7

Eva Brunner hätte ihre Komparsenrolle nicht besser spielen können – schweigsam und mit dem strengen Habitus einer unnahbaren Amtsperson. Jetzt aber, nachdem sie beide die Pirckheimerstraße überquert hatten, brach sie ihr Schweigen und gab ihre Amtsattitüde auf.

»Darf ich Sie mal was fragen, Frau Steiner?«

»Ja, natürlich.«

»Haben Sie mich da mitgenommen, um mir zu signalisieren, dass Sie mir die Geschichte von der Eichendorffstraße nicht mehr übel nehmen?«

Erstaunt sah Paula sie an. »Nein. Ich habe Sie mitgenommen, weil ich davon ausgegangen bin, dass Sie mir in dieser Situation hilfreich sind. Und so war’s ja auch letztendlich. Ohne Ihre Anwesenheit hätte Frau Rupp nämlich nicht so schnell und nicht so offen geredet. Wenn sie überhaupt geredet hätte.«

Die Antwort schien der Anwärterin zu gefallen. Sie nickte zweimal, blieb dann stehen und fragte: »Und kann ich Ihnen heute noch anderweitig behilflich sein?«

»Nein. Heute nicht. Am Montag wieder. Ich habe eine ganz wichtige Aufgabe für Sie.«

»Welche denn?«

Da war er endlich wieder, dieser einzigartige Diensteifer, vermischt mit dieser ansteckenden Arbeitslust. Beides hatte Paula in den vergangenen Monaten vermisst. Eva Brunner hatte aus dieser Geschichte gelernt. Und sie auch.

»Eine Befragung auf breiter Front.«

»Gerne. Da bin ich richtig gut.«

»Ich weiß. Und zwar suchen wir einen Mann mit einem Brillantohrstecker im linken Ohr.«

Sie langte in ihre Handtasche und zog die beiden Computerausdrucke der Phantomzeichnungen hervor.

»Das ist neben der Kappe leider der einzig sichere Anhaltspunkt, den wir haben. Sie sehen ja selbst, wie unterschiedlich die beiden Zeugen diesen Mann beschrieben haben.«

Sie reichte Eva Brunner die Papiere. »Das ist Ihre Aufgabe für die kommende Woche. Sich im Umfeld des Opfers, also der Rupp, ihres Schwiegersohns und der beiden Enkelinnen, umzuhören. Ach ja, bei den Nachbarn natürlich auch und in dem Altenheim, wo das Opfer gearbeitet hat. Möglichst unauffällig. Andernfalls wecken wir eventuell nur schlafende Hunde.«

»Der Ansicht bin ich auch, Frau Steiner, dass so was nur undercover sinnvoll ist. Gut, dann gehe ich jetzt gleich mit Ihnen mit und hole mir die Adressen und meinen Ausweis. Und morgen in der Früh fange ich an.«

»Also, mir würde Montag auch noch reichen«, widersprach Paula. »Wegen mir müssen Sie nicht Ihr Wochenende opfern.«

»Aber wegen mir. Ohne Arbeit ist es ja so was von langweilig und fad daheim. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie mir die Arbeit gefehlt hat, Frau Steiner. Und es waren ja bloß ein paar Tage. Zwar heißt es in der psychologischen Fachliteratur dazu, dass Langeweile eine produktive Kraft sein kann. Für den, der die Zeit zu nutzen weiß. Aber ich konnte die Zeit nicht nutzen. Wofür auch?«

So gingen sie also gemeinsam zum Jakobsplatz. Oben in ihrem Büro angekommen, kümmerte sich Eva Brunner eilfertig um die Unterlagen und Adressen. Paula kramte in ihrer Tasche nach dem Notizblock.

»Haben Sie noch zehn Minuten Zeit?«, fragte sie, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte.

»Ja, natürlich.«

»Wir suchen den Halbbruder oder die Halbschwester von Elvira Platzer. Die Mutter ist eine gewisse Gertraude Klemm. Und wenn die Rupp recht hat, dann ist deren zweites ebenfalls uneheliches Kind nur wenige Jahre nach Elvira Platzer auf die Welt gekommen.«

Immer wieder hatte die Anwärterin während ihrer Rede zustimmend genickt. »Ich weiß, Frau Steiner. Ich war ja bei der Vernehmung gerade dabei.«

Jetzt endlich begann die Hauptkommissarin mit ihrem Bericht an Fleischmann.

Kurze Zeit später ein triumphaler Brunner’scher Aufschrei.

»Es ist eine Halbschwester. Sie heißt Melitta Ruckdäschel. Mädchenname Klemm, geboren 1963 in Nürnberg. Keine Vorgänge, wohnhaft in der Waltherstraße.«

»Das ist ja gleich in der Nähe. Da können wir gut zu Fuß hingehen.« Sie griff nach ihrer Jacke und sah ihre Mitarbeiterin auffordernd an.

Bei dem Marsch Richtung Deutschherrnwiese, in die Rosenau, eilte sie Eva Brunner voraus. Erst als sie an der Ampelanlage vor dem viel befahrenen vierstreifigen Spittlertorgraben stand, konnte die Anwärterin sie einholen. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Ampel auf Grün schaltete.

»Soll ich mich bei der Befragung jetzt besonders verhalten, Frau Steiner? Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Nein, weder das eine noch das andere«, antwortete sie. »Wir werden lediglich der Elvira Platzer am nächsten stehenden Verwandten, eben dieser Frau Ruckdäschel, die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Halbschwester überbringen. Und ein paar Fragen stellen.«

Schließlich hatten sie die Waltherstraße erreicht und standen vor einem lang gezogenen Kasten mit winzigen Wohnungen, wie sie an der Vielzahl der Klingelschilder ablesen konnten. Zu ihrer Überraschung sprang die Tür bereits kurz nach dem ersten Läuten auf.

Melitta Ruckdäschel wohnte in der obersten Etage. Im Türrahmen der Wohnung stand abwartend eine hübsche große, fast hagere Blondine in einem dunkelblauen Hausanzug aus Nickistoff. Langes Haar, das ihr in einer üppigen weichen Welle auf den Schultern aufsprang, dezentes Augen-Make-up.

Paula stellte sich und ihre Mitarbeiterin vor. In diesem probaten Ton der Amtsperson, der es oblag, eine unerfreuliche Botschaft zu überbringen, fragte sie: »Dürfen wir kurz hereinkommen, Frau Ruckdäschel? Ich fürchte, wir haben Ihnen etwas Trauriges mitzuteilen.«

Erstaunt und doch bereitwillig wurden sie in die Wohnung gebeten. Die kleine L-förmige Diele war dermaßen vollgestellt mit meterhohen Metallgestellen, die allesamt verblasste Gebinde aus Trockenblumen enthielten, dass Paula froh war, in das zwar ebenfalls kleine, aber doch einigermaßen begehbare Wohnzimmer treten zu können. Während Eva Brunner darauf bestand, stehen zu bleiben, setzte sie sich auf das Zweiersofa mit dem schwarzen Lederbezug. Dann nahm auch Melitta Ruckdäschel Platz, auf einem tiefen Sessel mit rotem Wollbezug.

Schließlich sagte Paula ihr, dass ihre »Schwester Elvira am vergangenen Montag bedauerlicherweise einem brutalen Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen« sei.

Melitta Ruckdäschel reagierte so, wie sie erwartet hatte: schweigsam, mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.

»Und ein Irrtum ist ausgeschlossen?«, fragte sie in einem Ton, der die Antwort schon vorwegnahm.

»Ja. Leider.«

»Warum kommen Sie mit dieser furchtbaren Nachricht zu mir? Also, ich meine, wie haben Sie herausgefunden, dass Elvira und ich Halbschwestern sind?«

»Das war nicht schwer«, antwortete Paula freundlich, »für uns von der Polizei gibt es da ja alle Möglichkeiten.«

Angestrengtes Schweigen. Nach einer Weile sagte Melitta Ruckdäschel: »Jetzt hab ich das erst richtig begriffen. Dass Elvira tot ist. Ermordet wurde. Wer tut denn so etwas?«

Dieselbe Frage hatte Paula erst vor Kurzem gehört, von einem fast so verzweifelten wie wütenden Erwin Platzer. Aber weder das eine – die Rage – noch das andere – den Schmerz – hörte sie bei der Frage der Halbschwester Elvira Platzers heraus.

»Das wissen wir leider auch nicht – noch nicht. Deswegen sind wir ja unter anderem zu Ihnen gekommen. Vielleicht können Sie uns irgendetwas sagen, was uns bei der Recherche weiterhilft?«

»Gern, wenn ich Ihnen behilflich sein kann«, antwortete Melitta Ruckdäschel mit einem zaghaften Lächeln.

»Wann haben Sie Frau Platzer zuletzt gesehen?«

»Da muss ich überlegen.« Schließlich sagte sie: »Ich glaube, am Dienstag vor drei Wochen. Aber hundertprozentig sicher bin ich mir nicht. Wenn Sie möchten, schaue ich in meinem Kalender nach.«

»Nein, das braucht es nicht, das genügt uns schon. Fürs Erste. Können Sie sich jemanden vorstellen, der für diese Tat in Frage kommt? Oder anders formuliert: Wissen Sie von Personen, die Ihrer Schwester feindlich gesonnen waren, die sie vielleicht sogar hassten?«

»Na, so gut kannte ich sie auch nicht. Aber nach dem, was sie mir erzählt hat, nein, Feinde in dem Sinne hatte Elvira meiner Kenntnis nach nicht. Vielleicht ihre Verwandtschaft väterlicherseits? Denn die haben es nie gut mit ihr gemeint. Hat mir Elvira zumindest erzählt.«

»Wie gut kannten Sie selbst denn Ihre Halbschwester? Wie oft haben Sie sich gesehen?

»Nicht oft. Vielleicht vier- oder fünfmal im Jahr. Mehr nicht.«

»Und wo?«

»Meist hier bei mir.«

»Und Sie, haben Sie Ihre Schwester denn auch in deren Wohnung besucht?«

»Nein, nie. Elvira hat niemanden bei sich hereingelassen, nicht einmal mich. Aber sie hatte einen Grund dafür«, dabei senkte Melitta Ruckdäschel die Stimme bedeutungsschwer, »sie war nämlich ein Messie. Das hat sie mir gesagt. Und dass es ihr leidtue, dass sie mich nicht bei sich empfangen könne, aber das bringe sie einfach nicht fertig. Und das musste ja auch nicht sein, wir hatten es ja hier auch gemütlich.«

»Dann haben Sie also keinen Schlüssel für Frau Platzers Wohnung?«

»Natürlich nicht«, lautete die Antwort.

»Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt, Sie und Frau Platzer?«

»Zufällig, durch einen sehr traurigen Anlass. Bei der Beerdigung unserer Mutter. Elvira hatte die Todesanzeige in der Zeitung gelesen.«

Nach einer Pause fügte Paula mit einem aufmunternden Lächeln hinzu: »Wo waren Sie am letzten Montag gegen dreiundzwanzig Uhr?«

»Am Montag vor einer Woche?«, wiederholte Melitta Ruckdäschel. »Ah, jetzt hab ich’s. Da war ich hier, in meiner Wohnung.«

»Zeugen?«

»Brauche ich die?«

»Besser wäre es.«

»Ich habe sogar welche. Meine Tochter und mein Enkel waren bei mir zu Besuch.«

»Sagen Sie uns bitte noch den Namen Ihrer Tochter? Und wo ich sie erreichen kann?«

Bereitwillig gab Melitta Ruckdäschel die gewünschten Auskünfte.

Paula stand auf und sagte: »Sicher möchten Sie nun eine Weile allein sein, um diese Nachricht in Ruhe verdauen zu können.«

An der Wohnungstür verabschiedete sie sich von Frau Ruckdäschel betont herzlich. Dann eilte sie zurück, Eva Brunner im Schlepptau, ins Präsidium, zu ihrem Schreibtisch, zu ihrem überfälligen Bericht.

»Ich gehe jetzt heim, Frau Steiner. Das ist doch recht?«

»Aber natürlich.« Paula sah kurz von ihrem Computer auf. »Wenn Sie schon morgen mit den Befragungen beginnen wollen, machen Sie sich’s wenigstens heute noch gemütlich. Und – Frau Brunner, Sie gehen kein Risiko ein, klar? Kein Alleingang. Wenn Sie fündig werden, rufen Sie mich sofort an. Ich habe am Wochenende Bereitschaft, ich bin die ganze Zeit auf meinem Handy zu erreichen.«

»Nicht auf dem Festnetz?«

»Nein, ich fahre morgen in die Eichendorffstraße und werde die Wohnung durchsuchen.«

»Vielleicht brauchen Sie da Unterstützung? Soll ich mitkommen?«

Eine großzügige Offerte, wenn man bedachte, mit welchem Ekel Eva Brunner erst am Dienstag von der »stinkenden« Wohnung des Opfers gesprochen hatte.

»Nein, das braucht es nicht. Ich denke, das ist etwas, worin ich richtig gut bin. Aber danke für das Angebot.«

Noch lange nachdem sich Eva Brunner von ihr verabschiedet hatte, hing ein großes Lächeln in dem gemeinsamen Büro. Paula war froh, dass sie die Anwärterin wiederhatte. Und diese schien auch froh über den glücklichen Ausgang dieser »Geschichte von der Eichendorffstraße« zu sein.

Nachdem sie den Bericht an Fleischmann fertig hatte, las sie ihn sich noch einmal durch. Sie ahnte, dass er damit nicht zufrieden sein würde. Sie hatte einfach zu viele Verdächtige aufgelistet; jeder, den sie bisher befragt hatte, kam in ihrem Bericht als Täter in Frage. Die Mutter, die so scharf auf die Eigentumswohnung des Opfers war. Die verschuldeten Nichten, denen das Wasser bis zum Hals stand. Der Schwager sowieso. Dann jetzt auch der Exmann, Jäger und Mitglied im Jagdverband. Sogar Schneider-Sörgel mit seinen Diebstahlsbeschuldigungen Elvira Platzer gegenüber war in dem Bericht nun auf einmal zu einem »Tatverdächtigen« herangereift. Und bei allen sah sie dasselbe Motiv – die Habsucht, die Gier nach dem Geld der Elvira Platzer. Sie hätte Fleischmann gern auch ein weniger banales, ein diffizileres kriminelles Motiv unterbreitet.

Aber ihr wollte einfach kein anderer Grund einfallen, dessentwegen jemand die einsame, schon seit Jahren wie eine Eremitin lebende Altenpflegerin umgebracht haben könnte. Ihr Mann war freiwillig ausgezogen, nachdem er es nicht mehr bei ihr ausgehalten hatte; die übrige Verwandtschaft hatte ebenfalls von sich aus den Kontakt mit ihr abgebrochen; und selbst der Seniorenstiftbewohner, der sie des Diebstahls bezichtigte, hatte von ihr nur den Ring und das Geld zurückhaben wollen, das sie ihm abgeluchst hatte. Für die großen Emotionen, für Liebe und Eifersucht und Hass, schien Elvira Platzer kein geeignetes Objekt gewesen zu sein. Obwohl …

Wie hatte Frieder die auf dem Unterleib der Toten kreuz und quer verteilten Wunden bezeichnet? Ja, jetzt erinnerte sie sich – als das Diagramm eines regelrechten Jähzornausbruchs. Das passte nicht zur Habgier als ausschlaggebendem Mordmotiv, genauso wenig wie es zu dem kalkuliert-raffinierten Giftmord passte.

Und dann tauchten vor ihrem inneren Auge plötzlich, sie wusste selbst nicht, warum, die renitente Eva Brunner und der aggressive Polizeifotograf auf. Beide waren an diesem Tatort eklatant aus ihrer Rolle gefallen. Die Anwärterin mit der offenen Weigerung, in diese »stinkende« Wohnung noch einmal zurückzukehren, und auch der sonst so ruhige Bernd Schuster, der direkt auf sie gewartet zu haben schien, um sich mit ihr anlegen zu können.

Jetzt, mit dem Abstand von drei Tagen, sah sie bei diesen Entgleisungen beide Male denselben Auslöser: Abscheu, Ekel. Wenn das Opfer mit seiner Müllhalde schon bei Polizisten, die von Berufs wegen einiges gewöhnt waren und die zudem nach kurzer Zeit die Stätte des Grauens wieder verlassen durften, solche heftige Reaktionen hervorrief, wie mochte das erst bei jenen ausgesehen haben, die mit dem Messie dauerhaft Tür an Tür leben mussten? Wie waren eigentlich die anderen Hausbewohner mit der Tatsache umgegangen, dass sie jemanden wie Elvira Platzer in ihrer direkten Umgebung hatten? Hass, das war doch in diesem Fall auch ein mögliches, ein gutes Motiv. Morgen würde sie die Nachbarn danach fragen müssen, aber erst nach absolvierter Stöberaktion. Wenn sie in der Wohnung das gefunden hatte, was sie zu finden hoffte.

Froh, Fleischmann doch noch ein zweites Motiv, und zwar ein sehr emotionales, anbieten zu können, ergänzte sie ihren Bericht entsprechend. Und sie informierte ihn in einem Postskriptum ausführlich darüber, dass sowohl sie selbst als auch ihre »MA Brunner« am morgigen Samstag die Ermittlungen bereits in aller Frühe aufnehmen und das Wochenende über zielgerichtet und mit aller Entschiedenheit vorantreiben würden. Das sollte ihn in seiner Entscheidung bestärken und ihm das Gefühl geben, mit der Aufhebung der Suspendierung das einzig Richtige getan zu haben. Dann sandte sie die Mail ab.

Um kurz vor halb sechs packte sie ihre Sachen und verließ das Büro. Auf dem Jakobsplatz erwartete sie bereits Paul Zankl. Er trug einen rot-schwarzen Schal mit dem Aufdruck »Die Legende lebt« um den Hals und winkte ihr gut gelaunt zu. Da sie noch genug Zeit hatten, kamen sie schnell überein, zu Fuß zum Hauptbahnhof zu gehen und von dort mit der S-Bahn ins Frankenstadion zu fahren.

Je näher sie dem Bahnhof kamen, desto höher wurde die Fan-Dichte. Zwei Farben bestimmten jetzt das Straßenbild. Es schien, als ob sich am Bahnhofsplatz ein unsichtbarer Magnet befände, der alles, was in Rot und Schwarz daherkam, in seinen Bann zog.

»Sag mal, müssen wir unbedingt mit der S-Bahn fahren?«

»Ja, es ist der schnellste Weg. Du brauchst keine Angst zu haben, dass die S-Bahn voll ist. Selbst wenn wir keinen Platz mehr in der ersten Bahn kriegen, haben wir noch genügend Zeit, um auf die nächste zu warten.«

Während sie in der überaus vollen S-Bahn stand, in engem Körperkontakt zu grölenden, betrunkenen und auch schlecht riechenden Menschen, fasste sie einen Entschluss. Das war das erste und letzte Fußballspiel, zu dem sie gehen würde. Zumal sie den Eindruck hatte, Paul sah ihr Entgegenkommen in dieser Sache nicht als das, was es war – ein riesengroßes Opfer ihm zuliebe.

Als sie in der Schlange mit ihrer Chipkarte in der Hand vor dem Drehkreuz wartete, vor ihr eine Frau, von deren Handgelenken je sechs Fanschals baumelten, drehte sich diese Frau mit dem mittellangen gelockten Haar plötzlich zu ihr um und – war ein Mann. Sein breites Grinsen wurde von einer eindrucksvollen Bierfahne begleitet.

»Oh, was haben wir denn da Schönes! Eine schöne Frau mit einem schönen Platz. Eine Dauerkarte im 15er Block, hallo, hallo. Das kann sich unsereins als armer Schlucker nicht leisten.«

Paul, der in der Parallelschlange wartete und frei von jeglichen Eifersüchteleien war, lächelte ihr selbstzufrieden zu. So als ob beide Komplimente ausschließlich auf sein Konto zu verbuchen seien.

Sie hatte erwartet, dass das Stadion noch leer sei, so früh, wie sie ihre Plätze einnahmen. Doch es war bereits rappelvoll. Ihre zweite Erkenntnis: Ein Live-Fußballspiel ist nicht einfach nur ein Fußballspiel, so wie im Fernsehen, sondern viel mehr. Es folgt einer ausgeklügelten Liturgie, bei dem auf und ab hüpfende junge Burschen eine wichtige Rolle spielen. Und Spruchbänder. Sogar nackte Oberkörper. Pfeifkonzerte und Gesänge. Und vor allem – die Club-Hymne.

Als die erste Zeile von »Die Legende lebt …« erklang, streckte ihr Nebenmann, gut über die siebzig, grimmiger Blick, nikotingelbe Finger, ihr das Ende seines Schals hin.

»Da, dass d’ a wos zum Halten hast.«

Das gefiel ihr. Sie, die sich sonst die in Mode gekommene Jedermannsduzerei stets von vornherein und mit Nachdruck verbat, fühlte, wie sie mit dieser Schal-Offerte soeben in eine Gemeinschaft aufgenommen worden war. Und zwar mit dem zusätzlichen Ritterschlag des Duzens.

Die Partie begann als zähes Schachspiel mit sehr dezent offensiven Franken, die erst kurz vor der Halbzeitpause erste Vorstöße wagten, und noch tiefer stehenden Gelsenkirchenern. Gelaufen wurde auf beiden Seiten viel, das imponierte ihr, vor allem die Schalke-Spieler besichtigten die Arena aus allen möglichen Perspektiven. Doch entscheidend war nicht die Kondition, über die alle Spieler gleichermaßen verfügten, erkannte sie bereits nach dem 1:0. Entscheidend war die Spieltaktik der zwei Phasen. Erster Schritt: die Balleroberung, zweiter Schritt: was mit dem Ball dann passiert. Der erste Schritt war auf beiden Seiten, fand sie, ganz okay, vor allem in der zweiten Hälfte. Doch der FC Schalke verzichtete zugunsten der Gastgeber großzügig auf den zweiten Schritt, sehr zur Freude des gesamten 15er Blocks, und kassierte ein verheerendes 4:1.

Auf der Heimfahrt war die S-Bahn wieder proppenvoll, die Menschen um sie herum grölten und rochen noch mehr nach Bier und Schweiß als auf der Hinfahrt. Aber es störte sie nicht. Im Gegenteil. Sie fand nun, das gehörte dazu. Als ein weiterer fester Bestandteil dieser Veranstaltung. Genau wie die nackten Oberkörper und das Schmettern der Club-Hymne. Vergessen war auch ihr erst vor zwei Stunden gefasster Entschluss, es bei diesem einen Spiel ein für alle Mal zu belassen.

»Das war ein richtig schöner Abend«, flüsterte sie dem neben ihr stehenden Paul zärtlich ins Ohr. »Danke, dass du mich mitgenommen hast. Du hättest ja auch jemand anderen damit eine Freude machen können. Hoffentlich ist dein Kollege in Zukunft noch recht oft verhindert.«

Am nächsten Morgen wurde sie ausnahmsweise mal nicht durch ihren imaginären Stalker wach, sondern durch einen sehr realen Oberpfälzer. Paul Zankl lag auf dem Rücken neben ihr, noch in festem Schlaf, mit kreisrund geöffnetem Mund, und schnarchte. Draußen war es stockfinster, sie hörte die ersten Vögel zaghaft zwitschern. Es war so still an diesem frühen Samstagmorgen, dass sie fürchtete, das ohrenbetäubende Ritzeratze in ihrem Bett würde nicht nur sie aus dem Schlaf reißen, sondern das ganze Haus.

Sie sah auf den Wecker. Erst halb fünf. Sie beugte sich über Paul, küsste ihn leicht auf die Nasenspitze, kletterte dann über ihn hinweg und stieg aus dem Bett.

Bevor sie sich unter die Dusche stellte, schaltete sie die Kaffeemaschine ein und nahm die Butterdose aus dem Kühlschrank. Als sie sich die Frühstückabschlusszigarette angezündet hatte und ihrer Kaiserburg einen langen, freundlichen Blick zuwarf, tauchte Paul in der Küche auf. Noch schlaftrunken, aber schon sehr ungehalten.

»Bei dem Krawall hier kann ja kein Mensch in Ruhe ausschlafen.«

Sie sah ihn fragend an und lauschte in die Stille des Mehrparteienhauses.

»Welcher Krawall? Hier ist es doch mucksmäuschenstill.«

»Du weißt anscheinend nicht, was du für einen Lärm mit deinem Rumgetrietschel im Bad veranstaltest.«

Ach so, das. Sie sah ihn amüsiert an.

»Gegenfrage. Warum, meinst du, dass ich an einem Samstagmorgen schon kurz nach fünf Uhr mit dem Frühstücken fertig bin?«

»Weil du es mal wieder nicht erwarten kannst, zu deiner Arbeit zu kommen.«

»Falsch, ganz falsch. Die richtige Antwort wäre gewesen: weil ein gewisser Herr Zankl so laut schnarcht, und zwar schon die ganze lange Nacht über, dass mein Rumgetrietschel dagegen sozusagen geräuschlos vonstatten geht. Das ist so, wie wenn du ein dreistündiges Oratorium mit einem Pianissimo-Klavierstück von, sagen wir, zehn Sekunden vergleichst. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich bin ja nicht blöd.«

»Nein, aber laut, sehr laut.«

»Paula, mal was anderes. Musst du heute unbedingt arbeiten? Hat das nicht nächste Woche auch noch Zeit?«

»Ja beziehungsweise nein. Ja, ich muss heute arbeiten, und nein, das hat keine Zeit.«

Als sie eine Viertelstunde später die Wohnungstür hinter sich schloss, lag der Ritzeratze-Mann wieder in ihrem warmen Bett. Sie hörte ein von rhythmischen Schnaufern untermaltes leises Pfeifen und ahnte, dass sich das bald zu einem Crescendo fortissimo steigern würde.

Eine weitere Viertelstunde später hatte sie die Eichendorffstraße erreicht, die ruhig einem trockenen, kalten Tag entgegendämmerte. Für einen Besuch in Elvira Platzers Wohnung schien ihr diese Stunde besonders günstig. Mit einer gewissen freudigen Erregung stieg sie in den ersten Stock. Als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, sah sie, dass das Siegel abgerissen war. Und zwar auffällig abgerissen war. Rahmen und Türkante dagegen wiesen keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf. Also würde derjenige, der hier eingedrungen war, sich den Zutritt mit einem Schlüssel verschafft haben.

Sie zog die Handschuhe aus ihrer Tasche, stülpte sie über, hob mit spitzen Fingern die zwei Siegelhälften auf, die auf dem Boden lagen, und verstaute sie in einer der durchsichtigen Plastiktüten, die sie für gewöhnlich immer bei sich trug. Dann sperrte sie die Tür auf. Nach den Spuren des anonymen Besuchers hatte sie erwartet, in der Wohnung ein noch größeres Chaos vorzufinden als bei ihrer letzten Stippvisite. Doch es schien alles an seinem Platz zu sein.

Nach einem prüfenden Blick in die Diele trat sie auf den schmalen Pfad im Wohnzimmer und sah sich dort ebenfalls um. Auch hier das gewohnte Bild. Doch nein, irgendetwas war anders. Sie schloss die Augen, lud sich das Video vom vergangenen Dienstag auf ihre mentale Festplatte – und öffnete die Augen wieder. Jetzt erkannte sie, was dieses Etwas war. Der Pappkoffer mit den Plastikkleiderbügeln war nicht mehr an seinem Platz. Er war nach hinten geschleudert worden, die schwarzen Plastikkleiderbügel lagen nun achtlos verteilt über den sorgsam aufgeschichteten Kleiderstapeln. Darauf verstreut die Fahrrad-Luftpumpen. Wie ein überdimensionales Mikado, das man mitten im Spiel abgebrochen und liegen gelassen hatte. Hier war jemand auf die Suche gegangen. Hatte dieser Jemand gefunden, was er gesucht hatte? Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Sie verließ das Wohnzimmer und ging in den Schlafraum. Schloss wieder die Augen, schaltete das Schlafzimmer-Video vom Donnerstag ein und klappte die Augen auf. Nein, hier war noch alles an seinem Platz. Oder schien es zu sein.

Enttäuscht setzte sie sich auf den Liegesessel. Insgeheim machte sie sich den Vorwurf, wertvolle und vielleicht unwiederbringliche Zeit verstreichen haben zu lassen. Was, wenn sie gestern Nachmittag nicht zu Frau Rupp und zu dem Fußballspiel gegangen wäre? Dann wäre sie dem anonymen Besucher vielleicht zuvorgekommen.

Sie dachte nach. Versuchte, sich in den Eindringling hineinzuversetzen. Schätze, die sich schnell zu Bargeld machen ließen, würde er hier nicht gesucht haben. Einfach deswegen, weil es hier nichts gab, was sich weder schnell noch langsam zu Bargeld machen ließ. Was also dann? Die Tatwaffe? Das war unwahrscheinlich, so etwas vergaß man nicht. Blieb nur mehr das, wonach sie selbst auf der Jagd war – Papiere, Unterlagen, Formulare, Aufzeichnungen und vor allem das Testament. Und da hatte er ausgerechnet im Wohnzimmer gesucht! Wie dumm von ihm. Denn dort in dieser Müllhalde, da war sie sich sicher, hatte Elvira Platzer solche wertvollen Schriftstücke und Dokumente auf keinen Fall deponiert. In der mit den Obstkisten vollgestellten Diele auch nicht. Genauso wenig wie in der Küche oder im Bad. Blieb nur das Schlafzimmer, der einzige Ort, wo man sich einigermaßen häuslich niederlassen konnte. Und dieses Schlafzimmer würde sie jetzt so lange auf den Kopf stellen, bis sie fündig geworden war. Die Suchaktion war nunmehr zur kniffligen Denksportaufgabe geraten, die sie mit Entschlossenheit lösen würde.

Sie stand auf und marschierte in die Diele, stieß einen der Stapel mit dem Fuß um, griff nach zwei leeren Obstkisten und ging ins Schlafzimmer zurück. Hier wurden die Kisten mit den erstbesten Sachen gefüllt, die ihr in die Finger kamen, zum Wohnzimmer getragen und dort mit Schwung möglichst weit nach hinten, zur Wand, geschleudert. Vier lange Stunden später war das Schlafzimmer zumindest überschaubar und die Mülldeponie im Wohnzimmer an die Grenzen ihres Fassungsvermögens angelangt.

Zeit für eine kleine Pause. Sie packte die Thermosflasche und die zwei Käsebrote aus, die sie von daheim mitgebracht hatte, setzte sich in den Sessel und empfand eine große Genugtuung über ihr Werk. Jetzt erst, nach diesem zweiten Frühstück, das mit einer Zigarette seinen krönenden Abschluss fand, machten ihr der Staub und die abgestandene Luft zu schaffen. Sie trat auf das Bett und riss den Fensterflügel weit auf. Dabei fiel ein stark lädierter Osterhase aus gebranntem Ton vom Fenstersims zu Boden. Als sie nach den Scherben sah, entdeckte sie das schmale Bücherregal mit zwei langen Fächern, das, eingezwängt zwischen Wand, Obstkisten und Bett, unter der Fensterbank stand.

Die vier Obstkisten trug sie ebenfalls ins Wohnzimmer, dann nahm sie, kniend auf der Bettmatratze, den Inhalt ihrer Ausgrabungsarbeit in Augenschein. Da war zunächst ein altes Telefon. Sie notierte sich die Nummer und starrte wieder in das Regal, das aber außer dem Telefon keine nennenswerten Fundstücke zu bieten schien. Das obere Fach enthielt lediglich Teile einer fragmentarischen Gesamtausgabe der Werke der Literaturnobelpreisträger von 1901 bis in die späten sechziger Jahre. Weißer Leineneinband mit Golddruck auf dem Titel. Langsam strich sie mit dem rechten Zeigefinger über die Buchreihe … alles Bücher von diesem Buchclub … billig und ungelesen … dann blieb ihr Finger an etwas hängen, und sie musste lächeln.

Die Goldgräberin Steiner hatte soeben einen Zwölfkaräter aus den verborgenen Tiefen dieser Wohnung gefischt: zwei, drei, sechs, insgesamt neun Terminkalender, chronologisch geordnet. Alle in schwarzem Kunststoffeinband, alle mit einer relativ aktuellen Jahreszahl auf dem Rücken und alle – hastig schlug sie den ersten Kalender vorne auf und blätterte ein paar Seiten um – mit handschriftlichen Eintragungen. Hochzufrieden verstaute sie ihre Preziosen in einer Plastiktüte, einem Überbleibsel ihrer Aufräumarbeiten, und schloss das Fenster.

Jetzt fehlte nur noch das Testament, von dem sie allerdings nicht mehr sicher war, es in dieser Wohnung zu finden. Oder was, wenn Elvira Platzer es doch irgendwo unter dem Müllhaufen im Wohnzimmer aufbewahrt hatte, der durch ihr Zutun in den vergangenen Stunden noch um einiges in die Höhe gewachsen war? Nein, das schien ihr nicht plausibel. Wo dann?

Natürlich, dass sie daran nicht gleich gedacht hatte, nur das gab noch einen Sinn – der Keller. Sie griff nach dem Schlüsselbund und ging zur Wohnungstür.

Als sie die Türklinke bereits in der Hand hatte, bemerkte sie den dicken beigen Filzvorhang rechts neben der Wohnungstür, der vor ihrer Aktion von Obstkistenstapeln verdeckt gewesen war. Sie schob ihn zur Seite und stieß auf eine weitere Tür, die weiß gestrichen war. Dahinter verbarg sich ein Abstellraum. In dem trüben Licht konnte sie nur die Umrisse dessen erkennen, was hierher verbannt worden war. Für sie sah das nach einer respektablen Staubsaugersammlung aus.

Sie schaltete das Dielenlicht ein, und tatsächlich – vor ihr stapelten sich sieben Staubsauber unterschiedlichsten Alters, mit und ohne Gebrauchsspuren. Sogar ein neuer kleiner Miele wie der ihre, den sie erst vor einem knappen Jahr gekauft hatte, war dabei. Hinter der Sammlung befand sich ein weiteres Regal. Sie riss die Wohnungstür auf und trug die sperrigen Stücke eines nach dem anderen in den Hausflur.

Als sie den letzten Staubsauger draußen vor der Tür abgestellt hatte, schritt ein massiger Mann in den Sechzigern – Adiletten, dunkelblauer Trainingsanzug, weißer Haarkranz, ungesunde Röte im Gesicht – schwerfällig und schwer atmend die Treppe hinunter.

Er blieb vor ihr stehen, musterte sie und das Depot zu ihren Füßen mit bösem Blick.

»Das schaffen Sie schleunigst wieder in diese Wohnung da«, er deutete mit dem abgespreizten Daumen zur Tür, »andernfalls erfolgt Anzeige. Was fällt Ihnen eigentlich ein, unser Haus so vollzustellen? Und machen Sie gefälligst die Tür zu, es riecht hier nach Zigarettenrauch.«

»Sie sehen zu, dass Sie hier schleunigst verschwinden, andernfalls erfolgt Anzeige von mir. Zum einen wegen mutwilliger Behinderung einer polizeilichen Aktion. Und zum anderen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Strafmaß bis zu zwei Jahren.«

Sie sagte tatsächlich »Staatsgewalt«, obwohl »Polizeivollzugsbeamte« doch der richtige, viel passendere Terminus gewesen wäre. Für einen kurzen Moment war der Mann, dessen Gesicht nun in einem flammenden Rot leuchtete, verwirrt. Aber nicht lang.

»Zeigen S’ mir erst amal Ihren Ausweis, hopp.«

Da öffnete sich die Tür von gegenüber, und Frau Vogel betrachtete erst die Kommissarin mit diesem gewissen Lächeln des Wiedererkennens, dann ihren Nachbarn. Da erstarb das Lächeln.

»Aber Herr Holzbauer, das ist doch die Frau Steiner von der Mordkommission. Frau Steiner untersucht den Mord an Frau Platzer. Und irgendwohin muss sie ja die ganzen Sachen stellen, wenn sie in der Wohnung nach Spuren sucht, gell?«

Schade. Sehr schade. Diese Klarstellung hätte sie lieber selbst erledigt. Aber sie genügte immerhin, um Frau Vogels Nachbarn ein grollendes »Ah so« abzuringen.

Bevor er die Treppe weiter hinuntergehen durfte, nutzte Paula ihre Chance. Verspätet zwar, aber dafür umso offensiver.

»Ach, Sie sind also der Herr Holzbauer, der sich über die Ermordete immer so lauthals beschwert hat. Das trifft sich ja hervorragend. Sie wollte ich sowieso heute noch vernehmen. Sie halten sich ab sofort zu meiner Verfügung. Ich komme dann später zu Ihnen rauf. Klar?«

Ihr Schuss ins Blaue war ein Treffer ins Schwarze gewesen. Bei dem Wort »beschwert« hatten sich die beiden Nachbarn in diesem stummen Einverständnis angesehen, das ihre Vermutung als wahr bestätigen sollte.

»Heute hab ich ka Zeit. Morgen ist Sonntag, da passt’s auch nicht, vielleicht …«

»Da werden Sie sich die Zeit nehmen müssen«, unterbrach sie ihn scharf. »Sonst lasse ich Sie nämlich polizeilich suchen und dann im Präsidium vorführen.«

Sie hoffte, dass Holzbauer nicht über so viel juristisches Know-how verfügte, um ihre Drohung als wirkungslos einschätzen zu können, ja sogar als illegale Amtsanmaßung in diesem Augenblick. Doch Holzbauer verfügte anscheinend nicht über ein derartiges Wissen.

»Gut, dann gehe ich wieder rauf und warte auf Sie. Die Zeitung darf ich mir aber schon noch holen?«

An dem devoten Ton hörte sie, dass das tatsächlich eine Frage war, mit der er sie um Erlaubnis bat, und keine ironische Spitze. Sie würde bei der Vernehmung leichtes Spiel mit ihm haben.

»Ja, das ist erlaubt.«

Dann ging sie zurück in die Räuberhöhle. In dem Regal des winzigen Abstellraums lagerten Dinge, die anderswo längst ihre letzte Fahrt zur städtischen Müllverbrennung hätten antreten müssen. Wolldecken mit faustgroßen Mottenlöchern, Ikea-Kataloge aus vergangenen Dekaden, eine stattliche Kollektion leerer Joghurtbecher, billige Kugelschreiber mit Werbeaufdruck und immer wieder Stapel von alten Illustrierten, Werbebroschüren und kostenlosen Wochenzeitungen. Aber auch ein prall gefüllter Leitz-Ordner mit der Aufschrift »Dokumente« war dabei, eingeklemmt zwischen den Decken und den Katalogen. Sie zerrte den Ordner aus seinem Versteck, dabei fielen einige Decken und Kataloge ihr zu Füßen. Sie ließ alles so liegen und ging mit dem Ordner unter dem Arm zurück ins Schlafzimmer.

Auf dem Bett schlug sie ihr Fundstück auf. Obenauf war ein Register aus braunem Kunststoff mit Goldrand, das den Inhalt nach den Gebieten »Bank/Sparkasse«, »Wohnung/Haus«, »Steuern«, »Garantie«, »Urkunden, Ausweise, Bescheinigungen« einteilte. Und das Schöne war: Dieses verheißungsvolle Register entsprach auch dem Inhalt, in allen Punkten. Elvira Platzer hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, ihre Unterlagen chronologisch zu ordnen. Sie hatte den zweiten, den richtigen Schatz dieser Wohnung gefunden. Das, wonach vermutlich auch ihr Vorgänger gesucht hatte.

Sie schlug die Rubrik »Urkunden, Ausweise, Bescheinigungen« auf, das dickste Bündel dieses Ordners. Zuoberst lag eine Klarsichthülle mit der Fotokopie eines Testaments, ausgestellt Anfang Januar dieses Jahres von einem ihr unbekannten Notariat mit Sitz am Hauptmarkt.

Es war ein kurzer Letzter Wille. Elvira Platzer hatte das Nürnberger Tierheim in der Stadenstraße zum alleinigen Erben ihres gesamten Nachlasses eingesetzt. Paula nahm die Kopie aus der Hülle, in der sich zu ihrer Überraschung noch weitere Testamente fanden. Insgesamt waren es sechs, fünf davon von der Erblasserin handschriftlich aufgesetzt und unterschrieben. Sechs Testamente aus zwei Jahren, und jedes Mal hatte die Tote einen anderen Haupterben eingesetzt. Apolonia Rupp war nicht dabei, dafür aber einmal Elvira Platzers Nichte Tanja Weber und im ersten sogar ihr Exmann.

Paula klappte den Ordner zu und steckte ihn ebenfalls in die Plastiktüte, schloss das Fenster, packte ihre Tasche und ging zur Wohnungstür. Als sie nach dem Schlüsselbund kramte, fiel ihr Blick auf ein glitzerndes Steinchen, das vor dem Filzvorhang lag. Sie bückte sich – eine Stachelniete mit einem dunkelrot funkelnden Edelstein in der kreisförmigen Vertiefung. Sie stülpte sich einen Plastikhandschuh über die rechte Hand, bevor sie ihn aufhob und betrachtete: Das rot glitzernde Etwas erwies sich als geschliffener billiger Glasstein, auf dem kurzen Stachel des Metallbolzens glaubte sie, winzige Reste eines Klebers erkennen zu können. Auch dieses Fundstück wanderte in ein durchsichtiges Plastiktütchen.

Dann versperrte sie die Wohnung und klingelte bei Frau Vogel. Während sie wartete, sah sie auf ihre Armbanduhr. Erst Viertel nach eins. Jetzt merkte sie, dass sie heute Nacht zu wenig Schlaf erwischt hatte. Sie war müde, hungrig und hatte Mühe, sich auf das Gespräch mit der Nachbarin gedanklich einzustimmen.

»Ja, Frau Steiner? Ich hätte mich schon bei Ihnen gemeldet, wollte Sie aber nicht stören.«

»Warum, ist Ihnen noch etwas eingefallen, was Sie mir erzählen möchten?«

»Nein, aber einen Kaffee oder Tee, wenn Sie keinen Kaffee mögen, wollte ich Ihnen anbieten. Und eine Kleinigkeit zu essen. Sie haben sicher Hunger.«

»Nein, überhaupt nicht«, log sie. »Aber das ist trotzdem nett. Danke für das Angebot. Kann ich für einen kurzen Augenblick hereinkommen?«

Frau Vogel ließ sie bereitwillig eintreten, schloss dann die Tür und zeigte mit der rechten Hand in ihr heiteres Wohnzimmer mit dem einladenden sonnenblumengelben Sofa.

Paula schüttelte verneinend den Kopf und blieb stehen.

»Nein danke, so lange will ich Sie nicht stören, zur Samstagmittagszeit. Eigentlich habe ich auch nur eine Frage, Herrn Holzbauer betreffend. Sein Verhältnis zu Frau Platzer war wohl nicht das beste?«

»Hm«, sagte Frau Vogel mit einem kleinen Seufzer, »und das ist noch untertrieben. Die beiden waren sich spinnefeind.«

»Und was beziehungsweise wer war der Auslöser?«

»Na ja, Sie können es sich vielleicht denken. Der Auslöser war natürlich Frau Platzers Krankheit oder wie man es nennen will. Angefangen hatte es damit, dass sie immer wieder Sachen, die sie in der Wohnung nicht mehr untergebracht hat, vor der Tür abgestellt hatte. Das hat Herrn Holzbauer jedes Mal regelrecht zur Weißglut gebracht. So wie heute, Sie haben es ja selbst erlebt. Mein Gott, haben die beiden sich angeschrien. Und das alles hier im Haus, sodass es jeder hören konnte.«

»Und, hat Frau Platzer sich gewehrt?«

»Anfangs schon. Aber als er ihr mit dem Anwalt gedroht hat, hat sie das Rausstellen aufgegeben. Dinge, die leicht Feuer fangen können, dürfen nämlich aus feuerschutzpolizeilichen Gründen nicht im Hausgang abgestellt werden, da hatte Herr Holzbauer schon das Recht auf seiner Seite. Ja, aber dann ging es erst richtig los. Frau Platzer hat dann nämlich diese Sachen in ihren Keller gebracht. Und als da kein Platz mehr war, vor«, betonte Frau Vogel, »ihre Kellertür gestellt. Und eines Tages waren diese Sachen einfach weg. Von heute auf morgen. Frau Platzer hat jeden hier im Haus gefragt, aber keiner hat ihr sagen können, wer das war. Ab da hat sie mit Herrn Holzbauer, den sie wohl in Verdacht hatte, nicht mehr gesprochen. Nicht einmal mehr gegrüßt haben sich die beiden.«

Nach einer kurzen Pause und einem weiteren kleinen Seufzer fuhr sie fort. »Das war keine gute Stimmung mehr im Haus. Darunter haben auch die anderen Parteien zu leiden gehabt. Beide, Herr Holzbauer wie auch Frau Platzer, versuchten immer wieder, einen auf ihre Seite zu ziehen. Bei einigen ist ihnen das auch gelungen. Bei mir nicht. Ich habe mich aus dieser Geschichte immer rausgehalten. Ich brauche keinen weiteren Unfrieden im Haus. Mir hat der schon gelangt.«

»Das glaube ich. Das hätte ich an Ihrer Stelle auch so gemacht. Danke für Ihre Offenheit.«

»Das war aber«, Frau Vogel legte ihre rechte Hand auf Paulas Unterarm, eine Geste, die sie zum Bleiben auffordern sollte, »noch nicht alles. Herr Holzbauer hat auch danach noch keine Ruhe gegeben. Immer wieder hat er, wenn er durchs Haus lief, ganz laut gesagt, sein Balkon sei nicht benutzbar, so wie es da nach Rauch stinke, das halte ja kein Mensch aus. Und er hat sich bei jeder Eigentümerversammlung über Frau Platzer beschwert, schriftlich beschwert. Aber das wissen Sie ja schon.«

Frau Vogel spielte damit auf Paulas Äußerung an, die sich zwischen frei erfunden und Vermutung bewegt hatte, die sich aber jetzt als richtig erwies.

»Nur in etwa. Ich würde es gerne von Ihnen noch ausführlicher erfahren.«

»Na ja, er hat halt jedes Jahr was anderes zu meckern gehabt. Vor zwei Jahren waren es die Pflanzen auf Frau Platzers Balkon. Die würden zu groß werden und das Gesamtbild der Hausrückseite verschandeln. Vor einem Jahr hat er einen Gutachter verlangt, der in Frau Platzers Wohnung gehen sollte, um dort festzustellen, ob es da irgendwelches Ungeziefer gäbe. Den Gutachter hätte dann sie zahlen müssen. Darüber hat sich Frau Platzer fast so aufgeregt wie damals, als ihre Sachen vor der Kellertür verschwunden waren. Solche Dinge eben.«

Paula hatte genug gehört. Das würde für eine zielgerichtete stramme Vernehmung des Adiletten-Trägers und Hypertonikers vollkommen reichen.

»Eines noch, und dann sind Sie mich aber endlich los. Frau Platzer hatte kein Auto, oder?«

»Nein. Nachdem ihr altes nicht mehr durch den TÜV gekommen war, hatte sie lange hin- und herüberlegt, ob sie sich ein neues kaufen soll. Aber sie hatte doch kein Geld dafür, bei dem bisschen Gehalt, das sie im Altersheim verdiente. Sie hat mich dann gefragt, ob sie meins ab und zu ausleihen könne. Sie würde es auch nicht oft brauchen. Nur einmal in der Woche. Am Wochenende eben, wenn sie ihre Mutter besuchen fuhr. Ich hab ihr den Golf natürlich gern gegeben. Ich brauche mein Auto ja nur sehr selten. Eigentlich nur zum Einkaufen.«

»Hat sie sich dafür denn revanchiert?«

Elisabeth Vogel sah sie erstaunt an. »Revanchiert, wofür?«

»Na, sich in irgendeiner Weise für Ihre Großzügigkeit erkenntlich gezeigt.«

»Ach«, Frau Vogel machte eine wegwerfende Handbewegung, »für die kurze Stadtfahrt. Dafür hätte ich sowieso nichts genommen. Das ist doch selbstverständlich.«

»Nein, Frau Vogel, da muss ich widersprechen. Das ist nicht selbstverständlich. Und zwar ganz und gar nicht.«

Ihr Mitgefühl für die arglos ausgenutzte Nachbarin bündelte Paula in einem Satz, wie sie ihn selbst erst vor Kurzem auf einer Parkbank am nahen Platnersberg zu hören bekommen hatte.

»Wissen Sie, dass Sie ein guter Mensch sind?«, sagte sie. »Und solche Menschen werden gerne von anderen missbraucht.«

Es war offensichtlich, dass sich Frau Vogel über dieses Kompliment freute. »Ach, da passe ich schon auf.«

Auch in diesem Punkt hätte Paula ihr gern und vehement widersprochen. Doch da sie jetzt das dringende Bedürfnis verspürte, heimzufahren, in ihre leere Wohnung mit dem vollen Kühlschrank, beließ sie es dabei und verabschiedete sich von Frau Vogel. Diese riet ihr noch, bei dem Gespräch mit Herrn Holzbauer auf der Hut zu sein.

»Das ist ein sehr schwieriger Mensch, müssen Sie wissen.«

»Da brauchen Sie sich um mich keine Gedanken zu machen, schwierig kann ich auch sein. Man könnte auch sagen, ich bin eine Meisterin im Schwierigsein – und vor allem im Schwierigkeiten-machen.«

Dann endlich stieg sie die Treppe zu Holzbauers Wohnung hinauf. Sie klingelte und musste eine lange Weile warten, bis sich die Tür endlich öffnete. Vor ihr stand eine füllige Frau mit tizianrot gefärbten Haaren, einem bunt bedruckten, ärmellosen Kittel und Ohrgehängen mit winzigen Granatsteinen. Die Frau war ungefähr in ihrem Alter und, wie es schien, auch in ungefähr ihrer derzeitigen übellaunigen Verfassung.

»Sie also sind die Kommissarin, derentwegen wir hier unsere Wohnung an einem Samstag nicht verlassen dürfen?«

Sie nickte. »Ja, Steiner ist mein Name. Von der Mordkommission.«

»Dann möchte ich jetzt als Erstes einmal Ihren Ausweis sehen.«

Sie zeigte ihn ihr. Danach durfte sie eintreten und wurde in die gute Stube der Holzbauers geführt. Ein alter Bauerntisch mit vier schönen Stühlen aus Weichholz, gepflegtes Buchenparkett, zwei moderne Sofas mit taubenblauem Wollbezug, davor ein niedriger Couchtisch aus dickem Acrylglas. Sie war überrascht, nach den Adiletten und der Kittelschürze hatte sie etwas weitaus weniger Geschmackvolles erwartet.

Sie setzte sich an den Bauerntisch, legte Block und Stift demonstrativ darauf und fragte: »Wie ich gehört und gelesen habe, standen Sie zu Frau Platzer in einem – sagen wir mal – gespannten Verhältnis. Was war der Grund dafür?«

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aus Herrn Holzbauer sprudelten die »Vorfälle«, wie er es nannte, nur so heraus. Er zählte all das auf, was sie schon von Frau Vogel in der Kurzfassung gehört hatte. Plus ein paar Vorfälle extra. Wie den, dass die »Schlampen da unten« in den Wintermonaten nicht geheizt hatte, was seiner Meinung nach vor drei Jahren einen Wasserrohrbruch verursacht hatte. Oder die Sache mit dem Rauchgestank, der vom unteren Balkon direkt in sein darüber gelegenes Schlafzimmer gezogen sei.

»Das ist schon in der Früh losgegangen, da hat es bei uns dermaßen nach Rauch gestunken, dass es nicht zum Aushalten war. Unser Balkon war quasi nicht zu nutzen. Aber Sie rauchen ja selbst, von daher können Sie gar nicht wissen, wie das für uns ist. Sie müssen ja immun dagegen sein. Gelesen, sagen Sie, wo haben Sie das eigentlich gelesen? Das würde mich jetzt aber interessieren.«

Seine Frau, die neben ihm saß und ihn von der Seite beobachtete, pflichtete ihm nach jedem Satz mit einem kurzen Kopfnicken bei.

Paula ignorierte seinen Seitenhieb genauso wie seine Frage. »Sie haben ja allen Grund gehabt, Frau Platzer zu hassen. Für Sie muss es doch jetzt ein wahrer Glücksfall sein, dass Frau Platzer nicht mehr lebt.«

Auch darauf erhielt sie umgehend eine Antwort. »Na, traurig sind wir darüber nicht. Hoffentlich zieht jetzt jemand ein, der besser in dieses Haus passt. Der reinlicher ist und ordentlicher und der sich auch mehr an die Vorschriften hier im Haus hält. Und der auch kein Kettenraucher ist.« Dabei blickte er sie herausfordernd an.

»Wo waren Sie am vergangenen Montagabend, in der Zeit von zweiundzwanzig Uhr dreißig bis dreiundzwanzig Uhr dreißig?«

Auch auf diese Frage schien Holzbauer nur gewartet zu haben. Triumphierend antwortete er: »Kurz vor elf waren wir, meine Frau und ich, noch am Nürnberger Flughafen. Dort hat uns unsere Tochter mit dem Auto abgeholt und nach Hause gebracht.«

»Wann genau waren Sie wieder hier?«

»So zehn Minuten nach elf Uhr.«

»Haben Sie zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Geräusche aus Frau Platzers Wohnung gehört?«

»Nein, das hätten wir der Polizei doch längst gemeldet. Wir wissen, was sich gehört! Aber unsere Tochter hat sich ja sofort als Zeugin zur Verfügung gestellt.«

»Als Zeugin?«, fragte Paula erstaunt nach.

»Sie hat doch, als sie von hier weggefahren ist, einen Mann aus dem Haus kommen sehen. Wissen Sie denn das nicht? Das müssten Sie doch wissen, wenn Sie diesen Fall bearbeiten. Das ist doch Ihre Hauptzeugin. Uns hat es schon sehr gewundert, dass keiner von der Kriminalpolizei persönlich mit ihr sprechen wollte«, sagte er in vorwurfsvollem Ton.

Also war Holzbauers Tochter einer der beiden Phantombildlieferanten gewesen.

»Das muss Sie nicht wundern. Da Ihre Tochter ja den Kollegen bei der Anfertigung des Phantombilds bereits alles geschildert hat, was sie beobachtet hat, ist das vollkommen ausreichend. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie am Montag aus einem Urlaub zurückgekommen sind? Wo waren Sie denn und wie lange? Und auch die Flugnummern brauche ich dazu von Ihnen.«

Sie versuchte es mit ihrem unverbindlichen Allerweltslächeln, das aber bei den Holzbauers keinerlei Wirkung zeigte.

»Warum wollen Sie das wissen? Wir haben doch ein perfektes Alibi. Uns kann keiner was anhaben.«

»Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, dass ich Ihnen etwas anhaben will, Herr Holzbauer. Ich möchte lediglich Ihr Alibi überprüfen. Wie wir das übrigens bei allen machen, die mit diesem Mordfall zu tun haben.«

Holzbauer stand abrupt auf und verließ stumm das Zimmer. Nach fünf Minuten kehrte er zurück und legte noch immer schweigend, aber mit großer Genugtuung zwei Flugtickets auf den Tisch.

»Wir waren drei Wochen in Marokko, in einem exquisiten Wellnesshotel.«

Sie notierte sich seine Angaben wie auch die Nummern der Flugtickets, fragte schließlich noch, ob Herr und Frau Holzbauer gestern oder heute etwas Auffälliges in der unteren Wohnung gehört oder gesehen hatten. Nachdem dies verneint wurde, stand sie auf und bedankte sich bei dem Ehepaar für »dieses aufschlussreiche Gespräch«.

Als sie bereits auf halber Treppe stand, öffnete sich die Tür oberhalb nochmals, und Holzbauer rief ihr nach: »Und dieses G’raffel vor der Wohnung da unten, das bleibt wohl?«

Lächelnd drehte sie sich um. »Von meiner Seite aus ja. Aber wenn es Ihrer Vorstellung von Reinlichkeit und Ordnung dient, haben Sie hiermit meine Erlaubnis, die Sachen in Ihren Keller zu tragen und dort zwischenzulagern, vorerst zumindest. So lange, bis Sie Gegenläufiges von mir hören. Aber nichts verschwinden lassen! Das ist alles Beweismaterial.«

Sie hörte, wie er oben verächtlich schnaufte und anschließend die Tür laut zuknallte.

Dann fuhr sie heim. Müde, hungrig und in dem erhebenden Gefühl, diesem schwierigen Menschen nichts schuldig geblieben zu sein.