdem er an ihr vorbei in den Flur geschlüpft war, betrat sie das Wohnzimmer. Sie musste Schritt vor Schritt setzen, so schmal war der Durchlass. Der Balkon bot das gleiche triste Bild: vollgestellt mit ausrangierten Sitzmöbeln, Pflanzkübeln und schwarzen Plastiktöpfen, die meisten ohne Bepflanzung. Zwischen den Fliesen hatten sich Grashalme und Bäumchen festgesetzt, manche davon ragten meterhoch in den Himmel.

»Bernd, du kannst jetzt gehen.«

Nachdem sie das offizielle Okay erteilt hatte, den Leichnam zur Obduktion in die Tetzelgasse bringen zu lassen, platzte es aus dem sichtlich erregten Polizeifotografen heraus.

»Das ist heute ein Scheißtag. Erst schickst du uns die Brunner auf den Hals, die hier nur alles durcheinanderbringt und uns von der Arbeit abhält, wenn sie nicht gerade dumm rumsteht. Und dann das Chaos hier«, er deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf das Zimmer, »wo man nicht sicher sein kann, dass man sich was holt.«

»Was soll man sich denn hier holen?«, fragte sie erstaunt.

»Kannst du mir garantieren, dass da drin«, wieder diese abschätzige Handbewegung, »kein Ungeziefer ist?« Er sah sie angriffslustig an.

Als Antwort zuckte sie nur mit den Schultern.

»Auf jeden Fall stelle ich mich erst mal unter die Dusche, wenn ich heimkomme, und zwar gründlich. Wie das hier schon riecht.«

»Also, ich finde, es riecht nicht besonders schlimm. Ein wenig abgestanden, stickig, ja, aber viel anders riecht es auch nicht, wenn ich zum Beispiel nach dem Urlaub in meine Wohnung zurückkomme.«

»Das kommt daher, weil du auch Raucherin bist. Das hat dir schon deine Geruchsnerven zerstört. Da riecht man freilich nichts mehr, und selbst wenn es wie auf einer Mülldeponie stinkt.«

Auch diesen heftigen Affront ebenso wie seinen Vorwurf, sie sei für Eva Brunners Erscheinen verantwortlich, schluckte sie widerspruchslos hinunter und fragte lediglich: »Warum, wer raucht denn hier noch?«

Anstelle einer Antwort langte Bernd Schuster zum Fensterbrett und hielt ihr einen Aschenbecher hin, in dem aufgelöste Kippen in einer Wasserlache schwammen. Interessiert beugte sie sich über die hässlich braungelbe Brühe. Nicht nur die Tatsache, dass sie rauchte, hatte sie mit dem Opfer gemein – sogar die Zigarettenmarke teilten sie miteinander. Das waren alles Stummel der Marke HB.

So etwas verbindet ungemein, auch über den Tod hinaus; in dem Moment, als Schuster ihr den vollen Aschenbecher unter die Nase hielt, knüpfte er ein Band zwischen der Kommissarin und dem Opfer, das stärker war als ihr rein berufliches Pflichtgefühl. Sie sah sich nun noch mehr in der Verantwortung, den Mörder dieser Frau so lange zu suchen, bis sie ihn gefunden und gestellt hatte. All dies konnte der Nichtraucher Schuster nicht ahnen, geschweige denn wissen. Insofern kam ihr erster Gegenangriff für ihn überraschend.

»Du willst mir damit also sagen, dass der Geruch dieser Kippen erst rund um das Haus gewandert ist, sich dort vor den Eingang abgesenkt hat, um über das Schlüsselloch in den Hausgang zu ziehen, sich dann auf den Weg in den ersten Stock machte, um dort wieder pfeilgerade durch das Schlüsselloch in die Wohnung der Toten zu gelangen? Das ist eine Theorie, die einige physikalische Gesetze missachtet, mein Lieber.«

Schuster sah sie perplex an. »Woher weißt denn du so genau, dass sie nicht auch die Wohnung vollgequalmt hat?«

»Das weiß man halt, wenn man Raucher ist. Wer einen derartigen Aschenbecher auf dem Balkon stehen hat, raucht nicht in seiner Wohnung. Das ist ganz einfach, was du aber nicht wissen kannst. Also, auf jeden Fall bist du hier fertig und kannst jetzt gehen.«

Doch so schnell gab sich der heute zu mehr Händel aufgelegte Fotograf nicht geschlagen.

»Die Frau hatte sich doch überhaupt nicht im Griff. Raucht wie ein Schlot, dazu passt die Wohnung wie die Faust aufs Aug. Schau sie dir doch mal an. Das Chaos pur. Ich würde mich hier nicht wohlfühlen. Du etwa?«, fragte er in scharfem Ton.

»Sag einmal, Bernd, fängst du jetzt komplett das Spinnen an? Was soll denn die blöde Fragerei? Und dann: Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Wer raucht, muss doch nicht automatisch ein Messie sein. Und umgekehrt.«

»Wenn meine Frau mir die Bude so zumüllen würde, ich würde die rausschmeißen. Kurzen Prozess würde ich mit der machen. So schnell könnte die gar nicht schauen, so ratzfatz wäre die draußen.« Schuster sah sie immer noch herausfordernd an.

Fast hätte sie auch diese letzte seiner Attacken ignoriert, aber eben nur fast, an diesem Tag, an dem bisher so viel verquer gelaufen war.

»Noch so eine hochinteressante Überlegung deinerseits. Und wiederum so theoretisch, fernab jeden Bezugs zur Praxis. Denn momentan verfügst du doch über gar keine Frau, die du ratzfatz rausschmeißen oder mit der du kurzen Prozess machen könntest. Oder täusche ich mich da?«

Sein Schweigen war beredt genug. Ohne Gruß verließ er den Balkon, um auf dem Trampelpfad den geordneten Rückzug anzutreten. Vorher aber legte er noch den weißen Mundschutz an, demonstrativ und mit einem langen Blick zu ihr.

Klaus Zwo, wie Dennerleins Kollege von der Spurensicherung genannt wurde, der im weißen Schutzanzug gleichfalls zu dem kleinen quadratischen Balkon Zuflucht genommen hatte und den sie erst jetzt, nach Bernds Abzug, richtig wahrnahm, kommentierte ihre letzte Bemerkung mit den Worten: »Das war aber jetzt hart von dir, Paula. Du weißt doch, wie empfindlich der Bernd auf diesem Gebiet ist.«

»Ich bin auch empfindlich, Klaus. Und kein Mensch nimmt irgendwelche Rücksicht auf mich. Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück. Aber mal was anderes: Findest du auch, dass es da drin so fürchterlich riecht?«

»Nein. Es müffelt ein wenig. Das ist der Staub, der sich in all den Jahren auf den ganzen Krempel gelegt hat, sonst nichts.«

»Warst du schon in der Küche und im Schlafzimmer?«

»Einen Blick habe ich hineingeworfen. Da ist nämlich kein begehbarer Weg wie im Wohnzimmer. Den muss man sich erst freischaufeln. Ich weiß auch nicht, wo und wie die geschlafen hat. Im Liegen auf jeden Fall schon mal nicht. So viel habe ich gesehen. Da ist alles voll. Und selbst im Sitzen muss es schwierig gewesen sein, denn auf der einzigen Schlafmöglichkeit, die ich entdeckt habe, so eine Art Liegesessel, stapeln sich ebenfalls die Kleidungsstücke.«

»So schlimm ist es?«

»Ja. Irgendwie schon furchtbar, das alles. Das war ein ganz einsamer, bedauernswerter Mensch. Ein erfülltes Leben ist was anderes.«

Als Paula wieder in der Diele stand, war Müdsam bereits verschwunden. Und auch Schuster hatte sich mitsamt seinem Mundschutz verzogen. Die Bestatter taten sich schwer, die Leiche auch nur einigermaßen pietätvoll auf die Bahre zu legen, weil ihnen der Platz dafür fehlte. Als sie gegangen waren, bugsierte Dennerlein Paula um den Fundort herum, dann rief er nach seinem Kollegen und Namensvetter.

»Ich glaub, ich würde jetzt nur stören. Also geh ich. Wenn ihr fertig seid, versiegelt ihr die Wohnung und sagt mir bitte Bescheid, ja?«, sagte sie.

»Ja, machen wir.«

Dennerleins kurz angebundener Ton ließ darauf schließen, dass er nun endlich mit der Arbeit anfangen wollte.

»Wer hat eigentlich die Polizei gerufen? Matthias sagte mir, das war eine Nachbarin.«

Dennerlein deutete nur wortlos mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Wohnung. Als sie in den Hausgang trat, hörte sie, wie er die Tür energisch von innen zuzog.

Bevor sie klingelte, sah sie auf das Namensschild. »Elisabeth Vogel« stand darauf. Sie musste eine Weile warten, bis die Tür geöffnet wurde. Vor ihr stand eine aparte Mittsechzigerin, aschblondes, sorgsam frisiertes Haar, helle Jeans und eine frisch gebügelte weiße Bluse, dezentes Make-up in einem runden und hübschen Gesicht. Paula Steiner stellte sich vor und wurde sogleich bereitwillig in die Wohnung gebeten.

In dem lichten und geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit den blütenweißen Raffgardinen aus Nessel nahm sie auf einem sonnengelben weichen Sofa Platz. Und war erstaunt, wie groß der Raum war.

»Ist Ihre Wohnung genauso groß wie die gegenüberliegende?«, lautete ihre erste Frage.

Über Frau Vogels Gesicht huschte ein verständnisvolles Lächeln, bevor sie antwortete.

»Ja, Frau Platzer und ich, wir haben die gleiche Wohnung, nur spiegelverkehrt geschnitten. Das weiß ich, weil ich die rechte Wohnung im Erdgeschoss kenne, und nicht etwa deswegen, weil ich bei Frau Platzer schon mal in der Wohnung war. Das war ich nämlich nicht. Frau Platzer hat niemanden hineingelassen.«

»Ah ja. Frau Vogel, Sie haben die Polizei gerufen. Was hat Sie dazu veranlasst, also wie sind Sie darauf gekommen, dass Ihrer Nachbarin etwas hätte passiert sein können?«

»Aus mehreren Gründen. Erstens haben wir, Frau Platzer und ich, jeden Abend einen kleinen Plausch gehalten. Von Balkon zu Balkon. Aber gestern nicht und vorgestern auch nicht. Zweitens ist sie am späten Abend, so gegen neun, halb zehn, immer, zuverlässig jeden Tag, in den Hinterhof gegangen und hat den Eichkatzeln Futter hingelegt, immer auf denselben Mauervorsprung. Auch da habe ich sie in den letzten zwei Tagen nicht gesehen, und ebenso das Futter – meist waren es Haselnüsse und Haferflocken – nicht. Das kann ich von meinem Balkon gut sehen. Ja, und dann der dritte Grund war der große dunkle Fleck vor ihrer Wohnungstür, auf dem Fußabstreifer. Für mich sah das wie Blut aus. Ich hatte das ungute Gefühl, ihr ist etwas passiert. Letztendlich habe ich deswegen bei der Polizei angerufen.«

»Das haben Sie gut gemacht. Aber das haben Ihnen meine Kollegen bestimmt schon gesagt.«

»Nein«, das kam überraschend entschieden und mit unterschwelligem Vorwurf in der Stimme, »da sind Sie die Erste.«

»Nun, das werden meine Kollegen in der Hektik vergessen haben. Ich hole es hiermit ausdrücklich nach. Danke, Frau Vogel, für Ihre Aufmerksamkeit. Wir von der Polizei sind bei unserer Arbeit auf die Mithilfe von außen angewiesen, darauf, dass die Bürger die Augen nicht verschließen.«

Sie machte eine Pause. Das musste als Anerkennung für diese kleine Mühe einer besorgten Nachbarin genügen.

»Ich habe den Leichenwagen unten auf der Straße gesehen. Frau Platzer ist also tot. Richtig?«

»Ja. Das ist richtig. Sie ist, davon gehen wir zum jetzigen Zeitpunkt aus, ermordet worden. Insofern habe ich ein paar Fragen an Sie. Wissen Sie, ob Frau Platzer verheiratet war?«

»Ja, das weiß ich. Frau Platzer war verheiratet, ist aber mittlerweile geschieden. Ich habe Herrn Platzer noch kennengelernt. Sie sind zusammen hier vor zwölf Jahren eingezogen, aber schon drei Jahre später ist er wieder ausgezogen. Sie können sich sicher denken, warum.«

Paula ahnte es, wollte es aber aus dem Mund ihres Gegenübers hören.

»Nein. Warum denn?«

»Er hat, als er sich von mir verabschiedete, sinngemäß gesagt: ›Ich mag Elvira immer noch, sehr sogar, aber ich halte es da drin einfach nicht mehr aus. Jedes Mal, wenn ich heimkomme, liegt wieder ein neues Trumm mehr rum, und ich kann nichts dagegen tun. Sie will es einfach nicht begreifen.‹«

»Wissen Sie, ob sich die beiden nach Herrn Platzers Auszug zumindest ab und zu gesehen haben?«

»Das haben sie sicherlich nicht. Frau Platzer hatte nämlich kein Verständnis für seine Flucht, als die ich seinen Auszug gesehen habe. Nicht das geringste. Sie war der Überzeugung, er liebte sie nicht mehr. Das war auch eines von diesen Themen, worüber man mit ihr nicht reden konnte. Genau wie über ihre Sammelwut. Da hatte ihr Exmann schon recht: In diesem Punkt war sie ganz und gar uneinsichtig.«

Paula notierte sich den Namen des Mannes und fragte: »Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, ob, und wenn ja, wo Frau Platzer gearbeitet hat?«

»Gleich hier ums Eck, im Philipp-Melanchthon-Heim. Als Altenpflegerin. Wie sie mir anvertraut hatte, gab es da in den vergangenen Monaten aber auch viel Ärger. Sie hatte das Gefühl, man wolle sie rausekeln, wegmobben.«

»Warum? Was ist vorgefallen? Hat sie Ihnen das auch erzählt?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung. Darüber wollte sie nicht reden. Und ich habe sie auch nicht gefragt, weil sie sich mir offensichtlich nicht näher anvertrauen wollte. Obwohl mir das schon seltsam vorkam. Bei so etwas müssen doch konkrete Gründe vorliegen, irgendetwas, was man ihr zum Vorwurf machte.«

»Nicht unbedingt. Mobbing-Geschichten können durchaus auch aus dem Nichts entstehen und sich dann so lange hochschaukeln, bis der- oder diejenige resigniert aufgibt. Aber das, also aufgeben, wollte sie anscheinend nicht?«

»Sie hat hin und wieder mit dem Gedanken gespielt. Aber ich habe ihr stets aufs Neue davon abgeraten, eindringlich abgeraten. Sie dürfe nicht aufgeben, gerade in den heutigen Zeiten. Sie müsse sich behaupten und solle sich nicht um ihren sicheren Arbeitsplatz bringen lassen.«

»Gut, das wär’s für Erste, Frau Vogel. Ach ja, eines noch: Hatte Frau Platzer außer ihrem Exmann noch Angehörige, Eltern oder Geschwister?«

Frau Vogel antwortete, sie wisse nur von der Mutter, die ihre Nachbarin regelmäßig, mindestens einmal pro Woche, besucht habe. Paula notierte sich Namen und Anschrift und dankte Frau Vogel erneut für die Auskünfte, eine Spur zu überschwänglich. Schließlich würde sie die Zeugin sicher noch öfter in Anspruch nehmen müssen.

Als Paula bereits den Griff der Wohnungstür in der Hand hielt, sagte Elisabeth Vogel: »Ich muss das erst verdauen. Dass sie tot ist, hatte ich ja schon geahnt, seit diesem roten Fleck auf dem Fußabstreifer. Aber dass sie ermordet wurde … Ich verstehe das einfach nicht.«

Paula nickte ihr ein weiteres Mal zu und stieg dann gedankenvoll die Treppen hinab und verließ das Haus.

Als sie bereits in die Händelstraße eingebogen war, blieb sie abrupt stehen. Kehrte zur Eichendorffstraße Nummer 73 zurück und fragte die beiden jungen Schutzpolizisten nach ihrem Namen und Dienstrang. Bei dem, was ihr nun bevorstand, brauchte sie eventuell Zeugen.

Auf der Fahrt Richtung Innenstadt überlegte sie, dass, wer eine Pflichtverletzung mit einer Suspendierung ahnden will, sich umgekehrt keine derartige leisten kann. Das hieß: Sie musste Fleischmann vorab informieren, persönlich informieren. Das hieß weiter: Sie musste es schaffen, das größte Hindernis auf diesem Weg zügig zu umschiffen.

Noch bevor sie in die Äußere Sulzbacher Straße abgebogen war, hatte sie sich für dieses Vorhaben eine hochsensible Strategie zurechtgelegt, wie sie Sandra Reußinger, Fleischmanns Sekretärin und ihre Intimfeindin Nummer eins, schachmatt setzen konnte. Und zwar mit einer Strategie, die ihrer Ansicht nach an Schläue und Raffinesse durch nichts zu überbieten war.