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Mit dieser Genugtuung in den Augen betrat sie eine knappe halbe Stunde später ihre Wohnung, die Paul um elf Uhr dreiundfünfzig verlassen hatte, wie sie dem gelben Post-it-Zettel entnahm. Sie stellte sich zum zweiten Mal an diesem Tag unter die Dusche, zog ihren Schlafanzug an und bezog dann Position auf dem Sofa im Wohnzimmer. Links und rechts von ihr lagerte die Beute aus Erlenstegen – die Kalender und der Ordner. Sie genoss die Stille und die Leere um sich herum. So sehr, dass sie bereits nach fünf Minuten einschlief.
Kurz nach zwanzig Uhr weckte sie das Klingeln ihres Handys. Es war Eva Brunner, die ihr »den ersten Zwischenbescheid« persönlich übermitteln wollte.
»Es ist wie verhext, Frau Steiner, kein Mensch kennt einen von diesen beiden Personen. Und ich habe, das müssen Sie mir glauben, wirklich gründlich recherchiert. Bei der Frau Rupp habe ich angefangen und etliche Nachbarn gefragt. Nichts. Obwohl ich da die meiste Zeit … Dann bin ich in das Altersheim gefahren, wieder kein Erfolg. Weder unter den Pflegern noch unter den Besuchern. Wissen Sie, ich hab mir gedacht, ich gebe mich als Angehörige von einem der Heimbewohner aus. Und dieser Ohrstecker-Mann, so habe ich halt getan, hat mir und meinem Verwandten mal eine Gefälligkeit erwiesen, für die ich mich jetzt endlich revanchieren möchte. Also habe ich überall rumgefragt, ob jemand diesen … Das war doch gut von mir, oder?«
Ohne ihren Beifall abzuwarten, sprudelte der Redefluss am anderen Ende weiter und weiter.
»Da wecken wir auf keinen Fall irgendwelche schlafenden Hunde, wie Sie gesagt haben. Da kann niemand irgendeinen Verdacht schöpfen. Ja, und dann bin ich nach Schniegling gefahren. Und wissen Sie, was ich da gesagt habe, wer ich bin? Da habe ich mir gedacht, jetzt musst du was anderes probieren, sonst fällt es auf. Und zwar habe ich mich dann als eine flüchtige Bekannte, nicht als eine Freundin, was ja nur … vor diesen beiden Nichten der Platzer ausgegeben. Und wissen Sie … Jetzt fehlt mir eigentlich nur noch das Umfeld von dieser Tanja Weber. Aber das mache ich morgen. Wenn Sie damit einverstanden sind.«
Jetzt endlich schien Eva Brunner ihren »ersten persönlichen Zwischenbescheid« beendet zu haben. Zeit für den ersten persönlichen Zwischenapplaus.
»Da waren Sie aber fleißig. Seit wann sind Sie denn schon unterwegs?«
»Seit heute früh um acht Uhr. Aber es hat ja nichts gebracht. Das fuchst mich schon ein wenig. Ich war ganz fest davon überzeugt, im Verlauf dieses Tages finde ich diesen Mann mit seinem Ohrstecker. Aber nichts. Haben Sie denn wenigstens Erfolg gehabt, Frau Steiner?«
»Ja, so könnte man das nennen.« Sie erzählte Eva Brunner kurz von ihren beiden Funden.
»Ach, das ist ja toll. Glauben Sie, dass sich wenigstens die Fahrt nach Erlangen rentiert?«
»Tja, keine Ahnung. Vielleicht hat Heinrich doch recht. Er meint nämlich, dass solche Männer mit Ohrschmuck zuhauf umeinanderrennen.«
»Das glaube ich nicht. Wenn Heinrich damit recht hätte, dann hätte ich ja heute irgendeinen von diesen Männern treffen müssen, der …«
»So, Frau Brunner, ich bin dafür, dass Sie sich den morgigen Tag freinehmen. Erlangen läuft uns nicht davon. Nächste Woche haben wir genug zu tun, da sollten Sie fit sein. Am Montag in der Früh sehen wir weiter. Vielleicht bringen ja die Kalender etwas ans Licht.«
»Hm, ja«, lautete die ungewöhnlich kurze Antwort.
Als sie das Handy zusammenklappte, war sich Paula sicher, dass die Anwärterin den Sonntag nicht freinehmen, sondern in Erlangen verbringen würde. Auf der Suche nach einem Mann mit einem Brillanten im linken Ohr.
Sie ging in die Küche. Schälte Kartoffeln, setzte den tiefgekühlten Spinat auf den Herd und schlug sich drei Bio-Eier in die Pfanne. Eine halbe Flasche Grauburgunder, Schokokekse und Vanilleeis krönten dieses, wie sie fand, überaus gesunde Mahl. Gesättigt kehrte sie zu ihrem Interimsarbeitsplatz zurück.
Vor sieben Stunden hatte sie fest vorgehabt, sich heute noch den Ordner und die Kalender vorzunehmen. Gründlich und erschöpfend. Es blieb bei diesem guten Vorsatz. Jetzt war sie nämlich der Meinung, sich nach ihrer erfolgreichen Stöberaktion in der Eichendorffstraße eine kleine Auszeit verdient zu haben. So verbrachte sie den Abend in weitaus angenehmerer Gesellschaft als mit den Aufzeichnungen und Unterlagen ihres Opfers – nämlich mit der restlichen Flasche des Grauburgunders, der schon bald seine schwere Hand sanft auf ihre Schultern legte.
Am Sonntagvormittag aber gab es kein Zurück mehr. Nach einem hastig eingenommenen Frühstück setzte sie sich an den leer geräumten Tisch in der Küche und schlug den Ordner auf. Nachdem sie ihn zwar gewissenhaft, aber lustlos durchgeblättert hatte, war sie in keinem Punkt schlauer als zuvor. Die Papiere bestätigten lediglich das, was sie schon wusste: Die Tote verfügte tatsächlich über dieses ansehnliche Vermögen von gut dreihunderttausend Euro, und ihr gehörte die Eigentumswohnung, die ihr der Vater schon zu Lebzeiten überschrieben hatte. Und auch das war Paula bereits vor dem Aktenstudium bekannt gewesen: Pünktlich jedes Jahr hatte sich Herr Holzbauer über seine Nachbarin beschwert, das belegten die Protokolle der Eigentümerversammlungen.
Diese Pflichtübung hatte sie nun hinter sich. Sie verstaute den Ordner in der Plastiktüte, holte sich die Kalenderkladden aus dem Wohnzimmer und belohnte sich für ihre bisherige Mühe mit einer extragroßen Portion Vanilleeis. Als sie den Blick dabei gelegentlich zur Burg schweifen ließ, fiel ihr auf, dass sie ihr Stalker auch heute, wie schon gestern, in Frieden gelassen hatte. Sie wertete das als gutes Zeichen für ihr seelisches Gleichgewicht. Oder war sie mittlerweile dermaßen abgestumpft und gleichgültig gegenüber dieser fürchterlichen Zahl geworden, dass ihr der Geburtstag nichts mehr anhaben konnte? Egal, nun zur Kür.
Sie schaute zunächst den ältesten Kalender, den mit dem Aufdruck 2003, durch. Die Seiten waren gespickt mit den immer gleichen Angaben. Elvira Platzer hatte ihren Kalender wie eine Buchhalterin geführt und jeden Tag mit Bleistift vermerkt, wann sie aufgestanden und wann sie eingeschlafen war, wann sie zur Arbeit gegangen und wann sie wieder heimgekehrt war, dass sie dann »Kaffee getrunken + Gebäck« zu sich genommen hatte, was und bei wem sie eingekauft und vor allem wie viel Geld sie dafür ausgegeben hatte. Auch wenn sie an einem Tag keine Besorgungen festzuhalten hatte, eine Schachtel Zigaretten war zuverlässig immer dabei. Der Vermerk »3,20/Zig.« tauchte genauso regelmäßig auf jeder Seite auf wie der Dauerposten »Gebäck«, der ein Croissant, ein Apfelstrudel oder nur ein »Knoppers« sein konnte. Paula wunderte sich noch, wie billig die Zigaretten damals gewesen waren. Hatte sie selbst nicht großspurig verkündet, dass sie augenblicklich das Rauchen einstellen würde, wenn der Preis für eine Schachtel über die Drei-Euro-Marke steigen würde?
Schließlich gab es noch einen Dauerbrenner im niedergeschriebenen Leben der Toten, das war das Legen von »1 x Patience«. Gekocht dagegen wurde bei ihr selten, und wenn, dann kamen vorzugsweise »Fischstäbchen« auf den Tisch. Mal mit »Kart.«, mal mit »Schinkenwürfeln« und einmal sogar mit »Erdbeeren/Dose«. Der 23. März hielt fest: »Rest von den Fischstäbchen + Joghurt«. Abenteuerliche Kombinationen, aber für die abenteuerliche Köchin Steiner nicht weiter auffällig. Im Gegenteil, sie, die derzeit doch auch Fischstäbchen und Joghurt in ihrer Vorratshaltung hatte, griff die letzte Kombination bereitwillig als Menüvorschlag für das heutige Abendessen auf.
Sie klappte den Kalender zu und griff nach dem nächsten. Auch 2004 gaben das Aufstehen und das Heimkommen, die Arbeit und der Schlaf, der »Kaffee + Gebäck« und die Patiencen den Takt vor, nach dem Elvira Platzers Tage verliefen. Neu allerdings war, dass sie an einigen Stellen die Schichten, die sie hatte, mit einem empörten Ausrufezeichen versah. Wohl immer dann, vermutete Paula, wenn sie mit der Arbeitseinteilung von Frau Striegel ganz und gar nicht einverstanden war. 2004 kosteten die Zigaretten bereits 3,60 Euro.
Sie überlegte. 2004 war doch auch das Jahr gewesen, in dem Erwin Platzer aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und in dem Claudia Weber, geborene Rupp gestorben war? Aber es fand sich weder ein Eintrag zu dem Auszug noch ein Hinweis zum Sterbedatum und der versäumten Beerdigung. Zumindest kein direkter. Nur die sich ab September häufenden Eintragungen »geweint«, »viel geweint« und »TV, dann geweint«. Paula war jetzt mit dem Raster der Tagebucheintragungen, mit seinen wiederkehrenden Kürzeln und den immer gleichen Tagesabläufen, so vertraut, dass sie zügig vorankam. Als sie den Kalender von 2004 weglegte, war es Viertel nach zwei. Zeit für eine Pause, eben für »Kaffee + Gebäck«.
Auch in dieser kurzen kalenderfreien Zeit beschäftigte sie die Ermordete. So chaotisch ihre Wohnung auf andere wirken mochte, so ordentlich, ja akribisch bis hin zur Pedanterie hatte die Altenpflegerin ihre Eintragungen vorgenommen. Buch geführt über die banalsten aller Verrichtungen wie schlafen, aufstehen, heimkommen, einkaufen. Ein ganz privates Tagebuch. Vielleicht als eine Art Beleg, dass sie, die in ihrer Müllhalde jeder Wohnlichkeit entbehren musste, dennoch ein vorzeigbares, nämlich mit anderen berufstätigen Frauen durchaus vergleichbares Leben führte. Eins, das über das reine Vegetieren hinausging. Jeder dieser immer gleichen Einträge über die immer gleichen Abläufe hatte Elvira Platzer ein kleines Stück Sicherheit zurückgegeben, die sie wohl lange Jahre vermisst hatte.
In den Jahren 2005 bis 2007 variierten die Notizen. Die alltäglichen Banalitäten spielten zwar nach wie vor die Hauptrolle, wurden aber hin und wieder von den privaten Befindlichkeiten ein wenig aufgelockert. Im Januar fand sich der Vermerk: »S. sagt, ich soll nicht so trödeln. Blöde Kuh. Die kriegt doch ihre eigenen Sachen nicht geregelt.« Dieser Anpfiff hatte Folgen für das Philipp-Melanchthon-Heim. Denn danach häuften sich Eintragungen wie »bin krank«, »krankgemeldet«, »gehe nicht zur Arbeit« und – noch lakonischer – »bleibe daheim«.
Und noch etwas fiel Paula auf. In diesen Jahren hatte Elvira Platzer versucht, eine gewisse Ordnung in ihr Leben zu bringen. In jeder Woche wurde mindestens einmal »aufgeräumt«. Und alle drei, vier Tage »abgewaschen«. Und es fanden sich Einträge wie »Haare gewaschen«, »Fingernägel gefeilt«, »1 Pullover rausgewaschen«, »Knopf an gelbe Bluse angenäht«, »Waschbecken geputzt«. Die einfachsten Dinge der alltäglichen Körper- und Haushaltspflege wurden festgehalten. Doch neben der Mühe, die sie das gekostet haben musste, erkannte Paula auch den wie aus einem tiefen Traum erwachten Willen der Ermordeten, einen Neuanfang zu wagen. Einen, der sie irgendwann aus diesem Chaos herausführen sollte. Denn in den beiden Jahrbüchern fanden sich sogar, selten, aber immerhin, solche hoffnungsvollen Vermerke wie »Sonntagsblitz weggeworfen« oder »Rucksack entsorgt, da voller Schimmel«.
Notizen, die in den Aufzeichnungen der folgenden Jahre nicht mehr auftauchten. Entweder hatte Elvira Platzer der Mut verlassen und sie hatte diese Wegwerfaktionen eingestellt, oder sie hatte sie beibehalten, fand sie aber nicht mehr notierenswert. Nach dem Zustand der Wohnung zu schließen, war wohl Ersteres der Fall gewesen.
Der Kalender von 2008 barg eine noch größere Sensation. »M. ruft an, bin eingeladen zum Geb., gehe aber nicht hin«.
»Und warum nicht?«, fragte Paula halblaut in die Stille dieses späten Sonntagnachmittags hinein. Sie blätterte vor, sie blätterte zurück, aber nirgends ein Hinweis, warum Elvira Platzer dieser Einladung nicht gefolgt war. Und wer zum Teufel war M.? M., das konnte alles Mögliche heißen. Nein, doch nicht ganz. M., das stand doch eindeutig für Mutter oder Mama. Aber für welche? Für die leibliche oder für die Stiefmutter? Hatte die Tote in dieser Zeit den Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, zu Gertraude Klemm gesucht? Oder gar schon früher?
»M.« sollte in den folgenden Jahren nur noch einmal auftauchen, und zwar zu Neujahr 2009. »2x versucht, bei M. anzurufen, 2x Anrufbeantworter«. Wieder dieses ominöse M. Vielleicht M. nicht wie Mutter, sondern M. wie Melitta, das war doch auch denkbar, oder? Wer hatte diesen enttäuschten Kalendereintrag von 2009 zu verantworten und wer die Tote 2008 zum Geburtstag eingeladen?
Mittlerweile war es in der Küche dunkel geworden. Paula stand auf und schaltete das Deckenlicht ein. Jetzt fehlte nur noch der letzte Kalender, der vom vergangenen Jahr, dann endlich kämen ihre »Fischstäbchen + Joghurt« auf den Tisch. Keine besonderen Vorkommnisse im ersten Drittel von 2011, wenn man von dem neuen Zeitvertreib der Tagebuchschreiberin absah. In den Monaten Januar bis April fanden sich gehäuft Vermerke wie »Schlachthof angesehen« oder »TV: gemütlicher Film aus den 50ern«, »Die 12 Geschworenen« und »Grete Weiser im Fernsehen (köstlich!)«.
Paula hatte kein Fernsehgerät in der Wohnung gesehen, wahrscheinlich hatte die Platzer bei ihrer Nachbarin, bei Frau Vogel, diese köstlichen und gemütlichen Sendungen verfolgen dürfen. Direkt von dem gemütlichen und köstlichen sonnengelben Sofa aus.
Im Mai tauchten dann wie aus dem Nichts plötzlich »Treffen mit den Meinen« auf. Treffen mit den Meinen? Zuverlässig jeden Samstag oder, wenn die Platzer da arbeiten musste, dann am Sonntag. An diesen »Treffen mit den Meinen«-Tagen trat alles andere in den Hintergrund: Die vormittäglichen und abendlichen Kalenderabschnitte waren dann leer. Also stimmte die Sache mit den samstäglichen Besuchen, die Elvira Platzer ihrer Nachbarin erzählt hatte. Zumindest ab Mai letzten Jahres. Aber wer waren diese »Meinen«? Auf Paula wirkte dieser geschraubte und pathetische Ausdruck befremdlich, er passte so gar nicht zu dem lakonischen Stil der bisherigen Rapporte über das Aufstehen, Heimkommen, Einkaufen.
Und doch, je länger sie darüber nachdachte, irgendwie waren die »Meinen« auch wieder passend. Diese Formulierung signalisierte in ihrer Bemühtheit die überschwängliche Freude, die Elvira Platzer über diese Treffen empfunden haben mochte. Ja, mehr noch, sie kündete von deren Stolz, dass sie nun auch so etwas wie eine Familie, nahe Angehörige vorzuweisen hatte. Das Unbehagen in der Gegenwart, das aus ihren Notizen bislang gesprochen hatte, schien an diesen Tagen nicht zu existieren. Ihre große Sehnsucht nach einem intakten Familienleben hatte sich wohl mit diesen »Treffen mit den Meinen« erfüllt.
Doch schon ab Anfang November mehrten sich die Anzeichen, dass auch diese Phase des Aufschwungs bald ein Ende haben sollte. Die Treffen fanden nur noch selten statt. »Kein Treffen«, »Treffen entfällt« und »heute wieder allein« bestimmten jetzt die Eintragungen. Kurz vor Weihnachten der Vermerk »Die wollen nur mein Geld«. Dann endeten die Einträge. Die restlichen Blätter in dem Kalender waren leer, und für 2012 existierte keiner mehr. Elvira Platzer hatte resigniert. In ihrem Kampf gegen das Chaos und in ihrem Streben nach Anerkennung und Liebe.
Als sie die Fischstäbchen in das heiße Öl legte, kam ihr das Leben der Toten wieder einmal erschreckend trist und sinnlos vor. Als ein Leben ohne jede Sicherheit mit der ständigen Angst vor Verlust, der sie mit Horten und Sparen entgegenzusteuern versuchte. Als eine einzige Tragödie, die schicksalhaft auf ihr unseliges Ende zusteuerte. Und bei der im ständigen Gegenschnitt der Perspektiven Erwartung und Enttäuschung abwechselten. Nur einmal, ab Mai letzten Jahres, schien diese unendliche Geschichte der Unsicherheit sich zum Guten gewendet zu haben. Und das Testament, zu dem sie sich Anfang Januar aufgerafft hatte? Leicht würde ihr das nicht gefallen sein, denn Notare, zumal solche mit Sitz am Hauptmarkt, verlangten Geld für ihre Dienste. Also musste ihr dieser Gang sehr wichtig gewesen sein. Letztlich bestätigte es diese bittere Erkenntnis. Als Gegenmittel zu der Habgier der »Meinen«. Auch eine Art Rache.
Als die Fischstäbchen, zwei Joghurtbecher und der biodynamische Retsina aus dem Pilion auf dem Tisch standen, stellte Paula ihre Arbeit ein. Verbot sich, weiter über die Tristesse der Elvira Platzer zu grübeln. Zumal sich auch deren stumme Menüempfehlung als Schlag ins Wasser herausgestellt hatte. Als nahezu ungenießbar und wenig sättigend. Hinzu kam die Enttäuschung über den so sauren wie klebrigen Retsina, der ihr noch Stunden später aufstieß.
Am nächsten Morgen weckte sie der Hunger. Ein opulentes Frühstück mit einem Oberpfälzer Bio-Ei entschädigte sie für die Katastrophe des gestrigen Abends. Sie freute sich jetzt auf ihre Arbeit. Auf Eva Brunner mit ihrem Diensteifer und der schier grenzenlosen Zuversicht, auf Heinrich, auf den sie sich immer verlassen konnte, wenn es hart auf hart ging, auf die Lösung dieses Rätsels, das ihr nach der aufschlussreichen Lektüre nun als weitaus weniger knifflig erschien.
Als sie ihr Büro betrat, blickten ihre Mitarbeiter erwartungsvoll zu ihr auf, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Als Erste ergriff die Anwärterin das Wort.
»Guten Morgen. Frau Steiner, ich war gestern doch noch in Erlangen. Lange sogar. Aber es hat nichts gebracht. Ich glaube jetzt fast, es gibt im Großraum Nürnberg überhaupt keinen einzigen Mann mit einem Brillantstecker im linken Ohr. Oder wissen Sie, wo ich mich noch umschauen könnte?« Die Enttäuschung über den ergebnislosen Wochenendeinsatz war Eva Brunner deutlich anzuhören.
»Im Moment nicht. Aber ich habe in den Kalendern eine Spur gefunden, der sich nachzugehen lohnt. So, und jetzt berichte ich mal, was ich alles am Wochenende herausgefunden habe. Nein, jetzt erzählst du erst mal, Heinrich. Hat sich dein Einsatz am Freitag gelohnt?«
»Ja und nein. Ja, weil dieser Platzer wirklich eine umfangreiche Sammlung von Jagdmessern hat. Hängt alles in seinem Wohnzimmer, hinter Glas. Eine ganze Wand ist voll damit. Darunter waren auch zwei Nicker. Klaus hat sie mitgenommen. Das Zeug ist übrigens nicht billig. Ich hab Platzer gefragt, wie er sich das leisten kann. Das sei kein Problem, hat er gesagt, das sei sein einziges Hobby. Jagdmesser sammeln. Weißt du, was er noch gesagt hat?«
Wieder eine von Heinrichs rhetorischen Fragen, die er sich wie gewohnt umgehend selbst beantwortete. »›Der Gebrauch ist nicht wichtig für mich, ich seh sie mir nur gerne an.‹ Ein komischer Typ.«
»Ja, seltsam. Dass jemand an so was Gefallen finden kann. Na, egal. Was hat denn seine tierliebe Exfrau zu diesem Hobby gesagt?«
»Die war nicht so begeistert davon wie er. Wegen ihr hat er ja dann auch letztendlich seine Mitgliedschaft in dem Jagdverband gekündigt. Das habe ihm gar nichts ausgemacht, meinte er.«
»Hat Klaus die Messer schon untersucht?«
»Ja. Und das Ergebnis ist schon da: An diesen beiden Nickern finden sich«, betonte Heinrich, »nicht die geringsten Spuren.«
»Gut beziehungsweise nicht gut. So, und jetzt erzähle ich von meinem Einsatz.«
Es wurde ein langer Bericht. Sie fing bei dem abgerissenen Siegel, dem Telefon und dem notariell beglaubigten Testament an, machte bei den Streitereien mit Herrn Holzbauer und dessen Tochter, der Zeugin, weiter, erzählte dann von »M.«, den Meinen-Treffen und deren abruptem Ende und schloss mit dem Zufallsfund, der Stachelniete mit dem rubinroten Glasstein.
Nachdem kein Einspruch dazu kam, fuhr sie fort.
»Ich lasse in der Zwischenzeit die Niete und die Siegelreste auf Fingerabdrücke untersuchen. Und du, Heinrich, wirst mit dem Notar reden. Vielleicht hat sie ihm ja den Grund genannt, warum sie ein notariell beglaubigtes Testament braucht, denn ungewöhnlich ist das für sie schon. Das hätte sie auch billiger haben können.«
Dass diese Recherche nur eine Verlegenheitslösung mangels anderer Perspektiven war, behielt sie für sich.
»So, das war das. Frau Brunner, ich möchte, dass Sie an dem Ohrstecker-Mann dranbleiben. Heinrich, was meinst du, wo könnten wir da noch ansetzen?«
Heinrich tippte sich zweimal auf die Stirn. »Was soll das außer der puren Zeitverschwendung bringen? Da hat doch jeder was ganz anderes gesehen, wenn man mal die Kappe und den Ohrstecker außen vor lässt. Und, soll ich dir was sagen? Da hätte sogar ich als Zeuge Schwierigkeiten, einen Mann zu beschreiben, den ich in der Dunkelheit an mir vorbeihuschen sehe.«
»Der Meinung bin ich nicht, Heinrich«, widersprach die Anwärterin Brunner. »Ich finde, das ist unsere wichtigste Spur, der wir unbedingt nachgehen müssen. Und zwar wir alle drei hier.«
Da tippte sich Heinrich zum zweiten Mal mit dem Zeigefinger an die Stirn, diesmal vehementer. »Kann das sein, dass du einen Patscher hast? Bloß weil du …«
Von dem folgenden Geplänkel drangen nur Wortfetzen zu Paula durch. Sie war wie Eva Brunner überzeugt, dass es eine wichtige Spur war, aber sie glaubte wie Heinrich, dass eine Befragung im großen Stil nichts ergeben würde. Irgendetwas störte sie an diesen zwei Zeichnungen, wobei sie nicht sagen konnte, was das war. Es war das falsche Bild zum richtigen Gedanken. Aber was war falsch daran? Da kam ihr die Szene vor dem Fußballspiel in den Sinn: sie vor dem Drehkreuz mit der Karte in der Hand, vor ihr die Frau, die sich dann als Mann herausgestellt hatte. Genau, das war es, was sie störte.
»Und was, wenn das gar kein Mann war, sondern eine Frau? Wenn sich unsere zwei Zeugen getäuscht haben? Nicht in dem Ohrstecker, auch nicht bei der Kopfbedeckung, aber im Geschlecht? Was kein Wunder wäre, wenn man jemanden nur von Ferne in stockfinsterer Nacht vorbeieilen sieht. Wie du es gesagt hast, Heinrich. Und dann noch mit einer Baseballkappe, die das Gesicht halb verdeckt.«
»Da könnte etwas dran sein«, sagte Heinrich, doch dann schienen ihm Zweifel zu kommen. »Aber glaubst du wirklich, die Platzer wurde von einer Frau mit einem solchen Nicker, diesem Jagdmesser, umgebracht?«
»Ja, warum denn nicht? Die Emanzipation schreitet allenthalben voran«, zitierte sie Frieder Müdsam. »Frauen gehen mittlerweile auch auf die Jagd, Heinrich. Oder sammeln Waffen.«
»Aber eine Frau mit Ohrschmuck werden wir selbst durch eine groß angelegte Suche nicht finden. Dafür gibt es einfach zu viele davon«, meldete sich eine enttäuschte Eva Brunner zu Wort.
»Das nicht. Aber wir wissen jetzt trotzdem mehr als zuvor.«
»Und das wäre?«, fragte Heinrich.
»Wir haben das Siegel und diese Stachelniete. Zum Zweiten wissen wir, dass die Webers verschuldet waren. Zum dritten haben wir das Testament, das …«
»Gell, das freut dich, Paula?«, unterbrach Heinrich sie. »Dass die Platzer ihre ganze Habe dem Tierheim vermacht hat und nicht ihrer Stiefmutter oder ihren Nichten. Dass die also leer ausgehen.« Er klang ungewohnt streitlustig.
»Ja, vor diesem Wochenende hätte es mich noch gefreut. Da hättest du recht gehabt«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Aber jetzt ist mir das wurscht. Das ist mir so was von egal, ob das Geld und die Wohnung jemand aus der Verwandtschaft kriegt oder nicht.«
»Und warum dieser Sinneswandel auf einmal?«, hakte Heinrich nach.
»Weil ich am Samstag auf eine Seite der Platzer gestoßen bin, die mir nicht gefallen hat. Die war nämlich nicht nur geizig, sondern hat auch ihre gutmütige Nachbarin nach Strich und Faden ausgenutzt.«
»Aha, da schau her. Dein Mitleid für diese arme, arme Frau hat sich wohl erschöpft?«, fragte Heinrich, dabei triefte seine Stimme vor Ironie.
»Sagen wir mal so: Ich sehe das jetzt alles ganz neutral und objektiv. Und das ist auch gut so, weil ich dann nicht voreingenommen bin. Wie andere Leute in diesem Raum hier, die einer anderen armen, armen und vor allem alten, alten Frau gegenüber übergroße und vor allem völlig unverständliche Sympathien hegen. Nur weil sie selbst so einen überaus spießigen und kitschigen Telefonschoner besitzen wie diese andere Person.«
Eva Brunner hatte das Wortgefecht zwischen ihren beiden Kollegen verwundert und stumm verfolgt. Wie ein Zuschauer ein Tennisspiel, bei dem die Bälle hin und her geworfen werden. In dem Bemühen, in den aufkeimenden Streit, der jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen schien, besänftigend einzugreifen, meldete sie sich zaghaft zu Wort.
»Also, ich finde, Frau Steiner hat da schon recht. Neutralität bei der Zeugenvernehmung ist grundsätzlich …«
»Ach, red doch nicht so saublöd daher! Spar dir deine Kalauer. Zumindest mir gegenüber.«
Erschrocken sah ihn Eva Brunner an. Und auch Paula wunderte sich über Heinrichs heftige Reaktion, die so gar nicht zu ihm passen wollte.
»Also, irgendetwas stimmt heute mit dir nicht. Du hast ja eine dermaßen große Wut, dass du gar nicht mehr merkst, wie ausfällig und verletzend du bist. Frau Brunner und ich sind nicht deine Blitzableiter. Was ist denn los, dass du so gemeingefährlich bist?«
Es war dem Oberkommissar anzusehen, dass er sein Verhalten schon bereute. Zumindest ein wenig.
Nach einer Minute unheilvollen Schweigens im Kleinkommissariat rückte er endlich mit der Sprache heraus. »Ich bin heute früh von Trommen angesprochen worden. ›Na‹, hat er gesagt, ›heute mal keine Krankmeldung? Oder haben Sie vergessen, dass heute Montag ist? Das ist doch eigentlich Ihr Tag. Oder spielt Frau Steiner nicht mehr mit und paukt Sie aus allem raus? Ja, das ist schon bitter, wenn auf die Vorgesetzte kein Verlass mehr ist, so wie früher.‹«
»Und das war alles?«
Heinrich nickte.
»Das kann doch dir herzlich egal sein, was dieser Blödmann sagt. Der will doch nur Unfrieden zwischen uns stiften. Merkst du denn das nicht?«
Nach einer Weile fügte sie grimmig hinzu: »Und das scheint ihm ja auch sehr gut gelungen zu sein.«
Da hörte man von Heinrichs Schreibtisch ein kaum hörbares Gebruddel.
»Wie bitte? Was sagst du? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Es tut mir leid.«
»Dann passt es ja. Und wir können weitermachen. Diese ›Treffen mit den Meinen‹, von denen ich schon erzählt habe, sind derzeit am ergiebigsten für uns. Auch deswegen, weil ich ›den Meinen‹ noch am ehesten zutraue, dass sie einen Schlüssel zur Wohnung haben. Und derjenige, der das Siegel abgerissen hat, hatte einen Schlüssel. Außerdem hat die Platzer niemanden in ihre Wohnung gelassen, aber Mörder Nr. 2, den Messerstecher, anscheinend schon. Sie muss ihn also gut gekannt haben. Wer aber sind diese Meinen?«
»Für mich sind das Familienmitglieder«, antwortete Eva Brunner als Erste. »Oder, Heinrich? Wie siehst du das?« Sie schien froh, dass das kommissionsinterne Gezänk ausgestanden war.
Sehr harmoniebedürftig, dachte die Vorgesetzte der Anwärterin, aber gottlob nicht nachtragend oder gar beleidigt.
Heinrich sah das genauso.
»Gut, ich sehe das im Übrigen auch so. Schon allein deswegen, weil im Fall der Platzer niemand anderes dafür in Frage kommt. Also haben wir die Rupp, die wir vorerst außen vor lassen, dann diese Halbschwester Melitta Ruckdäschel. Und die Webers als Hauptverdächtige. Dazu passt vor allem bei den Webers deren Verschuldung. Für die wäre so eine Erbschaft ein Rettungsschirm aus ihrem Dilemma. Darum auch vernehmen wir die drei getrennt, Frau Brunner übernimmt die Tierpflegerin, Heinrich die Studentin, und ich nehme mir den Vater vor. Und wir werden sie außer nach ihren Schulden und nach diesen ominösen Treffen auch nach den Fernsehsendungen befragen, die sie vergangenen Montagabend angeblich gesehen haben, und zwar intensiv. Jawohl, das ist schon mal ein hervorragender Ansatz.«
»Die haben sich sicher auf die Frage nach dem Fernsehprogramm vorbereitet«, wandte Heinrich ein. »Und sich untereinander abgesprochen. Davon verspreche ich mir gar nichts.«
»Das können wir auch«, antwortete Paula automatisch, »uns vorbereiten und absprechen. Und ich«, betonte sie, »verspreche mir viel von dieser Frage und den Antworten.«
»Was ist eigentlich mit dem Giftmörder? Oder ist das auch eine Mörderin für dich? Handelt es sich dabei um ein und dieselbe Person, oder stehen die beiden für dich zumindest in einem Zusammenhang?«
»Das, Heinrich, weiß ich im Augenblick noch nicht. Wobei ich eher glaube, dass das nicht der Fall ist. Der Giftmord war heimtückisch, von langer Hand vorbereitet und auch ziemlich abgebrüht. Das alles war der Messermord nicht. Sondern offen und, wenn man mal von dem Stich in die Halsschlagader absieht, sehr emotional.«
Als sie in ihrer Tasche nach den zwei Plastiktütchen kramte, beugte sich Eva Brunner neugierig über ihren Schreibtisch.
»Darf ich mal sehen, Frau Steiner?«
»Freilich.« Sie überreichte ihr die zwei Fundstücke.
»Ich weiß, was das ist«, sagte ihre Mitarbeiterin nach kurzem Betrachten. »Das ist eine Stachelniete von einem Halbstiefel. Ganz genau. Ich bin mir hundertprozentig sicher.«
Dann schwieg sie und hackte konzentriert auf ihre Tastatur ein. Nach wenigen Sekunden hatte sie im Computer gefunden, was sie suchte.
»Da, schauen Sie mal, das sind sie. Die Ankle Boots von Sam Edelman. Überall, auf der Rückseite, auf den Hacken und am Absatz, diese Nietbolzen.«
»Tatsächlich«, staunte Paula. »Sie haben vollkommen recht. Was kostet denn so was?«
»Zweihundertsechzig Euro«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Da brauche ich gar nicht nachzusehen, das weiß ich aus dem Kopf, weil diese Schuhe schon lange auf meiner Wunschliste stehen. Aber so viel Geld für ein paar Schuhe? Das habe ich einfach nicht. Aber toll sind die schon, Frau Steiner, oder?«
Das fand sie zwar nicht, zu viel Geglitzer, wie ein Christbaum in voller Festbeleuchtung, sagte aber: »Ja, auf jeden Fall. Ganz besonders schön. Ihnen würden die auch sehr gut stehen, mir vielleicht weniger.«
»Ach, die sind doch alterslos. Die kann doch jeder tragen. Auch Sie!«
Auch Sie? Das war, erkannte sie mit einem Anflug von Wehmut, der Versuch eines Komplimentes, aber eines gründlich misslungenen. Anscheinend war sie in den Augen ihrer Mitarbeiterin schon in dem Alter, in dem sie nur mehr altersloses Schuhwerk tragen konnte.
Mittlerweile hatte sich Heinrich neben sie gestellt, und auch er begutachtete nun die »alterslosen« Stiefeletten auf Eva Brunners Bildschirm.
»Paula, kannst du dich noch an die Klamotten von Jeannette Weber erinnern? Vor allem an den Strassgürtel. Die hat doch ausgeschaut wie ein Pfingstochs beim Almabtrieb. Zu der würde so etwas passen. Und zwar wie die Faust aufs Aug.«
»Stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Und wenn man dann noch die Schulden und das sehr dürftige Alibi dazunimmt …«
»Dann haben wir eine oder besser: die perfekte Tatverdächtige«, ergänzte der Oberkommissar selbstzufrieden. »Alles, was jetzt kommt, ist eigentlich ein Kinderspiel. Denn selbst wenn es für Fingerabdrücke nicht reicht, wonach es für mich bei der Größe ganz aussieht, dann ist auf dieser Stachelniete mit Sicherheit das eine oder andere Hautschüppchen. Und wir kriegen sie über die DNA-Analyse.«
Gerne hätte sie Heinrich auch in dieser Siegesgewissheit zugestimmt. Doch seine Lösung kam ihr zu einfach vor. Zu naheliegend, zu schnell, zu perfekt. Sie blieb skeptisch.
»Und wenn dieses Ding da der Platzer gehörte? Du hast die Wohnung noch nicht gesehen, Heinrich, die hat alles gesammelt. Alles! Die hätte auch so eine Niete, selbst wenn sie überhaupt keine Verwendung dafür hat, nicht weggeworfen.«
»Aber hast du mir nicht erzählt«, widersprach Heinrich, »dass sie in ihrem ganzen Chaos doch so etwas wie eine Ordnung und alles nach Themen sortiert hatte? Und eine Niete mit einem funkelnden Strasssteinchen unter den Obstkisten ist nicht ordentlich.«
»Ja, das stimmt schon. Und trotzdem …«
Auf der einen Seite der Waage lag dieses unbestimmte Gefühl, dass Jeannette Weber nicht das Zeug zur Mörderin hatte. Auch nicht die heftigen Gefühle, die dafür nötig gewesen waren. Aber das schwerere Gewicht – die Niete, der Strassgürtel, die Schulden, das dürftige Alibi – lastete auf der anderen Waagschale. Dennoch, die Zweifel blieben.
So fügte sie betont zuversichtlich hinzu: »Aber das werden wir ja bald wissen. Ich gehe jetzt in die Tetzelgasse und bleibe so lange dort, bis die mir etwas Definitives sagen können. Hoffentlich hat Frieder heute Dienst. Und Zeit.«
Bevor sie die Tür hinter sich schloss, rief Heinrich ihr noch gut gelaunt hinterher: »Da kann ich mir das mit dem Notar ja sparen. Das wäre ja dann alles doppelt gemoppelt, die reine Zeitverschwendung. Ich warte lieber, bis du wiederkommst, Paula, und wir was Definitives haben.«
Da drehte sie sich mit einem breiten Grinsen zu ihm um und tippte sich dann mit dem Zeigefinger auf die Stirn. »Da täuschen Sie sich aber, Herr Bartels. Das ist keine Zeitverschwendung. Wenn ich wiederkomme, will ich von dir alles über diese Testamentsverfügung wissen, was es dazu zu wissen und zu sagen gibt. Alles und keinen Deut weniger. Und – hast du beim Delphinarium schon angerufen?«
Heinrich schüttelte den Kopf.
»Dann machst du das bitte anschließend. Und die Technik soll heute noch in die Eichendorffstraße fahren und Fingerabdrücke von der Klinke nehmen. Wobei ich glaube, dass das nichts bringt. Aber kümmere dich bitte trotzdem darum.«
»Und, Frau Steiner, was machen wir jetzt mit den Webers? Vorladen oder nicht?«, wurde sie noch von Eva Brunner gefragt.
»Natürlich vorladen. Was sonst.«
Im Rechtsmedizinischen Institut in der Tetzelgasse hatte sie zweifaches Glück. Frieder Müdsam war da, und er hatte Zeit für sie.
Nach einem kurzen Blick auf das Tütchen mit der Stachelniete sagte er: »Ich fürchte, da ist über einen Fingerabdruck nichts zu holen. Es ist schon so, wie Heinrich meinte: Dafür ist das hier zu winzig. Und jetzt entschuldigst du mich bitte, ich habe einen Eilauftrag von der Frau Steiner. Und die kann und hat zwar viel, aber eines überhaupt nicht: Geduld.«
Bevor er mit den beiden Plastiktüten in seinem Labor verschwand, drehte er sich noch einmal kurz um zu ihr, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte, und rief dann: »Also, ein wenig Zeit musst du mir schon geben. Setz dich halt derweil auf die Bank, Paula.«
Prompt folgte sie Frieders Empfehlung und setzte sich. Während sie auf ihn und seine Untersuchungsergebnisse wartete, schaute sie gelegentlich auf ihre Uhr. Also alle fünf Minuten. Sie zwang sich zu Ruhe und Gelassenheit. Machte sogar ein paar der Atemübungen, die ihre Mutter für Fälle wie diese immer empfahl. Es half alles nichts: Ihr Puls galoppierte davon, als sei er ein Rennpferd auf der Zielgeraden.
Endlich öffnete Frieder die Labortür.
»Also, Fingerabdrücke gibt es, wie zu erwarten war, nicht, weder auf dem Siegel noch auf der Niete. Aber ich habe DNA-Spuren auf der Niete gefunden und gleich das entsprechende Muster erstellt.«
»Prima, schön, danke. Also kann das DNA-Muster nicht von der Toten stammen.«
»Ja, das ist ausgeschlossen. Das habe ich gleich mit überprüft. Hast du denn schon jemand Verdächtigen?«
»Ja. Und zwar jemanden, bei dem alles passen würde.«
»Na, dann viel Erfolg.«
Frieder nickte ihr noch abschließend kurz zu, dann verschwand er wieder in seinem Obduktionssaal. Und sie machte sich auf den Weg zum Jakobsplatz.
Dort angekommen, setzte sie sich erst mal auf ihren Stuhl, sagte nichts und dachte nach. Sollte sie für das, was nun vor ihr lag, einen richterlichen Beschluss beantragen? Oder doch eher auf die Freiwilligkeit der Weber-Töchter setzen? Die Voraussetzungen für eine vom Richter angeordnete Speichelprobe schienen ideal zu sein, andererseits hatte sie das bange Gefühl, sich bei einer solchen hoch aufgehängten Identitätsfeststellung zu blamieren. Wenn sie sich als falscher Alarm herausstellen würde. Nicht nur vor den Webers, sondern auch hier im Haus. Vor allem da. Sie entschied sich für die hoffentlich in ausreichendem Maß vorhandene Kooperationsbereitschaft der Tierpflegerin und der Studentin, vorerst zumindest, und beauftragte die Polizeiinspektion 1 mit der »Durchführung der Entnahme von Körperzellen im Mundinnenraum« bei Jeannette und Tanja Weber.
»Und seid bitte so freundlich und ruft mich sofort an, wenn eine von den beiden irgendwelche Sperenzchen macht. Dann hole ich mir augenblicklich einen richterlichen Beschluss, so schnell können die beiden gar nicht schauen, da liegt der vor.«
Jetzt erst informierte sie Heinrich und Eva Brunner über Müdsams Ergebnisse.
»Ha«, triumphierte Heinrich, »ich hab es dir ja gleich gesagt: Das passt wie die Faust aufs Aug. Diesen Mord haben wir so gut wie gelöst. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum du auch von Blondie Nummer zwei eine Speichelprobe nehmen lässt. Die wird es nicht gewesen sein.«
»Um sicherzugehen, Heinrich, nur um sicherzugehen«, antwortete sie gedankenverloren. »Und trotzdem … Ich bin noch nicht überzeugt, dass wir diesen Fall schon in der Tasche haben. Gerade deswegen, weil alles wie die Faust aufs Aug passt. Beziehungsweise passen würde.«
»Ach, da hat jetzt wieder unsere Bedenkenträgerin gesprochen. Nix da, der Strassgürtel war’s. Davon bin ich überzeugt.«
»Frau Steiner«, meldete sich nun die Kommissar-Anwärterin zu Wort, »die Telefonliste von Elvira Platzer hat übrigens nichts gebracht. Keine Anrufe in den letzten acht Monaten. Kein einziger. Ich frag mich schon, warum die Gebühren für etwas gezahlt hat, was sie nicht in Anspruch nahm. Wollen Sie selbst mal schauen?«
»Nein danke, das werden Sie schon richtig überprüft haben.«
»Soll ich zeitlich noch weiter zurückgehen? Das kann ich gern machen.«
»Nein, das braucht es nicht. Und, Heinrich, wie bist du in der Zwischenzeit vorangekommen?«
»Ich habe alles erledigt, gründlich, schnell und umfassend, wie du das von mir gewohnt bist. Klaus Zwo ist schon auf dem Weg in die Eichendorffstraße. Und von den beiden anderen Sachen, was möchtest du zuerst hören? Notar oder Delphinarium?«
»Was geht schneller?«
»Das Delphinarium. Es ist wirklich so, wie diese Jeannette Weber gesagt hat: Die Tierpfleger dort kriegen das Futter fix und fertig geliefert, die haben keinen Umgang mit Messern.«
»Gut. Jetzt der Notar.«
»Also, an viel konnte er sich nicht mehr erinnern, nur daran, dass es der Platzer wohl sehr wichtig war, dass ausschließlich das Tierheim von ihr erbt. Sie hat ihn nämlich ein paarmal gefragt, ob ihre Verwandtschaft dieses Testament in irgendeiner Weise anfechten könne. Und ob sie von Gesetzes wegen gezwungen wäre, ihren Verwandten einen Pflichtteil zu hinterlassen. Das schien sie auf keinen Fall zu wollen, dass da irgendjemand auch nur einen Cent von ihr erbt. Insofern hat ihr der Notar zu einem sogenannten negativen Testament geraten, worin sie die Rupp ausdrücklich von der Erbfolge ausschließt. Auf Deutsch: Sie hat sie enterbt. Ach ja, und auch daran erinnerte er sich sehr genau, dass sie ihm erst nach der zweiten Mahnung seine Rechnung bezahlt hat.«
»Na, das passt doch.«
»Mal was anderes. Mir ist in der Zwischenzeit etwas ganz Schlaues eingefallen, ich wundere mich selbst, dass ich da nicht früher draufgekommen bin. So ein Tiermedizin-Studium ist doch eine hervorragende Gelegenheit, um sich Rattengift aus älteren Beständen zu besorgen.«
»Nein, das glaube ich nicht. Beziehungsweise, ich weiß es. Frieder hat mir nämlich gesagt, dass seit der Jahrtausendwende an den Unis ausschließlich Chemiestudenten Zugriff auf dieses Thalliumsulfat haben, einen streng kontrollierten Zugriff im Übrigen. Die können nur unter Aufsicht des Lehrkörpers damit arbeiten. Aber du kannst natürlich gern bei der Uni Erlangen anrufen und dir dort Frieders Aussagen verifizieren lassen.«
»Kann ich denn noch was erledigen, was uns weiterhilft, Frau Steiner?«, fragte Eva Brunner in bedrücktem Ton und kaum hörbar.
»Nein, im Augenblick nicht. Ich bin dafür, dass Sie sich – und auch du, Heinrich – den restlichen Tag freinehmen. Ich bleibe noch so lange hier, bis ich das Ergebnis aus der Tetzelgasse habe.«
Heinrich hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben und war zum Garderobenständer geeilt, um sich die Jacke überzuhängen, als Paula noch hinzufügte: »Halt, einer muss doch noch kurz dableiben und Telefondienst machen. So lange, bis ich von der Kantine zurückkomme. Ich habe nämlich jetzt gewaltigen Hunger.«
Sofort antwortete Eva Brunner: »Das mache ich. Gern sogar. Heinrich, du kannst schon gehen.«
Als Paula eine Dreiviertelstunde später in ihr Büro zurückkehrte, schüttelte die Anwärterin nur kurz den Kopf. Also hatte in ihrer Abwesenheit niemand angerufen. Nachdem auch Eva Brunner verschwunden war, stellte sie sich ans Fenster und blickte auf den Jakobsplatz. Die drängende Ungeduld des Vormittags war, was sie selbst überraschte, vollständig von ihr abgefallen. Sie hatte sich nun auf einen langen Arbeitstag eingestellt, den sie ausschließlich mit einer ihr sonst verhassten Tätigkeit, mit Warten, zubringen würde. Mit Warten auf den klärenden Anruf aus der Gerichtsmedizin.
Als eine halbe Stunde später das Telefon klingelte, hob sie sofort ab. Es war Klaus Zwo, der ihr mitteilte, dass sie weder auf der Klinke noch an der Tür und am Rahmen neue Fingerabdrücke gefunden haben. »Das habe ich schon befürchtet«, war ihr einziger Kommentar dazu.
Die folgende Stunde verbrachte sie abwechselnd damit, das Alibi von Erwin Platzer für die Tatzeit zu überprüfen, dann das von Melitta Ruckdäschel, die zwei Zeugen zu fragen, ob der Tatverdächtige unter Umständen auch eine Frau gewesen sein könnte, und minutenlang aus dem Fenster zu sehen. Das Ergebnis dieser Rumtelefoniererei überraschte sie nicht: Die VAG bestätigte Platzers Alibi, die Tochter der Ruckdäschel das ihrer Mutter, und ja, beide Zeugen hielten es für denkbar, dass der Mann mit der Baseballkappe auch eine Frau gewesen war.
Um siebzehn Uhr dreißig wurde sie von einem Kollegen von der Schutzpolizei darüber informiert, dass beide Weber-Töchter ihre Speichelproben nicht nur freiwillig, sondern geradezu gern abgegeben hätten und die Proben nun von Dr. Müdsam untersucht würden. Das bestätigte ihren Anfangsverdacht. Damit waren Tanja und Jeannette Weber aller Wahrscheinlichkeit nach schon mal zumindest bei dem Messermord aus dem Schneider, Frieder würde keine Übereinstimmung mit dem DNA-Muster auf dem Siegel und der Stachelniete finden.
Um neunzehn Uhr fünfzehn dann die endgültige Gewissheit. Die Hautschüppchen auf ihren Fundstücken stammten weder von Jeannette noch von Tanja Weber. Irrtum ausgeschlossen.
»Du hattest dir von dieser Untersuchung sicher mehr versprochen, Paula, oder? Ich habe dir damit wohl deine wichtigste Spur zunichtegemacht. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich? Ich gehe jetzt heim und mache mir einen gemütlichen Abend. Mit allem, was dazugehört.«
Das war gelogen. Denn ihre Planung für den restlichen Abend sah etwas ganz anderes vor, etwas Ungemütliches und längst Überfälliges, wie sie mittlerweile erkannt hatte. Zeit zum Nachdenken hatte sie in den vergangenen Stunden genug gehabt.