3
Auch am nächsten Morgen schreckte sie ihr Dauergast, der unerbittliche Stalker, aus dem Schlaf hoch. Diesmal war sie ihm – fast – dankbar, hatte er sie doch aus einem schlimmen Traum erlöst: Sie war in Elvira Platzers Wohnung gefangen gewesen, stand starr und hilflos in der Diele, genau an der Stelle, wo man die Tote gefunden hatte. Und überall, links, rechts, hinter ihr und vor der Wohnungstür, stapelten sich die Obstkisten bis zur Decke, fragile, aber furchteinflößende Gebilde, die immer näher zu kommen schienen.
Was hatte das zu bedeuten? Hatte sie Angst vor diesem Fall, glaubte sie insgeheim zu versagen? Oder war auch das – wie so manches andere, wie ihre wachsende Ungeduld, die immer größer werdende Abneigung gegen Hetze jeder Art und das schlagartig eingetretene Unvermögen, auf den Schraubdeckeln der Gurkengläser das Mindesthaltbarkeitsdatum entziffern zu können – eine dieser lästigen Begleiterscheinungen, die das Alter mit sich brachte? Kamen mit dem unsäglichen Geburtstag nun auch unweigerlich durch Alpträume nass geschwitzte Nächte auf sie zu, die sie die letzten zwanzig Jahre so gut wie traumlos verbracht hatte? Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett und verbot sich, weiter darüber nachzudenken.
An diesem Morgen gab sie sich Mühe, die Verrichtungen und Handgriffe des Alltags bewusst und ruhig, mit Sorgfalt und dadurch auch mit Freude zu erledigen, wie ihr das ihre Mutter immer wieder riet. Wenn man sich auf eine einzige Sache konzentrierte, lautete die Überzeugung von Johanna Steiner, und sei es nur der tägliche Abwasch, hätte man schon viel mehr Spaß daran, als wenn man mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen versuchte.
Langsam und bedächtig goss sie Wasser in die Kaffeemaschine, strich mit dem Finger und einer nahezu aufreizenden Sorgfalt zweimal über das gefüllte Kaffeelot, schaltete dann behutsam die Maschine auf »on« und konzentrierte sich darauf zu beobachten, wie der brühheiße Kaffee in die Glaskanne tröpfelte. Nachdem sie das gemeistert hatte, deckte sie den Küchentisch mit dem, was ihr Haushalt im Augenblick hergab: ein Stück knochenharter Butter, zwei Scheiben Vollkorntoast, ein klitzekleines Käseeckchen, dessen Ränder sich schon nach innen wölbten, dass es mehr einem Ball als einem Eck glich, sowie das Glas Imker-Honig, das ihr Paul vor Monaten aus dem Bayerischen Wald mitgebracht hatte.
Dann setzte sie sich, immer noch um Gemächlichkeit und Freude bemüht. Versuchte, den mehr labbrigen als weichen Toast mit der harten Butter zu bestreichen. Dieser Versuch endete abrupt in der Erkenntnis, dass Toastbrot nur in jenen Haushalten sinnvoll war, die auch über einen Toaster verfügten. Sie schob kurzerhand das Käseeck in den Mund, schluckte es mit einem Satz hinunter, stand auf und entsorgte die unansehnlichen Brotfetzen auf ihrem Frühstücksbrettchen mit einem kräftigen Schwung in den Mülleimer. Ihre Sorgfaltspflicht gegenüber den Alltagsverrichtungen sah sie damit als beendet an. Anscheinend war sie für die Muße, die notwendig ist, um Freude an den immer wiederkehrenden Handgriffen zu empfinden, doch noch zu jung.
Eine knappe halbe Stunde später betrat sie ihr Büro in der Erwartung, hier ihren Mitarbeiter vorzufinden. Sie wurde in dieser Vorfreude nicht enttäuscht – Heinrich saß an seinem Schreibtisch, gut gelaunt, an seinen Nägeln kauend und in gewohnt schwarzem Outfit, das heute aus einer schwarzen Jeans, schwarzem T-Shirt und ebensolchen Sneakers bestand. Es war also fast wie früher. Und doch … Es fiel ihr schwer, den verwaisten Schreibtisch Eva Brunners zu ignorieren.
»Ich wollte mich in unseren neuen Fall schon einlesen«, sagte Heinrich statt einer Begrüßung, »aber da steht ja«, er zeigte auf den Bildschirm seines Computers, »noch nichts drin.« Er sagte das ohne jeden Vorwurf in der Stimme.
»Dazu hatte ich gestern noch nicht die Zeit. Aber das hole ich nach. Außerdem war ich gestern Abend noch bei der Mutter der Ermordeten. Am besten ist, ich erzähle dir das Wenige, was ich bisher erfahren habe, jetzt gleich.«
Sie berichtete ihm von der speziellen Wohnungseinrichtung des Opfers, seiner Nachbarin, von der seltenen Tatwaffe, dem Nicker, und ihrem Besuch bei dem »Monster von Mutter«. Vor allem diesen letzten Punkt ihres Kurzreferats schmückte sie detailliert aus, was Heinrich aber nicht weiter zu berühren schien.
»Laminatböden, Rembrandt-Drucke und neue Orientteppiche gibt es doch zuhauf, das ist nichts Ungewöhnliches, Paula.«
»Warum, habt ihr, du und deine Oma, etwa auch so einen Telefonschoner?«
»Ja. Aber nicht in Weinrot, sondern aus dunkelgrünem Samt. Und so unpraktisch ist der gar nicht, wie du meinst, damit sieht man nämlich das hässliche Beige von dem Apparat selbst nicht mehr.«
Sie war so perplex, dass ihr der Mund offen stand. Heinrich nutzte diese seltene Chance, um ihr auch in den anderen Punkten zu widersprechen.
»Auch darin, dass die Mutter so kühl auf die Nachricht reagiert hat, kann ich im Gegensatz zu dir nichts Verwerfliches finden. Du meinst immer, weil du so ein gutes Verhältnis zu deiner Mutter hast, muss das überall so sein. Das ist aber mehr die Ausnahme denn die Regel, Paula.«
»Da bin ich anderer Meinung. Und außerdem ist es ein großer Unterschied, ob ich als Mutter ein eher unterkühltes Verhältnis zu meiner Tochter habe oder ob ich auf die Nachricht vom Mord an ihr so reagiere wie Apolonia Rupp. Nämlich völlig regungslos. Wo andere Menschen ein Herz haben, hat die ein Gefrierfach. Weißt du, was die gesagt hat? Das musste ja so kommen. Also, das ist doch …«
»Das hast du mir bereits zweimal in allen Einzelheiten erzählt, Paula«, unterbrach sie Heinrich schnell. »Dir scheint das ja wirklich nahezugehen. Ich betone nochmals: Mangelnde Liebe in der Verwandtschaft, gerade zwischen den Generationen, ist gang und gäbe und mit Sicherheit kein Verbrechen.«
»Du warst nicht dabei, Heinrich. Das hatte mit mangelnder Liebe nichts mehr zu tun, da war schon Abscheu, ja richtiger Hass im Spiel. Aber weißt du, dass mich das ausgerechnet von dir schon sehr überrascht. Du magst doch deine Großmutter auch …«
»Was heißt hier: Ich mag sie? Ich liebe meine Oma. Über alles. Und zwar unter anderem vielleicht auch deswegen, weil ich als Kind nicht das allerherzlichste Verhältnis zu meinen Eltern hatte. Ich weiß also, wie das ist, wenn man sich innerhalb der Familie gleichgültig ist.«
Das war neu für sie. Wer noch mal hatte ihr erst vor ein paar Monaten erzählt, seine Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er noch ein Baby gewesen war?
»Gut, dann hast du ja im Gegensatz zu mir keine Aversionen gegen Frau Rupp – dann kannst du ja auch die Gespräche mit ihr führen. Da kommt bestimmt mehr raus, als wenn ich das alleine mache.«
»Gerne, mir macht das nichts aus.«
Paula erinnerte sich an das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte: den Fall unbedingt vor Eva Brunners Rückkehr zu lösen.
»Schön. Wir müssen wissen, ob unser Opfer noch weitere Verwandte hatte. Dann müssen wir den Exmann sprechen und auch in das Altersheim fahren, wo die Platzer gearbeitet hat. Und die Nachbarn befragen. Was möchtest du davon übernehmen, und was soll ich machen?«
Dass sie mit diesem großzügigen Angebot Heinrich die Wahl der Befragungen frei überlassen und damit die Rolle zwischen Chefin und Mitarbeiter getauscht hatte, merkte sie erst, als es bereits ausgesprochen, also zu spät war. Dabei wollte sie nach dem Desaster mit der Brunner doch mehr darauf achten, dass sie ihrer Führungsfunktion bewusster und professioneller nachkam.
»Warum machen wir das alles nicht gemeinsam? Wir haben doch Zeit. Oder gibt es irgendwelche Terminvorgaben von oben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Von oben nicht, bis jetzt zumindest nicht. Aber ich würde den Fall gerne abschließen, bevor …«
»… die Eva wieder da ist. Das schaffen wir doch auch so locker, Paula. Du hast die Adressen des Exmannes und von dem Altersheim, ja? Dann fahren wir zuerst zu dieser Rupp und fragen nach weiteren Verwandten. Bei der Gelegenheit kann ich dann auch den weinroten Telefonschoner eingehend begutachten, von dem du mehrfach so verlockend gesprochen hast.« Er sah sie mit einem spitzbübischen Lächeln an.
»So machen wir es. Und wenn du dich an dieser Zierde der gehobenen Inneneinrichtung sattgesehen hast, kannst du die Besitzerin auch mal nach den näheren Gründen fragen, die zu dieser heftigen Abneigung gegenüber ihrer Tochter geführt haben. Denn deren Berufswahl und ihre staubige vollgestellte Wohnung allein können es ja nicht gewesen sein.«
Eine Dreiviertelstunde später standen sie vor dem Hochhaus in der Pilotystraße. Die Tür sprang, wenige Sekunden nachdem sie geklingelt hatte, auf. Als sie neben Heinrich die Treppen hochstieg, musste sie lächeln. Sicher hatte die Rupp nach ihrer gestrigen Drohung, sie würde bald wiederkommen, den Vormittag wartend hinter den blütenweißen Stores verbracht. Sie war neugierig, wie die beiden Telefonschoner-Besitzer miteinander zurechtkämen. Vielleicht reichte diese Gemeinsamkeit aus, damit Apolonia Rupp über den in ihren Augen sicher unangemessenen Aufzug Heinrichs hinwegsah? Obwohl … Nein, das glaubte sie nicht. Für die alte Frau war ein Polizeibeamter mit halblangem grisseligem Haar, das in übermütigen Wirbeln nach allen Seiten vom Kopf abstand, und einem einfachen schwarzen T-Shirt sicher etwas, was sich nicht gehörte.
Sie wurden oben bereits erwartet. Frau Rupp schenkte ihr wie schon gestern diesen ablehnenden misstrauischen Blick, während sie Heinrich, der sich als »Mitarbeiter von Kriminalhauptkommissarin Steiner, Herr Bartels« vorstellte, aufmerksam und mit einem verbindlichen Lächeln musterte.
»Kommen Sie doch bitte herein.«
Frau Rupp ging mit hartem Schritt voran; sie trug wie gestern die mittelbraunen Halbschuhe, die auf dem Laminat ein laut klackendes Geräusch verursachten. Paula folgte ihr auf dem Fuß, setzte sich unaufgefordert auf das geblümte Sofa und beobachtete mit der Andeutung eines Lächelns Heinrich, der noch im Stehen die Telefon-Brokat-Haube mit dem floralen Muster eingehend begutachtete.
»Der ist praktisch, gell?«, sagte er zu Frau Rupp, und in seiner Stimme schwang so etwas wie aufrichtige Begeisterung mit. »Ich habe auch so einen Telefonschoner daheim, allerdings in Grün. Ich glaube, die werden gar nicht mehr hergestellt. Für diese schnurlosen neumodischen Telefonapparate ohne Wählscheibe gibt es so was nicht, ist wohl auch unmöglich, da einen Mantel drum herum zu wickeln. Und dabei ist es doch so ein angenehmes Gefühl, wenn man den Hörer wieder auf die Gabel zurücklegt.«
»Oh ja«, pflichtete ihm Frau Rupp lebhaft bei, »und es verleiht dem Meublement so einen kecken Pfiff, finde ich. Technische Gerätschaften sind ja, für sich genommen, regelrecht hässlich. Das muss man nicht auch noch ständig vor Augen haben.«
»Da haben Sie vollkommen recht, das finde ich auch.«
Paulas Kommentar zu dieser Unterhaltung beschränkte sich auf ein leises Stöhnen.
»Darf ich?«, fragte Heinrich und deutete auf das Sofa, auf dem seine Chefin bereits Platz genommen hatte.
»Aber natürlich, gerne, Herr Bartels. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee? Ich mache einen hervorragenden Kaffee, einen guten deutschen Kaffee. Jeder, der zu mir kommt, sagt das. Weil ich ihn noch von Hand aufbrühe, mit einer Karlsbader Kaffeekanne. Ganz altmodisch sozusagen. Aber das schmeckt man auch. Ich traue diesen modernen Kaffeemaschinen nämlich nicht«, setzte Apolonia Rupp mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu, »die können keinen anständigen Kaffee machen. Vorausgesetzt, Sie haben es nicht allzu eilig, denn mit einem einfachen Knopfdruck ist es da nicht getan. Gutes dauert eben seine Zeit.«
Bevor der seit einigen Monaten zum kategorischen Teetrinker konvertierte Heinrich dankend ablehnen konnte, ergriff Paula rasch das Wort.
»Danke ja, ich nehme gerne eine Tasse von diesem guten Kaffee. Das klingt ja verlockend. So ein freundliches Angebot darf man nicht ausschlagen, gell, Heinrich?«
»Und Sie auch, Herr Bartels? Ach, Sie werden gar nicht gefragt. Einen guten Kaffee trinkt doch jeder gerne. Ich darf Sie kurz allein lassen.« Damit eilte Frau Rupp aus dem Zimmer.
Während sie das geschäftige Rumoren in der Küche vernahmen, zischte sie Heinrich mit hochgezogenen Augenbrauen an: »Was wird das denn hier, wenn es fertig ist? Eine Unterhaltung über die Vorteile von Telefonschonern? Vielleicht geht das Ganze auch etwas zackiger.«
Er legte ihr die Hand besänftigend auf den Unterarm. »Geduld, Geduld, Frau Steiner. Du hattest mir freie Hand gelassen. Und außerdem wolltest du einen Kaffee haben, nicht ich. Also bitte, jetzt werd nicht schon wieder ungeduldig«, sagte er so leise wie vergnügt.
Nach einer kleinen Ewigkeit unterbrach endlich Frau Rupp, die ein Tablett auf den niedrigen Couchtisch stellte, das angestrengte Schweigen der beiden Kommissare.
Während sie das Geschirr verteilte, sagte sie: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen.« Wieder war da diese freundliche Verbindlichkeit, die Paula gestern Abend vermisst hatte.
Sie erkannte sofort, dass ihnen hier das Kaffeeservice, das eigentlich für den sonntäglichen Besuch reserviert war, vorgesetzt wurde. Sanssouci Arkadien von Rosenthal mit Goldrand, reich verziert und für ihren Geschmack viel zu verschnörkelt. Nichtsdestotrotz hatte es den Charme, den jede nette Geste hat.
Auch wenn diese Ehre, da war sie sich ganz sicher, nicht ihr galt, sondern ausschließlich Heinrich. Das überraschte sie, denn es bewies, dass sie sich bei Frau Rupp zumindest in einem Punkt getäuscht hatte: Anscheinend sah diese in Heinrich doch nicht den antibürgerlichen, nachlässig gekleideten Liederjan, sondern war durchaus imstande – und willens –, hinter sein unkonventionelles Äußeres zu schauen, um dort sein reichliches Reservoir an Liebenswürdigkeit zu erkennen.
Doch nun wartete Paula gespannt, ob dieses Reservoir so groß war, dass er, der Kaffee verabscheute, das ihm Vorgesetzte im wahren Sinn des Wortes auch schlucken würde. Ja, es ging so weit. Und noch ein gutes Stück darüber hinaus.
»Das riecht ja ganz … äh … wunderbar«, sagte er, bevor er die Tasse zu den Lippen führte. »Und es schmeckt auch so, wie es riecht: Wunderbar!«, ergänzte er mit aufgesetzter Emphase, nachdem er ein wenig zögerlich den ersten Schluck genommen hatte.
Dieses bemühte Standardlob wurde dem wirklich einzigartigen Brühkaffee nicht gerecht, fand sie, darum fügte sie aufrichtig hinzu: »Ja, das stimmt. Einen so guten Kaffee habe ich schon lang nicht mehr getrunken. Der ist voll, ohne bitter zu sein, und stark, ohne vordergründigen Affekt. Da kann mein Kaffee aus der Maschine nicht mithalten. Einsame Spitze, Frau Rupp. Die Mühe mit der Karlsbader Kanne lohnt sich wirklich.«
Sie zog den kleinen Gebäckteller, den Apolonia Rupp direkt vor Heinrichs Kaffeetasse platziert hatte, zu sich und begutachtete dessen Fracht, sechs verschiedene und übersichtlich arrangierte Konditorpralinen. Nach einer kurzen Bedenkzeit entschied sie sich für die Rumkugel mit der Pistazie als Dekor – und wartete auf Heinrichs erste Frage. Sie musste sich nicht lange gedulden.
»Es mag Ihnen vielleicht ein wenig pietätlos vorkommen, dass wir so kurz nach dem Mord an Ihrer Tochter schon wieder zu Ihnen kommen, Frau Rupp«, begann Heinrich, »aber das lässt sich leider nicht vermeiden. Sie sagten gestern sinngemäß zu Frau Steiner, dass Sie dieser Mord gar nicht so überrascht habe. Dass Sie eigentlich damit im Grunde gerechnet hätten.« Er sah sie fragend an.
»Ja, das ist richtig. Und pietätlos kommt mir Ihr Besuch nicht vor, ganz und gar nicht. Sie tun doch auch nur Ihre Pflicht, nicht wahr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Frau Rupp fort: »Wissen Sie, das Verhältnis zu meiner Erstgeborenen war nicht besonders gut, es war eigentlich alles andere als gut – es war im Prinzip so gut wie nicht mehr vorhanden. Dafür ist zu viel vorgefallen.«
Da Paula damit rechnete, dass sie den Grund für diese auf Eis gelegte Mutter-Tochter-Beziehung bald erfahren würde, schwieg sie und griff lieber zum zweiten Mal zu dem Pralinenteller. Ein Griff ins Ungewisse, denn der geflockten Kugel mit ihrem Zartbittermantel sah man nicht an, was in ihr steckte. Doch ihr Mut wurde belohnt – es war eine besonders delikate Buttertrüffelpraline mit winzigen Orangenstückchen.
Während sie genüsslich auf dieser Köstlichkeit herumlutschte, hakte Heinrich nach: »Möchten Sie uns sagen, was im Einzelnen vorgefallen ist? Oder möchten Sie erst dann darüber reden, wenn Sie den Tod Ihrer Tochter ein wenig verarbeitet haben?«
»Da gibt es nichts zu verarbeiten«, lautete die heftige Antwort, die umgehend abgemildert wurde. »Vielleicht kommt Ihnen das jetzt gefühlskalt von mir vor, Herr Bartels, aber ich kann es nicht ändern.«
Bevor er höflich widersprechen konnte, sprach Frau Rupp weiter. »Ich habe zwei Töchter, beziehungsweise ich hatte zwei Töchter, denn Elviras jüngere Schwester ist nun auch schon seit acht Jahren tot. Als Elvira geboren wurde, ging es meinem Mann und mir finanziell sehr gut. Wir führten ein großes Haus, jede Woche gaben wir zumindest eine Einladung. Wir waren fester Bestandteil der Nürnberger Hautevolee. Natürlich geht so etwas nicht ohne Personal, wir beschäftigten einen Gärtner, der gleichzeitig Chauffeur war, Elvira hatte ein Kindermädchen, und auch sonst mangelte es ihr an nichts. Mein Mann war in unsere Erstgeborene regelrecht vernarrt. Jeden Wunsch las er ihr von den Augen ab – sie musste nur auf etwas deuten, schon bekam sie es. Vielleicht war mein Fehler dabei, dass ich zugelassen habe, wie hemmungslos er sie verwöhnte.«
Apolonia Rupp machte eine kurze Pause und sah so erstaunt wie tadelnd zu Paula, die sich soeben die dritte Praline – einen Kegel aus Mandelkonfekt in Vollmilchschokolade – in den Mund steckte.
»Die Folge war, dass Elvira keine Grenzen kannte. Alles musste nach ihrem Kopf gehen, sie war ein verzogenes Gör von vorn bis hinten!«
Harte Worte, die Heinrich gelegentlich mit einem angedeuteten verständnisvollen Nicken begleitete. Erneute Pause.
»Als Claudia dann geboren wurde, mussten wir kürzertreten. Die Geschäfte meines Mannes liefen schlecht. Von den ehemals fünf Blumenläden war uns nur mehr einer geblieben, der in der Breiten Gasse, der gerade das Nötigste zum Leben abwarf. Vielleicht sagt Ihnen Blumen Rupp ja etwas?«, fragte sie Heinrich, der verneinend den Kopf schüttelte.
Paula jedoch erinnerte sich an diesen Laden in der Nürnberger Innenstadt. Ihr Vater hatte ihrer Mutter dort jedes Jahr zu Weihnachten deren Lieblingsblumen gekauft – einen großen Strauß gelber Mimosen. Als Kind durfte sie ihn auf diesen Gang begleiten und war dann jedes Mal erstaunt gewesen, dass ihr Vater so viel Geld für etwas bezahlte, das bereits nach spätestens zwei Tagen verwelkt und unansehnlich im Mülleimer landete.
»Wir waren gezwungen, die Villa in Ebensee aufzugeben, genau wie unser Personal. Es war alles sehr bescheiden von da an. Wir wohnten zur Miete, uns gehörte zwar nach wie vor eine Wohnung in der Eichendorffstraße, aber dabei handelte es sich nur um eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Für eine vierköpfige Familie viel zu klein. Claudia musste die Sachen ihrer Schwester auftragen, während es für Elvira weiterhin natürlich nur das Beste vom Besten gab. Ich erzähle das so ausführlich«, wandte sie sich direkt an Heinrich, »um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie unterschiedlich die beiden Mädchen aufgewachsen sind.«
Erneutes verständnisvolles Nicken von Heinrichs Seite.
»Aber es geht noch weiter. 1985 starb mein Mann. Und bei der Testamentseröffnung erfuhr ich dann, dass er etliche Jahre vorher die Zwei-Zimmer-Wohnung in der Eichendorffstraße auf Elviras Namen hat überschreiben lassen. Heimlich, hinter meinem Rücken! Dadurch hatte er mir mein Recht an dem Pflichtteil genommen, ganz bewusst genommen. Können Sie sich eine derartige Gemeinheit vorstellen?«
Mit funkelnden Augen und geröteten Wangen im altersblassen Gesicht starrte Apolonia Rupp Heinrich an.
»Um welche Art Immobilie handelte es sich denn dabei?«, fragte Paula, der diese Wut nach immerhin dreißig Jahren unverständlich erschien.
»Um die damals noch gut vermietete Zwei-Zimmer-Wohnung in Erlenstegen, in die Elvira dann vor zwölf Jahren selbst eingezogen ist. Ich war wie vom Donner gerührt, als der Notar mir das Testament vorlas. Und Elvira hat ohne zu zögern oder mich beziehungsweise ihre Schwester zu fragen, das Erbe angetreten. Sie hat sich nicht geschämt, ihrer Mutter und ihrer Schwester das vorzuenthalten, was uns doch eigentlich allen gemeinsam zustand. Claudia und ich hatten in diesem Punkt aber keine rechtliche Handhabe gegen sie. Wir hatten keine Chance.«
»Ich verstehe«, meldete sich Heinrich zu Wort. »Und zu diesem Zeitpunkt haben Sie dann wohl den Kontakt zu Ihrer älteren Tochter abgebrochen?«
»Nein, noch nicht. Es war ja der letzte Wille meines Mannes. Also haben wir das respektieren müssen, schweren Herzens natürlich. Aber erwartet hatten wir uns doch eine Art finanziellen Ausgleich für diese einseitige Bevorzugung. Ich finde, das hätte sich gehört. Doch da haben wir bei Elvira auf Granit gebissen. Keine Mark oder später: keinen Euro haben wir von ihr gesehen, nichts, rein gar nichts. Schließlich haben Claudia, ihr Mann und ich das akzeptiert – es war ja in erster Linie nicht ihr Verschulden, sondern das meines Mannes –, auch wenn uns das nicht leichtgefallen ist, das können Sie mir glauben.«
»Dann sind Sie also auch weiterhin in Verbindung geblieben?«, fragte Heinrich, der gleichzeitig zur Tasse griff, um seinen zweiten Schluck von dem nun kalt gewordenen Kaffee zu nehmen.
»Ja, wenn auch deutlich eingeschränkt, also nur auf das gesellschaftlich Notwendigste beschränkt. Das heißt: Die Familie traf sich weiterhin zu den üblichen Anlässen, zu Ostern, Weihnachten, bei der Hochzeit von Claudia und den Taufen ihrer beiden Töchter. Das verlangte schon allein der Anstand«, betonte Frau Rupp förmlich.
Nur auf das gesellschaftlich Notwendigste beschränkt? Das widersprach allerdings der Aussage von Frau Vogel, die von einem wöchentlichen Besuchsrhythmus erzählt hatte. Paula entschied, diesen Gegensatz hier und jetzt nicht zu hinterfragen. In dem Fall glaubte sie der Mutter, nicht der Nachbarin.
Apolonia Rupp ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie wieder unvermittelt heftig sagte: »Elvira hatte mehrere Laster, aber ihr größtes war der Geiz. Sie war von ihrer Habsucht regelrecht zerfressen. Wenn wir etwas von ihr bekamen, dann waren das Geschenke, die sie selbst erhalten und für die sie keine Verwendung hatte. Stellen Sie sich vor, sie hat ihrem Patenkind, also einer meiner beiden Enkelinnen, und zwar der jüngeren, den Roman ›Joseph und seine Brüder‹ von Thomas Mann zu deren sechsten Geburtstag geschenkt! Ein Buch von irgendeinem dieser Buchclubs, also was ganz Billiges, wenn sie es nicht selbst von ihren Alten im Heim erhalten hatte.«
Nach einem missbilligenden Kopfschütteln fuhr sie fort: »Und ihr Geiz wurde immer schlimmer. In den letzten Jahren habe ich von meiner Tochter gar nichts mehr bekommen, obwohl ich ab und an Wünsche geäußert habe. Sie sagte immer, ich hätte ja schon alles, was ich brauche.«
»Vielleicht hängt dieser Geiz, wie Sie es nennen, mit ihrer Sammelleidenschaft zusammen? Ihre Tochter war wohl das, was man gemeinhin einen Messie nennt«, sagte Heinrich, als ihm schien, dass Apolonia Rupp mit ihrer Rede fertig war. »Und Messies geben nichts her, die behalten alles für sich selbst, auch Geld.«
»I wo, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun«, versetzte Frau Rupp schroff. »Das war auf der einen Seite ihr Geiz, und auf der anderen Seite gab es diesen eklatanten Mangel an Disziplin, der dazu führte, dass sie ihre Wohnung dermaßen vollgestellt hat. Das sind doch zwei unterschiedliche Sachen. Aber alles das hätte ich noch hingenommen. Dann aber starb meine Claudia«, sagte Apolonia Rupp, jetzt sanft und liebevoll, »wie gesagt, vor acht Jahren. Und Elvira hat es nicht für nötig befunden, ihr die letzte Ehre zu erweisen und zu ihrer Beerdigung zu kommen. Da war dann endgültig Schluss bei mir.«
Da Heinrich schwieg, musste Paula nachfragen. Aber erst nachdem sie Praline Nummer vier – einen Kubus aus weißer Schokolade, gefüllt mit einem zarten Schmelz aus Vanillelikör – hinuntergeschluckt hatte.
»Sie haben sie doch sicher zur Rede gestellt. Was hat sie denn als Grund angegeben, warum sie nicht gekommen ist?«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Ach, irgend so ein Larifari von wegen ›das würde sie so mitnehmen‹ und ›das helfe jetzt auch nichts mehr, wenn sie auf die Beerdigung ginge‹. Alles faule Ausreden. Sie wollte einfach nicht, ihr war der Tod ihrer Schwester egal, vollkommen egal! Genau wie ihr Claudia schon immer egal gewesen ist.«
»Ja, das ist bitter«, sagte Heinrich verständnisvoll und fügte nach einer Pause hinzu: »Wenn Sie uns dann bitte noch die Adresse Ihres Schwiegersohns, also die von Claudias Mann, und Ihrer beiden Enkeltöchter geben könnten?«
»Wozu soll das gut sein?«, lautete die Gegenfrage. »Die werden Ihnen auch nicht mehr oder etwas anderes sagen können als ich. Ich möchte nicht, dass meine Familie, die jahrelang wegen Elvira viel durchmachen musste, jetzt nochmals wegen ihr belästigt wird. Außerdem wissen sie schon Bescheid, ich habe sie im Anschluss an Ihren Besuch, Frau Steiner, gestern Abend in Kenntnis gesetzt. Das erübrigt sich also.«
Es sah nicht so aus, als ob Heinrich diesen grundlegenden Irrtum richtigstellen wollte. Und auch Paula erhob nicht gleich Einspruch, wie sie das sonst immer und leidenschaftlich machte, wenn sich jemand bei Vernehmungen störrisch zeigte. Denn im Laufe dieser bewegten und aufschlussreichen Kaffeestunde war ihre vehemente Abneigung gegen die Mutter der Ermordeten an den Rändern porös geworden. Sie sah Apolonia Rupp jetzt in einem anderen, einem deutlich milderen Licht. Nicht mehr ausschließlich als gefühlskaltes Monstrum. Auf der anderen Seite hatte aber auch ihre anfängliche übergroße Sympathie für das Opfer ein wenig nachgelassen. Knauserige Menschen waren ihr schon immer ein Gräuel gewesen. In diesem Punkt verstand sie Frau Rupp in deren Empörung sehr gut.
Eine Szene kam ihr in den Sinn, ein Bild schoss ihr fast gegen ihren Willen durch den Kopf: Eva Brunner, wie sie eines frühen Morgens eine Flasche sündteuren Gutedel aus dem Rucksack holte, ihn ihr freudestrahlend überreichte und auf ihre Nachfrage, womit sie sich das denn verdient habe, zu einer ihrer gefürchteten weitschweifigen Antworten ansetzte.
»Ich weiß doch, dass Sie so gern Weißwein trinken, Frau Steiner. Mein Papa, der auch viel von Wein versteht, also viel mehr als ich, was aber auch nichts Besonderes ist, weil ich ja von Weinen nicht so viel verstehe, na eigentlich gar nichts, da bin ich schon ehrlich, also mein Papa meinte auch, wenn deiner Chefin in der Richtung was schmeckt und ihrer als Weinkennerin würdig ist, dann ist es dieser …«
Eine Morgengabe nur so, ohne Anlass und Hintergedanken. Ja, Eva Brunner gab gern, teilte ihr karges Anwärterinnengehalt freigiebig mit anderen. Diese auch emotionale Rückschau schwächte Paulas Boykott. Sie hatte sich doch verboten, die nächsten Tage an diese Person zu denken! Das ließ sie ärgerlich werden, wobei sich der aufkeimende Ärger nicht etwa gegen die abwesende Anwärterin richtete, sondern jetzt und hier gegen Frau Rupp.
Ungehalten mischte sich Paula, die sich im Gegensatz zu Heinrich bei Zeugenvernehmungen schon vor Jahren vom Diktat einer immerwährenden Freundlichkeit losgesagt hatte, also in dessen Befragung ein.
»Bei Mord befragen wir immer die nächsten Angehörigen. Und wir werden auch in diesem Fall keine Ausnahme machen. Also bitte, die Namen und Adressen.«
Eine Zeit lang sah es so aus, als würde Apolonia Rupp der Aufforderung nicht nachkommen wollen. Stattdessen funkelte sie die Kommissarin eine Weile wutentbrannt an. Gelassen hielt Paula dem Blick stand, bis ihnen schließlich das Gewünschte genannt wurde. Widerwillig und mit unterschwelligem Groll in der Stimme.
Nach dieser Kapitulation stand ihre Gastgeberin abrupt auf und sagte: »Das wäre ja dann alles.« Die Kaffeestunde war beendet.
Augenblicklich erhob sich auch Heinrich. Paula jedoch ignorierte den Rauswurf und blieb ostentativ sitzen.
»Nein, leider noch nicht. Ich möchte nach wie vor noch eine Antwort auf die Eingangsfrage von Herrn Bartels. Warum, glauben Sie, musste es so kommen? So haben Sie sich ja gestern Abend ausgedrückt. Worin besteht Ihrer Meinung nach die Zwangsläufigkeit, die diesen Mord vielleicht nicht rechtfertigt, aber doch nahelegt?«
Apolonia Rupp blieb stehen, während sie antwortete. »Elvira hatte keine Freunde, eigentlich niemanden, der ihr wohlgesonnen war. Sie war nicht der Typ Mensch, der beliebt war oder den man gern mochte. Ganz im Gegenteil. Fragen Sie, wen immer Sie wollen, Sie werden überall das Gleiche hören. Mit ihrem Wesen hat sie es sich überall verscherzt. Wer einmal mit ihr zu tun gehabt hatte, weiß, was ich meine – sie war allen nur eine Last. Das habe ich damit zum Ausdruck bringen wollen. Mehr nicht.«
Paula genügte diese nichtssagende Erklärung zwar nicht, doch sie wusste, dass Apolonia Rupp ihren gestrigen heftigen Gefühlsausbruch bereits als unbedachtes Verhalten gegenüber einer Amtsperson bedauerte und unter keinen Umständen willens war, das näher auszuführen. So ließ sie es dabei bewenden, stand nun auch endlich auf und bedankte sich noch einmal für den »wirklich einmalig guten Kaffee«. Auf den Zusatzdank für die weitaus kostspieligeren Konditorpralinen verzichtete sie. Schließlich waren die nicht für sie, sondern für Heinrich gedacht gewesen.
Als sie die Pilotystraße zur Kaiserburg emporstiegen, wandte sie sich Heinrich zu, der schweigend neben ihr ging.
»Da hast du ja heute eine Freundin fürs Leben gefunden. Was so ein Brokatfetzen doch alles bewirken kann. Schade, dass ich nicht auch so was Exklusives habe, was meinem Meublement den letzten kecken Pfiff verleiht«, zitierte sie in gekünsteltem Ton Apolonia Rupp.
Doch Heinrich schien diese ironische Spitze gar nicht wahrzunehmen. Er sagte lediglich: »Was willst du denn, Paula? Du kannst dich wirklich nicht groß beschweren. Für dich lief doch alles nach Wunsch. Du hast deinen Kaffee gehabt und außerdem noch alle Pralinen aufgegessen.«
»Also bitte, ich habe nicht alle Pralinen aufgegessen, da war noch was auf dem Teller, als wir gegangen sind.«
»Ja, zwei hast du übrig gelassen. Den Anstandsrest halt. Aber das ist jetzt auch wurscht. Diese Elvira Platzer scheint ja ein richtiges Herzchen gewesen zu sein. Irgendwie kann ich die Rupp schon verstehen.«
»Ja und nein, Heinrich. Ja, weil so einen Raffzahn wirklich keiner mag. Aber gestern hat das alles noch ganz anders geklungen. Da war nicht die Rede von Geiz oder der verpassten Beerdigung, da ging es nur um die vollgemüllte dreckige Wohnung, das ungepflegte Äußere, ihren Beruf und um das Rauchen. Offenbar hat sie sich über Nacht eine neue Strategie zugelegt. Und kommt dir das nicht komisch vor, dass sie sich zunächst so standhaft weigerte, uns die Namen des Schwiegersohns und der Enkelkinder zu nennen? Mir schon.«
»Mir nicht. Aber was ich auf jeden Fall machen werde, ist, die Konten der Toten wie auch aller Angehörigen zu überprüfen. Ich glaube, da geht es mal wieder ums liebe Geld.«
»Mag sein«, war alles, was Paula im Augenblick dazu einfiel. Über ein mögliches Motiv hatte sie noch nicht nachgedacht.
Als sie über die Burganlage gingen, die wie zu jeder Jahreszeit und bei jedem denkbaren Wetter voll von Touristen war, sagte Heinrich: »Sag mal, du wirst doch in ein paar Tagen fünfzig …«
Abrupt blieb sie stehen und sah sich erschrocken um. »Musst du denn so laut schreien, dass es jeder hören kann?«
Heinrich lachte laut auf, zeigte mit dem Finger auf sie und skandierte auf dem Burginnenhof wie ein Marktschreier: »Hallo, alle mal herhören! Das da ist die liebe Paula, und die wird nächste Woche fünfzig Jahre! Jawohl, fünfzig. Hat es jeder hier verstanden? Oder soll ich es noch mal wiederholen?«
Gegen ihren Willen musste sie auch lachen. »Untersteh dich, sonst schleppe ich dich zur Rupp zurück und sage ihr, du möchtest auf der Stelle noch drei Tassen von diesem hervorragenden Kaffee haben.«
»Ach, das ist jetzt auch schon egal. Ob eine oder vier Tassen, das macht keinen Unterschied. Damit kannst du mich nicht erpressen. Aber so wie es aussieht, hast du ein Problem mit deinem Alter. Das ist mir bisher an dir gar nicht aufgefallen, das muss neu sein.«
»Da gibt’s auch nichts aufzufallen, weil ich überhaupt kein Problem mit meinem Alter habe«, sagte sie eine Spur zu heftig, als dass ihre Antwort glaubwürdig gewesen wäre. »Ich sehe lediglich den Sinn von diesen Geburtstagsfeiern nicht mehr. Warum muss man an einem x-beliebigen Tag im Jahr, an dem man zufällig auf die Welt gekommen ist, fröhlich sein? In meinen Augen ist das die pure Willkür. Und überhaupt: Was gibt es da zu feiern? Wer meint, unbedingt was feiern zu müssen, kann das an jedem anderen Tag im Jahr genauso gut machen, wenn ihm danach zumute ist. Das muss doch nicht ausgerechnet an diesem speziellen Tag sein. Ich find das albern und …«
»Spießig«, ergänzte Heinrich ihren Standardsatz in Situationen wie dieser.
»Ganz genau.«
»So etwas hatte ich mir schon gedacht. Weil man so gar nichts von dir gehört hat, wo und wann die große Feier steigt.«
»Da steigt auch keine Feier, weder eine große noch überhaupt eine.«
»Soso. Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. Es wird auf jeden Fall schon fleißig gesammelt für ein Geschenk, und die Leute wollen für ihr Geld auch etwas haben. Eben eine Feier, die eines runden Geburtstages würdig ist.«
»Das werd ich unterbinden. Sowohl das Geschenk als auch die Feier. Du kannst schon mal die Sammelei stoppen, damit würdest du mir einen großen Gefallen tun. Wenn du schon was tun willst für mich.«
»Mensch, Paula, sei doch nicht so stur. Komm, wir machen uns ein paar nette Stunden an deinem Ehrentag.«
»Kommt nicht in Frage, ich will einfach meine Ruhe haben an diesem Tag. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Wenn es schon ein Ehrentag sein soll, dann kann man den doch so verbringen, wie man möchte.«
»Nein, kann man eben nicht.«
»Und ausgerechnet du sagst, ich sei stur?«
»Ja, vielleicht bin ich da stur.«
Nach einer Weile setzte er süffisant hinzu: »Ich habe nämlich auch schon ein Geschenk für dich im Auge. Du wirst begeistert sein. Ich verrate nur so viel: Es ist etwas, was deinem Meublement einen wirklich kecken Pfiff, den letzten Pfiff sozusagen verleihen wird. Etwas, was du insgeheim schon immer haben wolltest, wozu dir aber bisher der Mut fehlte.«
Da musste sie wieder lachen. Vielleicht hatte Heinrich doch nicht unrecht, und es würde gar nicht so schlimm werden? Nein, nein, war sie schließlich überzeugt, es würde genauso furchtbar werden, wie sie es sich bisher ausgemalt hatte. Bei Heinrich musste man gut aufpassen, er war ein Meister darin, die Leute gegen ihren Willen herumzukriegen. Das wollte sie nicht. Sie blieb bei ihrem Entschluss, daran gab es nichts zu rütteln.
Als sie den Gang zu ihrem Büro entlangliefen, hörte sie ihr Telefon klingeln. Sie rannte die letzten Meter, riss die Tür auf und nahm den Hörer ab. Es war Frieder Müdsam.
»Gut, dass ich dich doch noch erwische. Mir ist ein dummer Fehler passiert, Paula. Ich mach das nicht mehr, mich so früh, noch vor der chemisch-toxikologischen Untersuchung, festzulegen. Das war das letzte Mal. Also, alles wieder retour: Die Tote weist nicht nur tödliche Stichverletzungen auf, sondern tödlich war auch etwas anderes: Sie ist vorher noch vergiftet worden. Ich habe sie gestern Abend obduziert und dabei Spuren von Thalliumsulfat entdeckt …«
»Was? Ein Giftmord, das hatte ich ja lang nicht mehr, Giftmorde sind doch ganz aus der Mode gekommen«, unterbrach sie ihn vorschnell.
»Stimmt, mein letztes Giftopfer liegt auch schon Jahre zurück. Auf jeden Fall war das Thalliumsulfat bei der Toten in einer Konzentration nachweisbar, die absolut tödlich ist. Ich hätte eigentlich schon früher draufkommen müssen. Hast du ihre Haare gesehen? So schütteres Haar, wie es das Opfer hatte, kann ein typisches Zeichen dafür sein, dass jemand mit Thalliumsulfat vergiftet wurde. Die Stichwunden sind ihr erst später, nach der Vergiftung, zugefügt worden. Hätten aber auch, unabhängig von dem Gift, ihren sicheren Tod bedeutet.«
»Kannst du in etwa sagen, welcher Zeitraum zwischen Tat eins und Tat zwei liegt? Also: Wann hat man sie vergiftet?«
»Das, Paula, ist sehr, sehr schwer. Da möchte ich mich lieber nicht festlegen.« Da war sie wieder, die ewige Vorsicht der Pathologen.
»Bitte, Frieder, ich brauche einen Anhaltspunkt. Nur einen Circa-Wert.«
Seine Antwort ließ ein Weilchen auf sich warten. Nach reiflicher Überlegung sagte er schließlich: »Erstochen wurde sie am Montagabend so gegen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn plus/minus fünfzehn Minuten, das weißt du ja. Und vergiftet? Ich würde sagen: vor maximal sechs Tagen bis Minimum drei Tagen. Denn bei einem länger zurückliegenden Zeitpunkt hätte sie gar keine Haare mehr gehabt. Exakter kann ich es dir leider nicht sagen.«
»Das reicht doch schon, danke. Dann war das ja sozusagen ein Doppelmord.«
»So könnte man sagen, ja. Wobei … Was meinst du mit Doppelmord: ein- und derselbe Täter, der zweimal in Aktion tritt? Weil ihm später Zweifel kommen, ob sein erster Plan wirklich tödlich war? Oder denkst du, es waren zwei Täter, die unabhängig voneinander zugeschlagen haben, der erste mit dem Gift, der andere mit dem Messer?«
»Eigentlich meinte ich zwei Täter. Aber du hast schon recht, die andere Variante, die mit dem Zweifachmörder, ist genauso gut denkbar«, antwortete sie. Noch während sie sprach, ging ihr eine Variation der zweiten Möglichkeit durch den Kopf: zwei Täter, die sich untereinander abgesprochen hatten, also in einer Beziehung zueinander standen.
Nur zu gern hätte sie sich mit dem Gerichtsmediziner noch über weitere Möglichkeiten zu diesem Doppelmord frei assoziierend unterhalten, aber da sie wusste, dass freie Gedankenassoziationen seine Sache nicht waren, beließ sie es dabei und sagte stattdessen:
»Dieses Thallium wurde doch auch als Rattengift verwendet, oder? Aber meines Wissens ist es gar nicht mehr frei im Handel erhältlich. Wer hat denn darauf überhaupt noch Zugriff?«
»Thalliumsulfat«, verbesserte Frieder sie. »Thallium ist ein Metall, Thalliumsulfat dagegen eine chemische Verbindung. Eine geruchlose. Aber mit dem anderen hast du recht: Dieses Rattengift – der Begriff Zelio-Giftkörner sagt dir bestimmt was? – ist Mitte der siebziger Jahre ganz rigoros vom Markt genommen worden, seitdem gibt es das offiziell nicht mehr. Doch bis dahin konnte sich jeder private Haushalt mit solchen Fraßködern nach Lust und Laune eindecken. Massenweise wurde das damals verkauft und verwendet, übrigens nicht nur als Rattengift, aber das nur nebenbei. Heutzutage kann Thalliumsulfat nur noch mit Genehmigung der Bundesgesundheitsbehörde zur Ratten- und Mäusevertilgung eingesetzt werden. In Werkshallen und Lagerräumen zum Beispiel.«
»Weil du sagst: nicht nur als Rattengift, wofür kann oder konnte man es denn sonst noch gebrauchen?«
»Pferden hat man es auch verabreicht. Damals glaubte man, dass sie dadurch ein schöneres Fell kriegen. Und blitzende Zähne.«
»Bei Pferden wirkt es dann wohl nicht tödlich beziehungsweise nicht so schnell tödlich?«
»Wie du sagst: Es wirkt nicht so schnell. Das kommt immer auf die Dosis an. Und da vertragen Rösser eben mehr als Menschen. Aber der Gesundheit dienlich ist es auch bei Pferden nicht. Beim Menschen gelten schon achthundert Milligramm als absolute Obergrenze.«
»Aha. Aber ich frage mich schon, wer an dieses Thalliumsulfat herankommen kann, wo es doch vor fast vier Jahrzehnten so rigoros vom Markt genommen und verboten wurde?«
»Tja, das ist eine interessante Frage, Paula. Es wurde zwar verboten, aber nicht immer wurde dieses Verbot auch streng eingehalten. Das musst du dir mal vorstellen: Bis Ende der neunziger Jahre konnte man es sogar noch in einigen Apotheken kaufen! Vereinzelt, aber immerhin. Und auch an den Unis hatte man noch Anfang der achtziger Jahre relativ leicht Zugriff darauf. Du weißt doch, ich habe in Erlangen studiert. Vor allem die Chemiestudenten haben während meiner Studienzeit alles aus den Labors mitgehen lassen, was nicht niet- und nagelfest war. Nicht unbedingt aus einem hochdramatischen kriminellen Motiv heraus, sondern um ihr eigenes Labor daheim zu komplettieren. Also, denkbar ist es durchaus, dass sich in dem einen oder anderen Privathaushalt noch solches Thalliumsulfat aus älteren Beständen befindet.«
Sie und Frieder beendeten das Gespräch mit dem üblichen Artigkeitsritual. Sie dankte ihm ausgesprochen herzlich für seine Informationen, und er wehrte diesen Dank wie immer mit den Worten ab: »Da nicht für. Dafür bin ich doch da.«
Anschließend wählte sie Dennerleins Nummer und stellte ihm die Frage, die ihr während des Gesprächs mit Müdsam wieder eingefallen war. »Klaus, du weißt doch sicher, ob die Wohnungstür bei der Platzer offen stand oder geschlossen war, während man mit dem Messer auf sie eingestochen hat.«
»Nein, woher soll ich das wissen? Wie kommst du überhaupt da drauf?«
»Na, ich dachte halt, wegen der Blutspuren auf dem Fußabstreifer.«
»Aber Paula, das wäre jetzt ein bisschen zu viel verlangt. Da sind Blutspuren, ja, aber so exakt lässt sich das nicht feststellen, ob die Tür während der Tat nun offen stand oder nicht. Beziehungsweise wo der Fußabstreifer zu der Zeit lag, vor oder hinter der Wohnungstür. Ist denn das so wichtig für dich?«
»Wie man es nimmt. Ich könnte daraus schließen, ob das Opfer den Täter näher gekannt hat. Denn nach den Angaben der Nachbarin hat die Platzer niemanden in ihre Wohnung gelassen. Aber egal. Wenn du es nicht weißt, geht es auch ohne dieses Detail.«
»Davon bin ich bei dir überzeugt, Paula. Das war’s also?«
»Ja, im Moment schon. Halt, nein, noch eine andere Frage: Du wolltest doch zumindest die Diele genauer unter die Lupe nehmen, hast du was gefunden?«
»Das hätte ich dir doch schon längst gesagt. Nein, wir haben nichts gefunden.«
»Und die Wohnung habt ihr versiegelt?«
»Ja. Aber wir werden sie in den nächsten Tagen freigeben. Du hast ja selbst gesagt, dass eine eingehende Spurensuche in den anderen Räumen nichts bringen würde.«
»Der Meinung bin ich noch immer. Aber ich würde mich gern noch mal in aller Ruhe dort umsehen. Sei also so freundlich und lass das Siegel dran, wenn ihr endgültig damit durch seid.«
»Ja, mache ich. Holst du dir die Schlüssel bei mir ab, oder soll ich sie dir mit der Hauspost schicken?«
»Schick sie mir bitte rauf.«
Dann legte sie den Hörer auf und sah Heinrich grübelnd an. »Ich fürchte, das wird diesmal ein ganz vertrackter Fall.« Sie erzählte ihm von Frieders neuen Erkenntnissen.
Heinrichs Kommentar dazu beschränkte sich auf ein sibyllinisches: »Na, siehst du.«
»Was sehe ich, wie meinst du das?«
»Wie ich es vorhin schon gesagt habe: Deine Frau Platzer muss ja ein besonderes Herzchen gewesen sein. Wenn sich gleich zwei über sie hermachen. Da möchte man doch gern wissen, was die so alles auf dem Kerbholz hat, dass …« Den Rest des Satzes ließ er unausgesprochen.
Genau das wollte sie auch: herausfinden, wie es zu dieser Ausnahme-Konstellation – zweifacher Mord an ein- und demselben Opfer – gekommen war. Aber aus anderen Gründen als Heinrich, der die Ermordete bereits fest in eine Schublade eingeklemmt hatte. Sondern zum einen, weil sie die Einzige zu sein schien, die an der Altenpflegerin überhaupt ein Interesse, wenn auch nur eines auf den beruflichen Erfolg beschränktes, hatte. Zum anderen deswegen, weil eine HB-Raucherin eine andere nicht im Stich lässt.
Und schließlich gab es noch einen dritten Grund: weil Elvira Platzer einundfünfzig Jahre alt gewesen war, als man sie umbrachte, und damit genau in derselben Altersklasse, in der auch die Endvierzigerin Paula demnächst nolens volens mitspielen würde.