6
Noch bevor sie ihr Stalker belästigen konnte, weckte sie am nächsten Morgen das Telefon aus dem Schlaf. Sie sah auf das Display: Es zeigte die Handynummer von Paul Zankl, der um diese Uhrzeit nicht mehr daheim, aber auch noch nicht an seinem Arbeitsplatz sein konnte. In dem bangen Gefühl, dass ihm etwas passiert war und er ihre Hilfe brauchte, nahm sie den Hörer ab.
»Ja, Paul, ist was?«
»Guten Morgen erst mal, nein, es ist nichts. Oder doch, natürlich ist was. Deshalb rufe ich ja an. Wir zwei haben heute eine Verabredung. Du erinnerst dich doch sicher, um halb sechs vor dem Polizeipräsidium.«
Oh, das Fußballspiel, das hatte sie tatsächlich vergessen. Erst jetzt, in diesem Augenblick, erinnerte sie sich an ihre Verabredung. Und so antwortete sie mit dem schlechten Gewissen der um ein Haar Ertappten: »Natürlich. Meinst du, ich vergesse so was?«
»Na, sicher war ich mir nicht. Aber dann ist ja alles in Ordnung. Also bis heute Nachmittag. Und bring gute Laune mit. Ich fürchte, die werden wir brauchen. Schalke spielt nämlich in letzter Zeit sehr stark.« Dann beendete er das Gespräch.
Das auch noch. Ihr Vorhaben, sich heute in der Eichendorffstraße einzuigeln und dort ohne Zeitlimit das Oberste zuunterst zu kehren, sprich: nach Hinweisen zu fahnden, war damit geplatzt. Somit würde sie das auf den Samstag verschieben. Schließlich hatte sie an diesem Tag sowieso Bereitschaftsdienst.
Nachdem sie Kaffee aufgesetzt, das Ei in den Wassertopf gelegt und den Küchentisch hübsch eingedeckt hatte, stellte sie sich ans Fenster und blickte auf ihre Burg, die wie immer um diese Zeit eine ergreifende Ruhe und Erhabenheit ausstrahlte. Erfreut registrierte sie das verheißungsvolle Blassblau des Himmels, das im Laufe des Tages zu einem satten wolkenlosen Blau mutieren würde, welches auch der Sonne zu ihrem Recht verhalf.
An der niedrigen Steinmauer vor dem Burggraben lehnte eine Frau und schien zu ihr heraufzusehen. Sie kniff die Augen fest zusammen und betrachtete die Gestalt mit dem rotblonden Haar genauer. Erschrocken tat sie einen Schritt zur Seite und stellte sich hinter die blickgeschützte Wand. Das durfte doch nicht wahr sein … das war doch nicht möglich … oder doch? Schnell lief sie ins Wohnzimmer, holte sich die Brille, die noch auf dem Couchtisch lag, und setzte sie auf. Dann huschte sie in die Küche zurück, gebückt und darauf bedacht, dass man sie von der Straße her nicht sehen konnte, und bezog vorsichtig Stellung am linken Fensterrahmen.
Ihr dritter Blick, nun geschärft durch die Sehhilfe, bestätigte, was sie befürchtet hatte: Tatsächlich, das war Eva Brunner, die da an der Steinmauer lehnte und in aller Seelenruhe darauf zu warten schien, sie an der Haustür abzufangen. Für Paula wirkte das wie eine Herausforderung zu einem Duell.
Mit dieser Hartnäckigkeit ihrer Mitarbeiterin, die schon Züge der Aufdringlichkeit trug, hatte sie nicht gerechnet. Sie setzte sich an den Küchentisch und dachte nach. Was wollte die Anwärterin von ihr? Wahrscheinlich reden, ja, aber worüber und mit welcher Absicht? Sie kam zu dem Schluss, dass da draußen eine Gefahr lauerte, die umso bedrohlicher schien, als sie nicht wusste, aus welcher Richtung das Gefecht eröffnet werden würde. Es war vor allem diese Ungewissheit, die sie bei der unvermeidbaren Begegnung störte. Paula hatte die Sachen gern im Griff.
Nachdem sie sich ihre Taktik – und zwar die des bedeutungsvollen Schweigens bis zur allerallerletzten Minute –, die ihr speziell für diese Situation äußerst raffiniert zu sein schien, für das Treffen draußen auf der Straße zurechtgelegt hatte, schenkte sie sich den Kaffee ein und klopfte das Ei auf. Gab sich Mühe, das opulente Frühstück, auf das sie sich schon seit gestern Abend gefreut hatte, zu genießen. Besonders gut gelang ihr das nicht.
Eine gute halbe Stunde später verließ sie die Wohnung. Unten vor der Haustür blieb sie stehen. Eva Brunner winkte zaghaft und kam dann über die Straße auf sie zu. Ohne jeden Morgengruß eröffnete sie das Gespräch.
»Mein Papa hat gemeint, wenn ich noch irgendeine Chance bei Ihnen hätte, dann nur, wenn ich mit Ihnen persönlich rede.«
Paula war so perplex, dass sie augenblicklich ihre äußerst ausgebuffte Taktik vergaß und, statt bedeutungsvoll zu schweigen, nachfragte. »Welche Chance?«
»Na ja, dass ich halt wieder zu Ihnen zurückkehren kann und nicht in Trommens Kommission wechseln muss.«
Wieder folgte kein strategisch bedeutungsschwangeres Schweigen, sondern die neugierige Frage: »Warum?«
»Weil es bei Ihnen viel aufregender, lehrreicher und auch schöner ist als bei Trommen. Beziehungsweise in allen anderen Mordkommissionen.«
»Schöner? Das hat aber vor Kurzem noch ganz anders geklungen, Frau Brunner. Sie haben doch selbst gesagt, das ist Ihnen alles viel zu eng und zu wenig professionell bei uns. Weil wir doch nur die Pamperl-Fälle haben, was ja auch stimmt. Sie wollten doch ausdrücklich in eine größere Kommission wechseln, in eine, die auch spektakulärere Fälle bearbeitet als wir, also als Herr Bartels und ich.«
»Das hab ich doch nicht ernst gemeint, das müssen Sie mir glauben. Das hab ich doch überhaupt nicht ernst gemeint. Ganz im Gegenteil. Das hab ich doch nur gesagt, damit ich nicht so blöd vor Ihnen dastehe. Noch blöder als ohnehin.«
Paula hatte Mühe, ihre Immer-noch-Mitarbeiterin zu verstehen, akustisch zu verstehen, so leise, wie diese sprach. Auch wenn Eva Brunner ihrem geraden Blick standzuhalten versuchte. Das wiederum gefiel ihr.
»… nachdem ich mich am Dienstag so aufgeführt habe. Ihnen gegenüber.«
»Stimmt, das haben Sie. Und nicht nur am vergangenen Dienstag. Mir ist auch schon vorher aufgefallen, und zwar sehr unangenehm aufgefallen, dass Ihnen die Lust an der Arbeit vergangen sein muss. So pampig und anmaßend, wie Sie in den letzten Wochen waren.«
Nach einem vorübergehenden Zugeständnis an ihre Strategie, das heißt: nach einer bedeutungsvollen Pause, fügte sie hinzu: »Ich glaube halt, dass Ihnen das, was Sie heute sagen, schon in kurzer Zeit leidtun wird. Dass Sie sich in Trommens Kommission doch wohler fühlen …«
»Nein, überhaupt nicht, Frau Steiner«, wurde sie unterbrochen, sehr lebhaft und diesmal sehr gut zu verstehen, »wirklich nicht. Ich hatte doch jetzt genug Zeit zum Nachdenken, und ich hab diese Zeit auch genutzt, wie Sie mir geraten hatten. Ich will wieder zu Ihnen. Bitte. Wenn das irgendwie möglich wäre. Bitte überlegen Sie sich das doch noch mal mit mir.« Eva Brunner brachte bei ihrer Bitte sogar die Andeutung eines Lächelns zustande.
Paula hörte die Ernsthaftigkeit dieses dringenden Wunsches, blieb aber skeptisch.
»Gut, überlegen werde ich es mir«, versprach sie. »Und trotzdem hätte ich gern eine Erklärung von Ihnen gehört, was Sie zu Ihrem Verhalten in letzter Zeit geführt hat, das ja so ganz anders war als noch zu Beginn Ihrer Tätigkeit bei uns. Denn so etwas von der Art, was da am Dienstagvormittag vorgefallen ist, möchte ich nicht noch mal erleben.«
Da reagierte ihre sonst so redselige bis leider auch geschwätzige Mitarbeiterin völlig unerwartet – sie sagte nämlich nichts.
»Sie haben anscheinend auch keine Erklärung dafür.«
»Doch, schon. Aber ich weiß nicht, wie ich das jetzt ausdrücken soll.«
»Am besten so, dass ich es auch verstehe«, wurde sie von ihrer Vorgesetzten mehr ermuntert als aufgefordert.
»Also ich glaube halt, dass ich mich deswegen so danebenbenommen habe, weil … na ja, weil Sie und Heinrich sich doch so gut verstehen. Da habe ich anscheinend keine andere Möglichkeit gesehen, mich vor Ihnen zu behaupten, als dass ich mich entsprechend aufführe. Das hat auch mein Papa gemeint.«
»Was? Das habe ich jetzt nicht verstanden. Das müssen Sie mir schon genauer erklären.«
Und da zeigte Eva Brunner endlich wieder ihr wahres Gesicht und redete und redete und …
»… will ich damit nicht sagen, dass ich mir wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen vorkam, aber es geht schon in die Richtung … hatte ich immer das Gefühl, Sie schätzen Heinrich mehr als mich … obwohl, das stimmt schon, ich genau wie er bei allen Einsätzen dabei war … und trotzdem war ich überzeugt, wenn ich mal gehe, dass mir keiner eine Träne hinterherweint, weder Sie noch Heinrich … im Prinzip haben Sie und Heinrich ja auch alles gemacht, die ganzen Fälle gelöst … mich braucht’s doch gar nicht in diesem Team, das habe ich mir oft gedacht … Sie stehen ja auch so«, sie presste Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand zusammen, »zueinander, da passt kein Blatt Papier dazwischen …«
So viele Worte zu einer so frühen Zeit, das überforderte Paulas Aufnahmekapazität. Immer wieder schaltete sich – und das durchaus gegen ihren Willen – ihre auditive Hirnrinde selbsttätig ab, sodass sie von Eva Brunners Ansprache nur einzelne Satzfetzen mitbekam.
»Die kriegen das auch so hin, ohne mich … freilich ist das eine subjektive Ansicht von mir, das weiß ich, die gar nicht stimmen muss, aber … ganz oben stehen Sie, gleich daneben Heinrich, und wo steh ich eigentlich, das hab ich mich oft gefragt … obwohl Sie sich mir gegenüber nie, wirklich nie gönnerhaft gezeigt haben, also ein Lob ohne Ressourcen verteilt haben, wie das bei vielen Chefs jetzt so üblich ist, vor allem bei männlichen Chefs, die verteilen gern so Komplimente ohne jede Folgen, also ein Lob ohne Ressourcen, weil es …«
»Ich weiß, was ein Lob ohne Ressourcen ist«, sagte sie so ungehalten wie unaufrichtig.
»Ja, natürlich. Ich will damit auch nur sagen: Wenn Sie mich mal gelobt haben, dann hatte ich schon den Eindruck, Sie meinen es …«
»Und dann haben Sie sich gedacht«, unterbrach Paula schließlich diesen wortreichen Erguss, dem zudem am Schluss noch eine Kostprobe von Eva Brunners Lieblingslektüre »Psychologie heute« beigemischt war, »so, und jetzt ändere ich mal die Reihenfolge, jetzt stelle ich mich mal an die Spitze. Sollen die anderen doch mal sehen, wie das ist. Oder?«
»Ja. So ungefähr.«
Offen gesagt wusste Paula nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Irgendetwas fehlte ihr in der Brunner’schen Offenbarungskette noch. Doch auch das wurde jetzt prompt nachgeliefert.
»Ich entschuldige mich bei Ihnen, Frau Steiner. Es tut mir ganz furchtbar leid, alles. Und Sie können sicher sein, dass sich das nicht wiederholen wird. Nie! Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich das mit mir noch mal in aller Ruhe überlegen würden. Bitte nehmen Sie zumindest meine Entschuldigung an.«
Erwartungsvoll sah die Anwärterin sie mit jetzt vor Anstrengung geröteten Wangen an.
»Gut, Ihre Entschuldigung akzeptiere ich. Und am Montagmorgen sage ich Ihnen Bescheid, wie ich mich entschieden habe.«
»Früher geht es wohl nicht? Am Sonntag zum Beispiel?«
»Nein. Am Montag in der Früh. So, und jetzt muss ich mich auf den Weg machen.«
Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und ging raschen Schrittes den Vestnertorgraben nach rechts. Gerne hätte sie sich noch einmal umgedreht, um nach Eva Brunner zu sehen. Doch da sie sich diese Blöße der Neugier nicht geben wollte, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als weiterzugehen, bis sie sich endlich im Schutz der Burg unbeobachtet und sicher fühlte.
Dort, in der Mitte des niedrigen, langen und immer leicht modrig riechenden Tunnels, der den Graben mit der Innenanlage der Burg verband, blieb sie stehen, kramte aus ihrer Handtasche die Reservepackung für Notfälle hervor, zündete sich die zweite Zigarette des Tages an und blaffte einen Touristen, der sie und vor allem die glimmende Zigarette böse und tadelnd anstarrte, wutentbrannt an: »Ist was? Passt Ihnen was nicht an mir?«
Hatte sie sich richtig verhalten? Oder hätte sie Eva Brunners Ansinnen kategorisch ablehnen sollen, gleich von Anfang an? Dass sie die Entschuldigung angenommen hatte, war auf jeden Fall richtig. Doch, ja. Sie war ja nicht nachtragend. Aber dass sie ihr das Versprechen gegeben hatte, die »ganze Sache« nochmals zu überdenken, war vielleicht voreilig gewesen? Obwohl, nein. Überdenken hieß ja nicht, dass sie jetzt verpflichtet war, sie wieder aufzunehmen. Überdenken hieß überdenken. Nicht mehr, nicht weniger. Das würde sie am Wochenende machen, das Pro und Contra abwägen – am besten schriftlich – und dann sicher zu einem Entschluss kommen, der Bestand haben würde. Jetzt nicht. Dazu brauchte sie Ruhe.
Drei Minuten später, sie stieg die steilen Steinstufen des Burgbergs hinab, hatte sie sich bereits entschieden. Ohne Ruhe, ohne Pro und Contra und ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre. Bewusst war ihr in dem Augenblick nur, dass sie sich über die Vorstellung schlichtweg freute, wieder in dieses Gesicht schauen zu können, auf dem der Arbeitseifer und die Leidenschaft nur so brannten, zumindest in der Vergangenheit gebrannt hatten. Und heute, bei diesem Gespräch vor dem Burggraben. Das vor allem hatte sie in den vergangenen Tagen am meisten vermisst. Diese ansteckende, mitreißende Begeisterung von Eva Brunner für das, was sie tat.
Mit diesem instinktiven Entschluss hatte sie sich gleichzeitig auch von dem Führungsmodell des Kollegen Trommen verabschiedet, das ihr bis vor Kurzem noch so verlockend erschienen war. Von dessen zwar intakter und nach außen hin auch bestens funktionierender linearer Befehlsstruktur. Aber oben und unten – ihr lag das nicht. Wahrscheinlich weil es sie zu sehr in die Pflicht nahm. Weil sie dann bei allem, was sie tat, auf einen sehr engen, kleinen Rahmen festgelegt war. Sie war ja nicht Hauptkommissarin geworden, um machtpolitische Spielchen zu organisieren, sondern um einigermaßen frei über ihren eigenen Arbeitsstil entscheiden zu können. Und überhaupt, das mit den strammen Hierarchien widersprach zu sehr ihrer Vorstellung von Gemütlichkeit, von einer Arbeitsatmosphäre, in der zuallererst sie sich wohlfühlen konnte.
Als sie vor dem Hauptmarkt stand, auf dem die ersten Händler ihre Obst- und Gemüsekisten ausluden, hatte Trommens Modell von Oben und Unten, von Befehl und Gehorsam endgültig ausgedient. Paula Steiner war wieder zu ihrem eigenen Modell zurückgekehrt. Zu dieser vielschichtigen und mitunter anstrengenden Allianz aus Loyalität und Leidenschaft. Sie wusste, dass das eine nicht ohne das andere zu haben war. Und intuitiv ahnte sie, dass ihre Kommission umso effizienter arbeitete, je weniger sie selbst mit den Keulen der Unterdrückung hantierte. Dass Einfühlungsvermögen und Macht keine Widersprüche sein müssen. Im Gegenteil. Dass sogar das eine zur Optimierung des anderen beitragen kann. In einer scheinbar machtfreien Sphäre.
Auf dem Flur im zweiten Stock sprach Jörg Trommen sie an.
»Ich hab gehört, du willst die Brunner loswerden. Ich nehme sie dir ab. Gern sogar. Wir brauchen immer fähige Leute.«
»Du täuschst dich, ich will Frau Brunner nicht loswerden. Ich brauche nämlich auch fähige Leute.«
»Aber Fleischmann hat doch gesagt, du hast sie suspendiert und versuchst jetzt, sie …«
Diesen durchaus richtigen Einwand überhörte sie und fragte stattdessen: »Weißt du überhaupt, was ein Lob ohne Ressourcen ist?«
»Ein Lob ohne Ressourcen, was soll das sein?«
»Du weißt es nicht, das hatte ich schon befürchtet.«
Damit verschwand sie in ihrem Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Sie bedachte Heinrich mit einem beiläufigen »Guten Morgen, gleich, ich muss mich erst mal schlaumachen«, dann ließ sie ihren Computer hochfahren, loggte sich ein und googelte nach »Lob ohne Ressourcen«. Sie wurde schnell fündig: Laut »Psychologie heute« handelte es sich dabei um ein gönnerhaftes Lob, das ohne Folgen bleibt, da es keine Beförderung oder Gehaltserhöhung nach sich zieht. Und das darum in der Regel von den Mitarbeiterinnen als diskriminierend empfunden wird. Männliche Mitarbeiter schienen von ihren männlichen Chefs also kein derartiges Lob spendiert zu bekommen.
Nein, solche Art Komplimente verteilte sie wirklich nicht, weil sie nämlich überhaupt keine Komplimente oder Belobigungen verteilte. Das hatte auch sein Gutes, wie sie jetzt erfuhr, denn die mit solcher Art ressourcenlosem Lob bedachten Mitarbeiterinnen reagierten darauf erst verärgert und dann mit Leistungsabfall. Vor allem jene, dachte sie, die »Psychologie heute« abonniert hatten.
»Paula, willst du jetzt hören, was ich Hochinteressantes herausgefunden habe?«
Sie sah Heinrich mit einem strahlenden Lächeln an. »Aber natürlich, ich bin schon ganz gespannt.«
Dann stand sie auf und ging zum Faxgerät. Der Vorsitzende des Nürnberger Jäger- und Jagdschutzverbandes hatte Wort gehalten und ihr die Mitgliederliste gestern Abend noch zugefaxt. Immerhin vierhundert eingeschriebene Mitglieder zählte der regionale Verband. Allerdings keines mit dem Namen Weber.
»Die Platzer war eine richtig reiche Frau. Allein auf ihrem Girokonto hatte sie gut dreißigtausend Euro. Und zwei Sparbücher hatte sie auch. Rat mal, wie viel da drauf waren?«
Ah, das Lieblingsspiel des Oberkommissars. Meist weigerte sie sich, den ahnungslosen Gegenpart bei diesen ungleichen Partien zu geben. Doch heute war ein guter Tag und sie blendender Laune. Also antwortete sie: »Auch noch mal so viel.«
»Ha«, schnaubte Heinrich verächtlich und triumphierend zugleich, »du hast recht. Aber erst, wenn du eine Null dranhängst. Exakt einhundertvierzigtausend Euro waren da auf jedem Sparbuch gebunkert. So ein altmodisches Sparbuch, das hat doch heutzutage gar keiner mehr.«
»Doch, ich. Ich bin nämlich mit dem neumodischen Sparen damals dermaßen reingefallen, dass ich mir gedacht habe: Das passiert dir nicht wieder. Ab sofort wird das Geld mündelsicher angelegt, auf einem richtigen Sparbuch, das man auch in die Hand nehmen und darin nachschauen kann, wie es wächst und wächst. Und, weiterer Vorteil, ich sehe den ganzen Zinsschwankungen sehr gelassen entgegen. Ich«, betonte sie, »kann mir sicher sein, am Ende des Jahres ist mehr drauf als am Jahresanfang. Geringfügig mehr, aber immerhin. Und genauso wird auch die Platzer gedacht haben.«
»Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht, Paula. Dass du ausgerechnet da so konservativ bist«, stellte Heinrich mit echter Verwunderung fest.
»Jawohl, da bin ich konservativ. Und ich stehe auch dazu. Warum, wie hast denn du dein Geld angelegt?«
»Welches Geld?«
»Na, komm, so schlecht verdienst du auch nicht. Dir muss doch mindestens die Hälfte deines Gehalts am Monatsende übrig bleiben.«
»Du, ich zahle schon mal unsere Miete allein, und das sind immerhin fünfhundertfünfzig Euro jeden Monat. Gut, meine Oma übernimmt die ganzen Nebenkosten, aber trotzdem … Dann erledige ich alle Einkäufe, weil ich ihr die Schlepperei nicht zumuten will, da kommt auch einiges zusammen. Also, die Hälfte bleibt mir auf keinen Fall. Vielleicht ein Viertel, wenn überhaupt. Und das leg ich brav auf die Seite, um meine HiFi-Anlage zu optimieren. Leider habe ich immer so ausgefallene Wünsche in der Richtung, sprich sehr teure. Im Augenblick spare ich auf einen Tonarm von SME, aber natürlich nicht auf einen in der noch bezahlbaren Preisklasse, sondern auf das absolute Top-Modell, auf den SME V gold für fünftausend Euro. Genau der muss es sein und kein anderer. Da sind aber die NF-Kabel schon dabei.«
»Ja, der Wahnsinn. So viel Geld für einen lumpigen Tonarm. Und wie lang sparst du da schon hin?«
»Zwei Jahre. Und im Herbst ist er fällig. Du könntest so was bestimmt locker aus der Portokasse bezahlen.«
»Pah!« Sie lachte kurz auf. »Da überschätzt oder unterschätzt du mich, je nachdem. Jetzt rat einmal, wie viel auf meinem Sparbuch – und ich habe nur ein einziges – ist?«, fragte sie.
»Vierzig- oder fünfzigtausend?«
»Exakt zwölftausend Euro.«
»Das wundert mich. Du verdienst doch gut. Und du hast – großer Vorteil in den heutigen Zeiten – eine Wohnung, die dir gehört. Du zahlst also schon mal keine Miete. Was machst denn du mit deinem ganzen Geld?«
»Ich? Ich habe zum Beispiel keine Oma, die für die ganzen Nebenkosten aufkommt. Ich muss alles selbst zahlen. Also Strom, Gas, Wasser, Telefon, Hausmeister, Hausverwaltung, Einlagen bei der Eigentümergemeinschaft für größere Reparaturen, Versicherungen – das ist wie eine zweite Miete. Dazu kommen noch Steuer, Versicherung und Benzin für mein Auto. Dann zahle ich seit zwei Jahren den Klavierunterricht für mein Patenkind, das sind im Monat auch über zweihundert Euro. Und schließlich überweise ich meiner Mutter jeden Monat noch zweihundertfünfzig Euro, damit sie einigermaßen anständig über die Runden kommt. Da bleibt nicht so viel hängen. Vielleicht ist es auch ein Viertel wie bei dir.«
Heinrich und sie hatten soeben ein Tabu gebrochen. Sie hatten über Geld gesprochen, nicht über fremdes Geld, sondern über ihre eigenen finanziellen Verhältnisse. Offen und ehrlich. Diese Offenbarung verlangte auf beiden Seiten nach einer längeren gedankenvollen Pause. Schließlich gewann das fremde Geld, die finanziellen Verhältnisse von Elvira Platzer, wieder die Oberhand.
»Im Verhältnis zu uns war die Platzer also steinreich«, sagte Heinrich.
»Nicht nur im Verhältnis zu uns. Und hat dabei doch so ein armseliges Leben geführt. Aber ich frage mich schon, woher sie all das Geld hatte. Bei einem Gehalt von zweitausendsiebenhundert Euro im Monat. Da blieben ihr als Alleinverdienerin vielleicht die Hälfte, also dreizehn-, vierzehnhundert. Und damit kommt man auf über dreihunderttausend Euro? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich mir schon«, widersprach Heinrich. »Wenn du so sparsam beziehungsweise so extrem geizig bist, wie sie es anscheinend war, da kommt schon einiges zusammen. Und du musst auch ihr hohes Alter bedenken. Die hatte ja jahrzehntelang Zeit, dieses Vermögen anzusammeln.«
»Hohes Alter? Heinrich, kann das sein, dass du nicht mehr richtig tickst? Die Platzer war einundfünfzig, als sie umgebracht wurde. Eine Frau in den besten Jahren, also fast in den besten Jahren.«
»Ach, das hatte ich ja ganz vergessen, entschuldige, damit haben wir hier ja ein Problem«, lächelte Heinrich ihr zu.
Sie ignorierte seine süffisante Bemerkung.
»Du hältst es also für möglich, dass jemand bei äußerster Sparsamkeit so viel auf die hohe Kante legen kann, nur mit seiner Arbeit?«
»Aber klar, Paula. Die Platzer war ja dreißig Jahre berufstätig. Da kommt schon was zusammen. Die hat doch an allem gespart: an der Kleidung, der Ernährung, an …«
»Trotzdem musste sie ja von was leben und was essen. Nehmen wir mal an, ach, da müssen wir uns auch noch drum kümmern, sie hatte ein Auto …«
»Ein Auto hatte sie nicht. Ich habe die Kontoauszüge der letzten Jahre überprüft, da waren keine Zahlungen für Kfz-Steuer oder Autoversicherung dabei. Also könnte meine Überlegung doch stimmen, zumindest in etwa.«
»Das glaube ich nach wie vor nicht. Aber vielleicht hat ihr Vater damals auch Bargeld an sie vererbt. Oder ihr Mann musste Miete zahlen, als er noch bei ihr wohnte.«
»Hm. Das ist bei der gut möglich. Und außerdem kann es uns doch wurscht sein, wie die das zusammengerafft hat. Tatsache ist jedenfalls, es ist da. Plus die Eigentumswohnung.«
»Du magst die Platzer nicht, gell?«
»Nein. Nach allem, was ich bisher über sie gehört habe, muss das ein habgieriger und nur an sich interessierter Mensch gewesen sein, der so gar nichts Nettes an sich hatte.«
»Und ihre schwere Vergangenheit?«
»Interessiert mich so viel wie das Schwarze unter meinen Fingernägeln. Andere haben auch eine schwere Kindheit oder viel durchgemacht, das ist doch kein Freifahrtschein, so ekelhaft zu werden, so … ja, fast schon unsozial. Und du, magst du sie denn?«
»Sie tut mir leid.«
Das tat sie wirklich.
Paula, der es manchmal nur sehr schwer gelang, auch nur einen Funken Mitgefühl für die massenhaften Opfer von Katastrophen zu empfinden, die ihr der Fernseher tagtäglich ins Wohnzimmer flutete, hatte tatsächlich Mitleid mit dieser allseits unbeliebten Frau. Auch weil sie wusste, dass sie die Einzige war, die an deren schrecklichem Tod irgendeine Form von Anteil nahm. Und an ihrem vertanen Leben.
Geld strukturierte die Welt, es organisierte das Leben, nolens volens. Doch bei Elvira Platzer, die so viel davon hatte, führte es dazu, dass ihr Leben aus dem Ruder lief. Dass es unberechenbar und chaotisch wurde. Leer und voll zugleich, einsam, in der maßlosen, erdrückenden Gesellschaft von Ramsch und Schrott. Da ging der ehemaligen Soziologiestudentin Steiner ein Zitat durch den Kopf. Es stammte von dem Soziologen Niklas Luhmann, der dem Geld eine »geradezu abartige Indifferenz und metallene Herzenskälte« attestierte.
Und wer sich so danach sehnt, sein ganzes Leben danach ausrichtet, wie es bei der Toten offensichtlich der Fall war, auf den färben diese Charaktereigenschaften irgendwann einmal ab. Man kann gar nichts dagegen tun, wird genauso kalt und gleichgültig wie das, was man im Überfluss besitzt. Und dann hatte diese Sehnsucht auch andere gepackt und Elvira Platzer zu Fall gebracht. Gleich zweimal zu Fall gebracht.
»Ich denke«, sagte Paula, »das Motiv ist jetzt klar: Es geht ums Geld. Beide Male.«
»Ja, das habe ich ja von Anfang an geglaubt. Geld ist immer ein gutes Motiv.«
Dann erzählte sie ihm von ihrem Gespräch von heute Morgen vor der Haustür. Nur das Nötigste. Dass Frau Brunner sich bei ihr entschuldigt habe, dass sie unbedingt zu ihnen beiden zurückkehren wolle und dass sie, Paula, ihr versprochen habe, das zu überdenken. Von den Gründen, die zu dem auffälligen Verhaltenswechsel der Anwärterin geführt hatten, sagte sie nichts.
»Du hast ja gestern schon angedeutet, dass wir sie deiner Meinung nach wieder aufnehmen könnten. Oder täusche ich mich da?«
»Nein, du täuschst dich nicht. Meinetwegen kann sie ruhig wiederkommen. Aber letztendlich ist das doch deine Entscheidung, Paula. Und wenn sie wieder das Spinnen anfängt?«
»Dann fliegt sie hochkantig raus. Und zwar endgültig. Doch ich bin überzeugt, dass sich das nicht wiederholen wird. Mal etwas anderes: Weißt du eigentlich, was ein Lob ohne Ressourcen ist?«
»Aber natürlich. Das ist ein folgenloses Lob, wird vor allem gern von männlichen Chefs an weibliche Mitarbeiterinnen verteilt, um sie ruhigzustellen. Damit sie auf der Karriereleiter nicht weiter nach oben oder gar mehr Geld haben wollen. Kommt aber in der Regel überhaupt nicht gut an bei den so mit Lob überhäuften Damen. Da staunst du, wie gut ich informiert bin?«
»Schon, ja.«
»Habe ich aber aus zweiter Hand«, lächelte er. »Die Eva hat mich immer – ich betone: immer – auf dem Laufenden gehalten, was in ihrem Psychologie-Heftel so drinsteht. Ich weiß alles, bis ins kleinste Detail. Und jetzt frag mich mal, ob ich das alles wissen will.«
»Ich fürchte, nein.« Sie musste lachen.
»Da hast du vollkommen recht. Diese ganze Psycho-Schiene interessiert mich überhaupt nicht.«
»Frau Brunner sagte nämlich heute Morgen, dass ich kein derartiges Lob, also ein Lob ohne Ressourcen, ausspreche. Und ich hatte den Eindruck, das meinte sie durchaus positiv.«
»Da hat sie vollkommen recht, mit dem Lob. Weil du nämlich gar nicht lobst, nie. Weder mit noch ohne Ressourcen.«
»Fehlt dir das manchmal?«
»Ach nein, ich kenne dich ja. Das passt schon so.«
Sie nahm sich vor, in Zukunft besser darauf zu achten, überdurchschnittliche Leistungen ihrer Mitarbeiter zu würdigen. Und da man solche Vorhaben nicht auf die lange Bank schieben soll, machte sie jetzt gleich beherzt den Anfang.
»Auf jeden Fall bin ich dir sehr dankbar, dass du mir sofort zu Hilfe gekommen bist am Mittwoch. Das wollte ich bloß mal in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen. Und auch dass du so schnell die Konteneinsicht beantragt hast, finde ich ganz prima. Danke.«
»Mensch, Paula, das ist doch Routinearbeit, das ist nichts Besonderes. Dafür bin ich ja da.«
»Schon, aber bei mir hätte es viel länger gedauert.«
Sie hatte den Eindruck, dass ihr Lob Heinrich vollkommen egal war. Da gab sie ihr Vorhaben wieder auf. Denn im Prinzip hatte er ja recht: Dazu war er da und dafür wurde er bezahlt, damit er solche Arbeiten erledigte.
»Hast du jetzt schon die Konten ausgewertet?«
»Ja, noch nicht bis ins letzte Detail, das mache ich dann im Anschluss, aber einen Überblick hab ich mir verschafft. Also, die Rupp steht finanziell gut da, zwar nicht so gut wie ihre Tochter, aber sie hat eine Witwenrente und eine fast so hohe eigene Rente. Keine Schulden.«
»So, na ja, das habe ich mir fast schon gedacht. Und bei der Familie Weber, wie sieht es da aus?«
»Nicht so rosig. Frank Weber hat schon seit Längerem mit Schulden zu kämpfen. Er und seine Frau haben sich wohl bei dem Hauskauf finanziell übernommen. Die Mitarbeiterin der Sparkasse, bei der ich nachgefragt habe, sagte mir, dass sie ihm im letzten Jahr die Zwangsversteigerung des Hauses ankündigen mussten. Die wusste auch von seiner langjährigen Arbeitslosigkeit. Dem ist einfach peu à peu das Geld ausgegangen. Im Herbst letzten Jahres hat er das Haus dann auf seine Töchter überschreiben lassen. Die beiden kommen den Verbindlichkeiten zwar besser nach als ihr Vater, aber es reicht halt hinten und vorn nicht. Zumal ja nur die eine, diese Jeannette, ein geregeltes Einkommen hat.«
»Aha. Das ist doch schon mal was. Da haben sie uns also angelogen. Und insofern werden wir ihnen demnächst wieder einen Besuch abstatten. Ach nein, die laden wir vor. Alle drei. Und vernehmen sie getrennt. Und wie schaut es bei Herrn Platzer aus?«
»Genau wie bei der Rupp: keine Schulden, nichts Auffälliges. Aber große Sprünge kann er auch nicht machen.«
»Was ist eigentlich aus den Phantombildern geworden? Sind die zwei Zeugen gestern noch gekommen?«
»Das hätte ich jetzt fast vergessen.« Heinrich griff unter seine aufgeschlagene Zeitung und hielt ihr eine dieser hellgrauen Akten entgegen, wie sie im Präsidium benutzt wurden. »Das ist was zum Lachen.«
Sie schlug die Akte auf, sah sich die beiden Computerausdrucke an und – musste tatsächlich hellauf lachen. Die Zeichnungen zeigten zwei Männerköpfe, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Der eine hatte ein rundes Gesicht, eine Stupsnase, große dunkle Augen, volle Lippen und Wangen, der andere schmale helle Augen, dünne Lippen, eine gekrümmte Nase und eingefallene Wangen. Nur in zwei Punkten stimmten die Porträts überein: in der dunklen Baseballkappe und dem funkelnden Ohrstecker im linken Ohr, den beide Zeichnungen aufwiesen. Die Kappe hatte zudem in der Mitte über dem Schirm ein kreisrundes Logo, das nicht näher ausgeführt war.
Paula kam die Schatztüte des Opfers in den Sinn. Die Kappe, die, wenn sie sich richtig erinnerte, oberhalb des Schirms doch ebenfalls einen runden Aufdruck – oder war es eine Stickerei? – aufwies. Jetzt bedauerte sie, die Plastiktüte samt Inhalt daheim gelassen zu haben. Sie hatte Eva Brunner nicht mit so einer billigen Discounter-Tasche gegenübertreten wollen. Aber vielleicht hatte diese Ähnlichkeit auch gar nichts zu bedeuten? Mit Sicherheit hatte sie das nicht.
»Na ja«, sagte sie nach einer Weile, »für eine Öffentlichkeitsfahndung gibt das nichts her. Aber es ist trotzdem besser als gar nichts.«
Heinrich, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte, meinte dazu nur: »Das hilft uns doch in keiner Weise weiter. Das reicht nicht mal für einen Fahndungsanhalt. Was glaubst du, wie viele allein hier in Nürnberg mit so etwas umeinanderlaufen? Mit so einem Ohrring und so einer Kappe. Zehntausende!«
»Ehrlich? Bei der Kappe geb ich dir recht, aber nicht bei dem speziellen Stecker. Das ist kein normaler Ohrstecker, der ist mit einem Hochkaräter besetzt. So was kann sich doch nicht jeder leisten.«
»Ach, Paula, von manchem hast du wirklich wenig Ahnung. Auch so was kriegt man doch heutzutage billig.«
»Ich kenn keinen Mann, der mit einem Brillantohrstecker rumläuft. Du?«
»Also direkt auch nicht …«
»Na eben. Und darum ist das eine wichtige Spur für uns, der wir nachgehen werden.«
»Ach nein«, stöhnte Heinrich, »das bringt doch nichts. Das widerspricht jeder Art von Ermittlungsökonomie.«
Sie schwieg. Nachdem sein Einspruch bei ihr ohne die gewünschten Folgen blieb, setzte er ironisch hinzu: »Und wie willst du dieser Spur nachgehen? Wahrscheinlich mit einer auf breiter Front angelegten Rasterfahndung im Großraum Nürnberg?«
»Nein«, antwortete sie lächelnd. »Das machen wir alles selbst, dazu brauchen wir keine Rasterfahndung. Dafür haben wir unsere Frau Brunner, die am Montag wieder im Einsatz ist. Die wird eine entsprechende Umfeldbefragung machen. Und das ist ausgesprochen ermittlungsökonomisch. Denn erstens haben wir bis jetzt nur wenige Verdächtige, und zweitens ist sie dafür bestens geeignet. Sie war ja bei keiner Vernehmung dabei, man kennt sie also nicht. Und drittens macht sie solche Befragungen gern, hat sie mir mal gesagt.«
»Ja, das hat was. Das ist eigentlich sehr gut«, sagte Heinrich nach einer Weile anerkennend. »Und du bist dir sicher, dass sie am Montag wieder hier ist? Fleischmann muss doch erst die Suspendierung aufheben.«
»Genau, darum werde ich mich als Erstes kümmern. Und du nimmst dir, wenn du mit den Konten fertig bist, die Mitgliederliste von diesem Jagdverband vor. Von den Webers scheint allerdings keiner dabei zu sein.« Sie legte ihm die zehn Blätter auf den Schreibtisch.
Und da das selbst in ihren Ohren noch sehr hierarchisch-dominant klang und sie sich doch von Trommens Führungsstil endgültig verabschiedet hatte, setzte sie noch ein verbindliches »Bitte« hinzu.
Heinrich nickte und vertiefte sich wieder in seine Kontenunterlagen, nachdem er die Mitgliedsliste ein wenig unwillig zur Seite geschoben hatte.
Jetzt der Brief an Fleischmann. Sie hatte sich gegen ein persönliches Gespräch mit ihrem Vorgesetzten entschieden. Zu groß war die Gefahr, dass er versuchen würde, ihr die Aufhebung der Suspendierung wieder auszureden. Das musste ein Schreiben werden, das ihm gar keine andere Möglichkeit ließ, als ihrem Gesuch wohlwollend stattzugeben. Nur – wie formulierte man so einen Antrag, der im Grunde die Bewilligung des Chefs schon voraussetzte, der also weniger ein Gesuch als vielmehr eine Information war über ihre, Paula Steiners, Entscheidung, die Anwärterin Brunner ab kommenden Montag wieder in ihre Kommission aufzunehmen?
Über eine Stunde kostete sie dieser Brief, in dem sie Fleischmann bis ins kleinste Detail über ihr morgendliches Gespräch und ebenso ausführlich über ihre Gründe, es nochmals mit Frau Brunner zu versuchen, ins Bild setzte. Am Ende hatte sie ein leichtes Ziehen in der rechten Stirnhälfte. Sie las sich die Mail durch und erschrak. Zu viele salbungsvolle Exkurse über Fairness, menschliches Augenblicksversagen und den Diensteifer der Jugend, zu viel, was nach einer Rechtfertigung aussah, und zu wenig, was nach seiner bereits von ihr vorweggenommenen Entscheidung klang. Sie markierte die dreiundvierzig Zeilen, löschte sie und schrieb dann unter die Anrede:
Hiermit möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir die Suspendierung von Frau Brunner mit Wirkung vom kommenden Montag wieder aufheben. Ein eingehendes Gespräch mit ihr hat uns davon überzeugt, dass ein derartiges Verhalten bei ihr in Zukunft ausgeschlossen ist. Ihr Einverständnis in dieser Sache vorausgesetzt, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen,
P. Steiner.
Jawohl – sie war nicht wenig stolz auf sich –, so schreibt man ein Gesuch, das dessen Bewilligung schon vorwegnimmt. Das keine Ablehnung duldet.
Und da sie gerade in der richtigen Formulierlaune zu sein schien, kam gleich anschließend die zweitwichtigste Mail der Woche zum Zug. Dieses Mal wurden die »lieben Kolleginnen und Kollegen« darüber in »Kenntnis gesetzt«, dass sie ihren runden Geburtstag »leider nicht« werde feiern können. Sie bearbeite derzeit einen dringenden Fall, bei dem Eile geboten sei und der zudem aufgrund seiner Komplexität ihre ganze Zeit und Aufmerksamkeit fordere. Doch habe die ausgefallene Feier auch ihr Gutes, setzte sie neckisch hinzu, denn damit würden sich ja auch das an diesen Tagen übliche Geschenk sowie die damit verbundene Arbeit des Geldeintreibens erübrigen. In dem Wissen, dass die »lieben Kolleginnen und Kollegen« dafür »sicher Verständnis haben werden«, schloss sie das Schreiben.
Als sie auch diese Mail abgesendet hatte, klingelte das Telefon. Ohne auf die Nummer zu sehen, nahm sie ab und meldete sich mit einem forschen »Ja, bitte«.
»Fleischmann. Ich habe soeben Ihre Mail gelesen, Frau Steiner, und habe dazu doch noch ein paar Fragen, wenn Sie gestatten. Wer ist wir und uns?«
Sie musste erst eine Weile überlegen, bevor sie verstand, was er meinte. »Das sind Herr Bartels und ich. Denn ich denke, es ist für ihn genauso wichtig wie für mich, dass er mit dieser Entscheidung einverstanden ist. Also damit, dass wir Frau Brunner wieder in unser Team aufnehmen.«
»Aha. Bemerkenswert finde ich auch Ihre Formulierung ›Ihr Einverständnis in dieser Sache vorausgesetzt‹. Da weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll. Ist das nun eine Frage an mich oder eine Feststellung?«
»Natürlich eine Frage, Herr Fleischmann.« Diesmal kam die Antwort umgehend.
»So, eine Frage. Sie fragen mich also, ob ich mit Ihrer Entscheidung – oder sollten wir nicht besser sagen: mit Ihrem Wunsch – einverstanden bin.«
»Ja.«
»Dann erzählen Sie mir doch mal, welche Gründe Ihrer Meinung nach für die Aufhebung dieser Suspendierung, also für Ihren doch sehr überraschenden Gesinnungswechsel sprechen. Denn noch vor drei Tagen hatten Sie mich ausdrücklich gebeten, Frau Brunner in Trommens Kommission zu versetzen.«
Jetzt bedauerte sie, Mail Nummer eins schon gelöscht zu haben, sonst hätte sie diese nun einfach ablesen können. So aber musste sie aus dem Stegreif referieren. Es wurde ein langes, stellenweise konfuses und auch sehr emotionales Referat, das Fleischmann mit einem verhängnisvollen Schweigen parierte.
»Und außerdem brauche ich Frau Brunner für unseren derzeitigen Fall. Dringend. Sie wird eine wichtige Befragung auf breiter Front ab nächster Woche allein übernehmen müssen, da Herr Bartels und ich anderweitig beschäftigt sind«, setzte sie hinzu, in der Hoffnung, mit dieser Zusatzinformation weitere Nachfragen zu verhindern. Eine vergebliche Hoffnung.
»Ach ja, der Fall Platzer, der ja Ihre ganze Zeit und Aufmerksamkeit erfordert, sodass Sie sogar Ihre Geburtstagsfeier ausfallen lassen müssen. Ich wusste gar nicht, dass Sie da unter so großem Zeitdruck stehen, Frau Steiner. Von meiner Seite kann das aber nicht kommen.«
»Wir bemühen uns, jeden Fall zügig zu lösen, Herr Fleischmann. Und meist gelingt uns das ja auch.«
Eine Plattitüde, die unkommentiert blieb. »Gut, dann gehe ich davon aus, dass Sie sich die Suspendierungsaufhebung gut überlegt haben. Und erkläre Ihnen hiermit mein Einverständnis.«
Sie dankte ihm dafür und wollte das Gespräch schon beenden, als er sie noch fragte: »Und ich gehe davon aus, dass Sie sich das mit der Ausladung zu Ihrem Geburtstag auch gut überlegt haben, oder?«
»Auf jeden Fall, Herr Fleischmann. Es geht halt im Moment nicht anders.«
»Wie weit sind Sie denn in diesem so dringenden Fall? Ich habe bis jetzt keinen Bericht von Ihnen dazu erhalten. Oder gibt es nichts Berichtenswertes?«
»Doch, schon.« Auch das hatte sie vergessen. »Aber ich wollte den heutigen Tag und auch das Wochenende noch abwarten, um den Spuren, die sich bislang aufgetan haben, Schritt für Schritt nachzugehen und sie zu erhärten. Ich habe ja am Wochenende Bereitschaft und werde diese auch für den Fall Platzer nutzen. Aber wenn Sie möchten, dann schreibe ich Ihnen selbstverständlich heute noch einen vorläufigen Bericht.«
»Jawohl, das möchte ich.«
Fleischmann hängte grußlos ein. Ein sicheres Zeichen, dass er verärgert war. Sie sah auf die Uhr. Schon gleich eins. Sie machte sich auf den Weg in die Kantine, nachdem sie sich von Heinrich, der noch immer über seinen Papierwust so still wie vergnügt gebückt saß, verabschiedet hatte. Als sie die Bürotür bereits hinter sich geschlossen hatte, hörte sie ihr Telefon erneut klingeln. In der Annahme, dass es Fleischmann war, eilte sie zurück. Es war aber nicht Fleischmann, sondern Eva Brunner.
»Entschuldigen Sie, Frau Steiner, dass ich Sie noch mal störe. Aber vielleicht haben Sie sich die Sache mit mir schon durch den Kopf gehen lassen …«
Sie hörte an der rauen, tonlosen Stimme, wie angespannt Eva Brunner auf ihre Antwort wartete.
»Ja, das habe ich. Die Suspendierung ist hiermit aufgehoben. Fleischmann hat auch bereits sein Okay dazu gegeben. Wir sehen uns also am Montag wie …«
Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, brach ein Schwall von Dankesworten, Ergebenheitsfloskeln und Beteuerungen über sie herein.
»… das wird sich nie wiederholen, Frau Steiner … Sie können sich da auf mich verlassen, zu hundert Prozent … ich bin ja so froh … das wird ein richtig schönes Wochenende für mich … hab ich Ihnen schon gesagt, wie dankbar ich Ihnen bin … denn selbstverständlich ist das nicht … Herr Trommen hätte mich nach so einem Vorfall sicher nicht mehr in seine Kommission gelassen …«
»Ja, ist schon gut. Mal etwas anderes: Wo sind Sie gerade?«
»Bei mir in der Wohnung. Warum?«
»Sie haben doch Ihre Uniform noch daheim?«
»Ja. Soll ich am Montag in der Uniform erscheinen?«
»Am Montag nicht, heute wäre mir lieber. Um halb drei in der Pilotystraße, geht das?«
»Ja, natürlich. Ich bin pünktlich da, Sie können sich auf mich verlas…«
Paula nannte ihr die Hausnummer von Apolonia Rupp und sagte ihr, dass sie sich dort Punkt vierzehn Uhr dreißig treffen würden. Dann dachte sie über das Gespräch mit ihrer Mitarbeiterin nach. Es sprach für deren grenzenlosen Diensteifer, dass sie nicht wissen wollte, warum sie in der Pilotystraße uniformiert erscheinen sollte und was sie dort erwartete. Paula hätte derartige Fragen derzeit auch nur sehr vage beantworten können.
Als sie aufgelegt hatte, wedelte Heinrich aufgeregt mit der Mitgliederliste des Jagdschutzverbandes vor ihrer Nase herum. »Du, Paula, ich hab etwas Hochinteressantes für dich. Rat mal, wer in dieser Liste als Mitglied aufgeführt ist? Zwar derzeit mit einer ruhenden Mitgliedschaft, aber immerhin.«
»Na, von den Webers ist keiner dabei. Vielleicht die Rupp?«
»Nein, falsch. Weiterraten.«
»Jemand hier vom Haus?«
»Ganz kalt. Eine Chance hast du noch.«
»Die Platzer?«
»Warm, sehr warm. Nicht die, sondern der Platzer.«
Er reichte ihr das Blatt, auf dem er den Namen »Platzer, Erwin« gelb markiert hatte. Sie hatte Mühe, sich den bulligen, rustikalen Busfahrer auf einem Hochsitz im grünen Jagdornat mit Flinte und Gewehr vorzustellen. Und doch, hier stand es schwarz auf weiß: »Platzer, Erwin – Mitglied seit 1999«. Dahinter der Vermerk »staatl. Jägerprüfung 1998/ruhende Mitgliedschaft seit 2002/gültiger Jagdschein«.
Sie haderte mit sich selbst. Dass ihr das passiert war! Sie wusste doch, wie sehr einem die Antipathie oder das Gegenteil: die Sympathie einen Strich durch die Rechnung machen konnte! Gerade bei den Ermittlungen. Kein Urteil über das Opfer, nicht das geringste, genauso wenig eines über Zeugen und Verdächtige, nur auf das reine Betrachten und Abwägen kam es doch an. Auf die ungerührte Neutralität, nicht auf das moralische Empfinden einer kleinen Kommissarin mit ihren Pamperl-Fällen.
Wahrscheinlich war ihr dieser Lapsus unterlaufen, weil die an diesem Fall Beteiligten ihr so herzlich zuwider waren. Sie war empört gewesen. Gegenüber allen, gegenüber den Webers, der Rupp … Nur bei dem Exmann hatte sie eine Ausnahme gemacht. Bei Erwin Platzer in seiner herrlich altmodischen Männlichkeit und seinem elektrisierend knödelnden Bass.
»Was machen wir mit Platzer?«, riss Heinrich sie aus ihren Erinnerungen. »Soll ich den vorladen?«
»Nein, das hat keinen Sinn. Du wirst später zu ihm hinfahren, und zwar unangemeldet. Nimm Klaus mit. Ruf aber vorher bei der VAG an und frag, wann er dienstfrei hat. Damit ihr nicht umsonst dorthin …«
»Das weiß ich selbst, wie man so was macht«, unterbrach Heinrich sie ungehalten. »Ich bin kein Anfänger.«
Sie kannte den Grund seiner Verärgerung – soeben hatte sie ihn um einen frühen Feierabend gebracht, um ein sanftes Hineingleiten in sein freies Wochenende. Und da sie sich immer noch Vorwürfe für ihre Pflichtvergessenheit machte, fügte sie noch lächelnd hinzu: »Das weiß ich, Heinrich. Danke, dass du mir das abnimmst.«
Nach dem Mittagessen machte sie sich mit den beiden Phantombildern in der Tasche auf den Weg. Sie ging zu Fuß und erreichte die Pilotystraße zehn Minuten vor der verabredeten Zeit. Schon von Ferne sah sie Eva Brunner in Uniform vor dem Haus auf und ab gehen. Sie machte einen konzentrierten, geschäftigen und zufriedenen Eindruck.
»Schön, dass Sie so pünktlich sind.«
»Aber das ist doch selbstverständlich, Frau Steiner. Die Waffe oder den Dienstausweis brauche ich aber nicht, oder? Die sind ja noch im Büro.«
»Nein, die brauchen wir nicht.«
»Was machen wir denn hier?«
»Jemandem zwei Fragen stellen und sehen, wie er reagiert. Das wird nicht lange dauern.«
Das klang selbst in ihren Ohren rätselhaft. Aber Eva Brunner schien diese Antwort zu genügen.
Schweigend stiegen sie die Treppen hinauf und wurden oben von einer offensichtlich missvergnügten Apolonia Rupp erwartet.
»Nicht Sie schon wieder!«, lautete die abweisende Begrüßung.
»Ja«, sagte Paula, »ich schon wieder. Diesmal in Begleitung von«, sie deutete mit einer knappen Handbewegung auf die Uniformträgerin neben sich, »Frau Brunner. Ich verspreche Ihnen, Frau Rupp, es dauert nicht lang. Ich habe nur zwei Fragen an Sie. Dürfen wir hereinkommen?«
»Nein. Ich habe Gäste.«
»Gut, dann führen wir die Vernehmung gleich hier im Stehen vor Ihrer Wohnungstür durch. Wie gesagt, zwei Fragen. Die erste betrifft Ihre Aussage vom …«
Und da passierte etwas, was sie nicht erwartet hatte. Denn genau um das zu vermeiden, hatte sie eigens Frau Brunner in ihrem hoheitsrechtlichen Ornat mitgenommen. Frau Rupp knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
Paula holte tief Luft, klopfte an die Tür und rief laut: »Aufmachen, hier ist die Polizei.« Dann wartete sie.
Wenige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, und Frau Rupp funkelte sie erbost und zornbebend an. Noch bevor sie etwas sagen konnte, zischte Paula: »Ich kann Sie jetzt und hier auch in Beugehaft nehmen, wenn Ihnen das lieber ist. Warum, meinen Sie, dass Frau Brunner dabei ist?«
Das Funkeln blieb, aber es wurde gemildert durch die Sorge, dass die Nachbarn von diesem Intermezzo im Hausflur etwas mitbekommen könnten. Sie wurden hereingelassen.
Im Wohnzimmer, das, wie sie erwartet hatte, frei von Gästen war, blieb Paula stehen und wiederholte ihre abgebrochene Frage.
»Am Mittwoch sprachen Sie zweimal von dem Mordopfer als Ihrer Erstgeborenen. Warum haben Sie uns angelogen, es war ja nicht Ihr Kind. Sie haben es nicht zur Welt gebracht.«
Apolonia Rupp antwortete nicht, heftete ihren Blick auf Eva Brunner und musterte diese von oben bis unten und, nachdem sie bei den schwarzen, auf Hochglanz polierten Schuhen angelangt war, wieder bis oben.
Sollte sie es bei der Adoption belassen oder gleich das »Delikatere«, das tief im Nebel des Nürnberger Tratsches der sechziger Jahre waberte, zur Sprache bringen? Paula entschied sich für das Letztere.
»Es war nicht Ihr Kind, aber das Ihres Mannes. Bewusst falsche Zeugenaussagen sind im Übrigen strafbar. Ich gehe zu Ihren Gunsten davon aus, dass Sie das nicht wussten, als Sie mich angelogen haben. Aber jetzt will ich die Wahrheit hören.«
Apolonia Rupp blickte die Kommissarin perplex an. »Woher wissen Sie …?«
»Wir wissen es eben. Das muss Ihnen genügen«, antwortete Paula betont amtlich.
Der unangenehm strenge Ton tat seine Wirkung, denn da passierte die zweite Überraschung während dieser Vernehmung.
»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte Frau Rupp. Und diese Aufforderung klang tatsächlich wie eine Bitte, höflich und freundlich.
Nachdem Paula und Eva Brunner auf dem Sofa Platz genommen hatten, setzte sich auch Frau Rupp auf ihren Stammplatz, den Holzstuhl mit der geraden Lehne.
»Ja, das stimmt. Elvira war nicht meine leibliche Tochter. Sie war das Kind meines Mannes und einer unserer Angestellten.«
Noch bevor Paula nachfragen konnte, fuhr Frau Rupp fort. »Mein Mann jedoch wollte mich deswegen nicht verlassen, er beteuerte, dass er nur mich liebe und dass das andere, das Techtelmechtel und die Schwangerschaft also, nur ein unbedeutender Unfall gewesen sei. Aber das Kind, also Elvira, wollte er haben, unbedingt. Das heißt: bei sich aufnehmen. Koste es, was es wolle. Wenn er Elvira nicht bekommen hätte, hätte er auch mich verlassen. Das hat er mir offen ins Gesicht gesagt. Ja, dieses Bankert war ihm das Wichtigste und Teuerste in seinem Leben. Die ganze Zeit über, von dem Moment an, wo er sie als Neugeborenes in den Armen hielt, bis zu dem Zeitpunkt, als er gestorben ist. Wichtiger auch als seine eheliche Tochter, als Claudia. Können Sie sich das vorstellen?«
Paula zog es vor, darauf zu schweigen. Nur die Schultern zog sie hoch, eine Geste, die ihre echte Verwunderung und Verständnislosigkeit für Herrn Rupp andeuten sollte.
Frau Rupp schien diese Reaktion zu genügen, denn nach einer kurzen Pause sprach sie weiter.
»Das war damals eine schwere Entscheidung für mich. Entweder ich verlasse meinen Mann und verliere damit nicht nur meine finanzielle Sicherheit. Denn als geschiedene Frau hatte man es Mitte der sechziger Jahre nicht einfach, egal, welche Gründe einen dazu bewogen hatten, sich von seinem Mann zu trennen; alleinstehende Männer hatten damals ganz andere Möglichkeiten, waren in allem viel freier und geachteter. Oder ich bleibe bei ihm, habe so zwar weiterhin den finanziellen Rahmen, den ich gewohnt war, und auch den gesellschaftlichen Umgang, auf den ich immer Wert legte, und werde dafür aber jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an seine Affäre erinnert.«
»Sie haben sich dann für das Bleiben entschieden?«
»Ja. Mir blieb ja gar nichts anderes übrig.«
Anstand und auch ein Funken Mitgefühl für die betrogene und derart unter Druck gesetzte Ehefrau verboten es Paula, zu widersprechen. Sie erkannte das Leid dieser Frau, der jahrelang das Fremdgehen ihres Mannes so leibhaftig vor Augen geführt worden war. Sie sah aber auch das Elend von Elvira Platzer, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen, ohne eine liebende Mutter, stets Ablehnung und Abneigung spürend. Auch wenn ihr Vater sicher nach Kräften versucht hatte, die Kälte und den Hass seiner Frau gegenüber seiner Tochter aufzufangen und auszugleichen. Doch was waren ein paar hübsche Kleider, das neueste Spielzeug und selbst eine Eigentumswohnung gegen eine derart verkorkste Kindheit?
»Und die leibliche Mutter, hatte die im Folgenden noch Kontakt zu ihrer Tochter?«
»Nein. Das wäre auch gegen seinen Willen gewesen. Wir haben Elvira adoptiert …«
»Und das war auch in Ihrem Sinn?«, fragte Paula verwundert.
»Nein. Aber das war seine Bedingung. Dass wir sie an Kindes statt annehmen und adoptieren. Und dass die Mutter auf sämtliche Rechte verzichtet. Aber, das dürfen Sie mir glauben, die war daran auch gar nicht interessiert, ihre Tochter aufzuziehen. Die wollte ihre Freiheit, sich austoben, ihr liederliches Leben weiterführen. Ein Kind wäre nur eine Last gewesen für diese Person«, sagte Apolonia Rupp mit einem bitterbösen Lächeln. »Wie ich gehört habe, hat sie ein paar Jahre später schon das nächste Bankert gehabt. Da ist sie aber nicht so billig wie bei uns davongekommen, das hat sie dann schon selbst aufziehen müssen. Ohne den Vater und ohne solch großzügige finanzielle Unterstützung wie bei uns.«
»Wissen Sie auch den Namen von dieser zweiten Tochter?«
»Nein. Und er interessiert mich auch nicht.«
Paula notierte in ihrem Block in Anführungszeichen »das nächste Bankert?«.
»Wir haben eine Aussage vorliegen, nach der Ihre Adoptivtochter jede Woche einmal, meist am Wochenende, zu Ihnen zu Besuch kam. Sie aber sagten, dass Sie den Kontakt schon seit acht Jahren zu ihr gänzlich abgebrochen haben. Oder täusche ich mich da?«
»Nein, das ist richtig. Seitdem sie bei Claudias Beerdigung nicht dabei war, hatte ich wie auch meine Familie, hatten wir also keinen Kontakt mehr zu ihr. Wer so etwas behauptet, lügt offensichtlich.«
Paula glaubte ihr. Allerdings glaubte sie auch Elisabeth Vogel. Wer in dem Fall gelogen hatte, würde Elvira Platzer gewesen sein. Aus einleuchtenden Gründen – die einsame, bindungslose Altenpflegerin wollte ihrer Umwelt damit vermutlich so etwas wie ein intaktes Familienleben vorspiegeln.
Paula wollte sich schon erheben, da gab ihr Frau Rupp ein Zeichen, sitzen zu bleiben.
»Da Sie schon mal da sind, kann ich Sie ja auch gleich etwas fragen. Ihr reizender Kollege Herr Bartels sagte mir nämlich am Telefon, dass Sie dafür zuständig seien. Wann, meinen Sie, kann ich denn mit der Freigabe der Wohnung rechnen?«
»Ich fürchte, da werden wir uns alle in Geduld üben müssen.«
Sie hoffte, dass sich Apolonia Rupp mit dieser Antwort begnügen würde. Das tat sie aber nicht.
»Warum dauert das denn so lang? Also ich, wenn ich was zu sagen hätte, würde ein paar Container kommen und dann ratzfatz die Wohnung entrümpeln lassen. So schwierig kann das doch nicht sein.«
»Aber Sie, Frau Rupp, haben in diesem Mordfall nichts zu sagen. Entrümpelt wird erst dann, wenn auch die letzte Spur in dieser Wohnung sichergestellt ist. Und nachdem Sie ja eine ungefähre Vorstellung haben, wie es bei Ihrer Adoptivtochter aussah, können Sie sich sicher denken, dass so etwas nicht von heute auf morgen geht.«
Sie und Eva Brunner erhoben sich wie aufs Stichwort, als Apolonia Rupp ihre letzte Attacke gegen sie ritt.
»Ich habe das Gefühl, es macht Ihnen Spaß, mir mein Erbe, das mir von Gesetzes wegen zusteht, vorzuenthalten. Ich werde mich da wohl an eine höhere Stelle wenden müssen. Zumal ich Herrn Meussel, Ihren Chef, sehr gut persönlich kenne.«
Eine ganz gewöhnliche Drohung, wie sie im Polizeialltag tagtäglich ausgesprochen wurde, nichts Besonderes also. Und doch erregte dieser Einschüchterungsversuch Paulas Unmut in einem Maße, dass sie für einen Moment die Beherrschung verlor und Interna preisgab.
»Zu Ihrer Information: Erstens war Herr Meussel nie mein Chef, dafür stand er in der Rangordnung viel zu weit unten. Und zweitens hat uns Herr Meussel vor bereits vier Jahren verlassen müssen. Er wurde wegen einseitiger Informationsvorteilsgewährung nach Straubing strafversetzt. Wenn Sie sich an ihn wenden möchten, was Ihnen natürlich jederzeit freisteht, dann also bitte an das Polizeipräsidium Niederbayern.«
An der Wohnungstür hatte sie sich wieder im Griff. Darum sagte sie mit all der falschen Freundlichkeit, die ihr in diesem Augenblick zur Verfügung stand: »Und während Sie den Kontakt zu Herrn Meussel suchen, werden wir – zusätzlich zu unseren Ermittlungen – nach dem Testament fahnden. Und ich bin mir hundertprozentig sicher, wir werden auch eines finden.«
Eine überflüssige Anmerkung, gewiss. Und doch, nicht ganz. Jetzt, nachdem sie eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wie die Kindheit ihres Opfers ausgesehen haben mochte, glaubte sie, das der HB-Raucherin schuldig zu sein. Sie war sich sicher, auch Elvira Platzer hätte diese Gemeinheit, dieser höchst überflüssige und vielleicht auch unrichtige Hinweis, gefallen.