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Als sie an diesem Donnerstag um halb zwölf ihr Büro wieder betrat, wurde sie von Heinrich mit einem triumphierenden »Mensch, Paula, hier war in der Zwischenzeit die Hölle los!« empfangen.
Auf ihre Nachfrage stellte sich heraus, dass für Heinrich die Hölle gleichbedeutend mit sechs Anrufen war.
»Da hattest du doch recht, dass es besser ist, wenn einer von uns hier Telefondienst macht. Auf die Zeitungsartikel hin, die ich im Übrigen sehr mickrig finde, haben sich gleich zwei Zeugen gemeldet, die angeben, zur Tatzeit einen Mann aus der Eichendorffstraße 73 herauskommen gesehen zu haben. Ich hab die beiden sofort hierher einbestellt, na eigentlich hab ich sie mehr gebeten, für die Anfertigung eines Phantombilds. Vielleicht ergibt sich ja daraus ein Fahndungsanhalt.«
Sie nickte, als hätte sie genau das erwartet. Doch im Grunde war sie wie Heinrich sehr erstaunt, dass sich auf diese Kurznotizen in der Presse überhaupt jemand gemeldet hatte. Hinzu kam die Tatzeit, zu der kaum mehr jemand unterwegs war: Nach dreiundzwanzig Uhr glich Nürnberg mehr einer Geisterstadt als einer »Metropolregion«, wie es seit Kurzem in der städtischen Werbung so vollmundig hieß.
Jetzt erst registrierte sie das in der Mitte stark gewölbte Briefkuvert auf ihrem Schreibtisch. Sie öffnete es und fand darin einen Schlüsselanhänger mit sieben Einzelschlüsseln sowie einen Vordruck des Präsidiums, der von Klaus Dennerlein unterschrieben war und sie darüber informierte, dass vier der sieben Schlüssel eindeutig als Haus-, Wohnungs-, Keller- und Briefkastenschlüssel der Platzer »zuweisbar« seien.
»Und wer hat noch angerufen?«
»Ja, wie ich dich kenne, wird dir das nicht so gefallen. Zum einen hat die Frau Rupp angerufen. Sie wollte wissen, wann sie über die Wohnung verfügen kann.«
»Was heißt hier verfügen?«
»Na, sie sieht sich halt als die Haupterbin. Und meint, dass ihr diese Eigentumswohnung jetzt endlich zusteht, und möchte sie baldmöglichst haben, besitzen, du weißt doch, was ich damit meine, Paula.«
»Das kann schon sein, dass ihr die Wohnung jetzt gehört. Aber erst nachdem wir mit der Spurensuche durch sind. Und die dauert speziell in meinem Fall sehr, sehr lang. Ich habe mir nämlich vorgenommen, die Wohnung komplett auf den Kopf zu stellen, bis ich was gefunden habe, was uns voranbringt. Dann erst sehen wir weiter, ob Frau Rupp das Erbe überhaupt zusteht. Es kann ja auch ein Testament da sein, entweder bei einem Notar hinterlegt oder irgendwo in der Wohnung. Denn ich bin davon überzeugt, die Platzer hatte mit ihrer Wohnung etwas anderes vor, als sie ausgerechnet ihrer Mutter zu hinterlassen.«
In diesem Augenblick wünschte sie sich, dass dem so wäre. Dass Elvira Platzer ein Testament aufgesetzt hatte, in dem sie ihre Mutter und auch die übrige zwangsweise adoptierte Verwandtschaft unmissverständlich von jedem Erbanspruch ausschloss. Auf jeden Fall würde sie in dem ganzen Müll danach suchen, eingehend und planvoll. Wenn es ein Testament mit dieser Ausschlussverfügung gab, dann würde sie das auch finden.
»Was noch?«
»Das Nächste wird dir auch nicht gefallen.« Heinrich wand sich hin und her. Erst nach einer längeren Pause rückte er mit der Sprache heraus. »Die Eva hat angerufen und wollte dich sprechen. Nicht einen von uns beiden, sondern ausschließlich dich.«
»Hat sie gesagt, was sie wollte?«
»Nein, eben nicht. Das möchte sie nur mit dir bereden.«
»Da gibt’s nichts mehr zu bereden. Sag ihr das, wenn sie wieder anruft.«
»Ach, Paula, sei nicht so hart. Du kannst dir doch mal anhören, was sie zu sagen hat. Vielleicht geht es dabei ja nur um eine Formsache. Um irgendeinen Papierkram. Um irgendwelche Unterlagen, Zeugnisse oder Ähnliches.«
»Das hätte sie ja auch mit dir besprechen können. Nein, nein, ich denke, dabei handelt es sich um etwas, womit sie mir am Zeug flicken will. Wahrscheinlich glaubt sie, dass bei der Suspendierung irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, und sieht da eine Chance für sich, mir eins auszuwischen. Und außerdem bin ich nicht hart, sondern ein guter Mensch, ein ganz guter Mensch. Das zumindest hat erst gestern ein gewisser Herr Bartels zu mir gesagt, und der muss es schließlich wissen – der arbeitet nämlich schon fast zehn Jahre mit mir zusammen.«
»Sie klang übrigens sehr gedrückt am Telefon, sehr kleinlaut. Überhaupt nicht mehr so forsch wie noch vor Kurzem. Ich denke, sie bereut ihr Verhalten mittlerweile. Weißt du, was ich glaube?«
»Ich fürchte, nein.«
»Ich glaube, sie möchte wieder zu uns zurück. Oder vielmehr, um genau zu sein, zu dir. Die hat sich das mit der Versetzung in Trommens Kommission gründlich überlegt. Zeit zum Überlegen hatte sie ja genug. Ich glaube, die Eva will nicht mehr wechseln. Die hat eingesehen, dass das ein Schmarrn ist, weil es bei uns halt doch am schönsten ist. Auf jeden Fall viel schöner als bei Trommen. Überleg dir das mit der Suspendierung halt noch mal. Denn eigentlich hat sie ganz gut zu uns gepasst, zumindest in der Anfangsphase.«
Sie suchte in Heinrichs Ton nach Ironie, fand aber nur eine fast schon kindlich-naive Aufrichtigkeit. Weil es bei uns halt doch am schönsten ist. Das erstaunte sie. Und auch von seinem Versuch, ihr Eva Brunners Rückkehr schmackhaft zu machen, war sie einigermaßen überrascht. Nach deren Unterstellungen ihm gegenüber war sie davon ausgegangen, dass für ihn das Thema Brunner, Eva erledigt sei. Genau wie für sie.
»Wenn dem so ist, wie du annimmst, was ich immer noch stark bezweifle, dann hat sie eben Pech gehabt. Das hätte sie sich früher überlegen müssen. Ich brauche hier niemanden, der mir ständig in den Rücken fällt und unsere Arbeit hintertreibt. Ich brauche motivierte, zuverlässige, fähige Mitarbeiter«, sagte sie.
Selbst in ihren Ohren klang das stark nach miefigem Stellenanzeigen-Deutsch, aufgesetzt, geschraubt, schief. Doch zumindest hatte sie damit auch ihm gegenüber ein für alle Mal klargestellt, dass charakterliche Abweichungen künftig gnadenlos von ihr sanktioniert würden.
»Für all diese feinen Sachen hast du ja mich«, entgegnete Heinrich mit einem sonnigen Grinsen, sichtbar unbeeindruckt von dem falschen Pathos und der versteckten Drohung. »Ich bin extrem motiviert, äußerst zuverlässig und der fähigste Mitarbeiter des Präsidiums überhaupt. Das müsste dir doch reichen.«
»Das Wichtigste hast du vergessen: Vor allem bist du der Mitarbeiter des Präsidiums mit den geringsten Fehlzeiten, du bist ja Gott sei Dank so gut wie nie krank. So, das sind jetzt vier Anrufer. Und die letzten zwei, wer war das?«
»Die habe ich«, betonte er, »angerufen. Zuerst den Schwager der Platzer, diesen Frank Weber, der noch mit seiner älteren Tochter zusammenlebt. Dann die jüngere Tochter.«
»Und wie waren die so am Telefon? Vom gleichen Kaliber wie unsere Apolonia?«
»Na ja, sie scheinen sich über meinen Anruf nicht gerade gefreut zu haben. Das war ein hartes Stück Arbeit, das kann ich dir sagen, einen Termin mit allen dreien zu vereinbaren. Aber auch das ist deinem fähigsten und zuverlässigsten Mitarbeiter gelungen. Um fünf werden wir die ganze Familie, Vater und Töchter, treffen. Bei ihm in der Wohnung. Herkommen wollten sie nicht.«
»Gut. Und hat mein fähigster und zuverlässigster Mitarbeiter denn auch schon die Kontostände überprüft?«
Heinrich sah sie entrüstet an. »Also, Paula, ich glaub, du spinnst. Wie soll denn das gehen, bei all dem Stress? Aber ich habe die Kontostände schon vorliegen, von allen im Übrigen. Und in einer ruhigen Minute werde ich sie dann auswerten, aber bisher war das eben nicht möglich. Was hast du eigentlich in der Zeit gemacht, in der ich hier nur am Rödeln war?«
»Ich war mit Herrn Platzer in der Gerichtsmedizin, anschließend in einem Stehcafé und habe da einiges Interessante herausgefunden.«
Sie erzählte ihm kurz von dem Ergebnis dieser Befragung. Sagte ihm, dass Elvira Platzer eben nicht nur der egozentrische Geizkragen gewesen war, sondern in den Augen ihres Exmannes auch andere Seiten hatte. Die der immensen Hilfsbereitschaft zum Beispiel. Dass sie sensibel und empfindlich gewesen sei. Und vor allem lediglich »ein besseres Dienstmädchen« für die alte Rupp und deren jüngere Tochter, zitierte sie Erwin Platzer mit einer gewissen Befriedigung ihm gegenüber.
Da aber Heinrich ihre interessanten Charakterstudien wie auch das Übrige stumm und ungerührt zur Kenntnis nahm, beließ sie es dabei und riet ihm zu einem Gang ins vierte Stockwerk.
»Du hast doch bestimmt schon wieder Hunger. Was hältst du davon, wenn du jetzt in die Kantine gehst und ich mache mich auf den Weg in die Eichendorffstraße, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen, und um fünf vor fünf treffen wir uns vor dem Haus dieses Herrn Weber?«
»Davon halte ich sehr viel. Warum gehst du eigentlich nicht mehr in die Kantine?«
»Weil mir die meisten meiner Sachen nicht mehr passen. Ich muss schauen, dass ich ein paar Pfund abspecke, sonst kann ich mir bald eine komplett neue Garderobe zulegen.«
»Wenn ich das mal sagen darf: Das gehst du völlig falsch an. Abends musst du aufs Essen verzichten, nicht mittags oder noch schlimmer: in der Früh. Dinner-Cancelling, das bringt’s. Aufs Abendessen verzichten und nicht beim Frühstück oder Mittagessen knausern. Nur so kriegst du die Kilos wieder los, die du zu viel draufhast. Das, was du machst, ist kontraproduktiv. Das kannst du dir sparen.«
Sie fand, er hätte ihr ruhig widersprechen dürfen oder besser: sollen. Dass sie ein solches Vorhaben doch gar nicht nötig habe, sie bei ihrer immer noch schlanken und ranken Figur. Dass er das nicht getan hatte, nahm sie ihm ein wenig übel. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie bereits in diesem »gewissen Alter« war, von dem ihre Mutter so abschreckend gesprochen hatte.
»Das lässt du bitte meine Sorge sein, wie ich das handhabe.«
»Meine Fresse, bist du aber in letzter Zeit empfindlich geworden! Das passt überhaupt nicht zu dir.«
»Ich bin nicht empfindlich, überhaupt nicht«, schoss sie erbost zurück. »Ich mag es nur nicht, wenn sich jeder in mein Leben hineinmischt und mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Schließlich mache ich das umgekehrt auch nicht. Ich finde nämlich, das gehört zum Thema gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz.«
Als sie ihre Sachen packte und die Jacke vom Garderobenhaken nahm, schwiegen beide. Ein ungutes Schweigen, weil jeder vom anderen ein deeskalierendes Wort erwartete.
Erst als sie die Bürotür öffnete, wurde dieses Schweigen von Heinrich gebrochen: »Ich fürchte, ich muss das mit dem guten Menschen von gestern wieder zurücknehmen, vorläufig zumindest.«
Sie musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass sein Gesicht jetzt ein einziges Lächeln war, ein breites, selbstzufriedenes und liebevolles Lächeln.
Da drehte sie sich mit einem ebensolchen Grinsen zu ihm um und sagte: »Gut, dann nehme ich auch was zurück, und zwar das mit dem fähigsten und motiviertesten Mitarbeiter. Ebenfalls zumindest vorläufig.«
Eine Dreiviertelstunde später hatte sie den Nürnberger Osten erreicht. Diesmal hatte sie Glück, direkt vor der Eichendorffstraße 73 war ein Parkplatz frei. Sie marschierte auf das in der Wand eingelassene Geviert der Briefkästen zu – lediglich aus dem von Elvira Platzer quoll ein von der Regennässe zusammengeklumpter Wust aus bunten Werbesendungen hervor. Sie riss ihn aus dem sperrigen scharfgratigen Schlitz und entsorgte ihn in der danebenstehenden Papiertonne.
Dann stieg sie die Treppe in den ersten Stock hinauf. Als sie die Wohnungstür aufschloss, hörte sie hinter sich eine Stimme sagen: »Halt, das dürfen Sie nicht. An der Tür ist doch ein polizeiliches Siegel …«
Noch während man heute bereits zum zweiten Mal versuchte, ihr Vorschriften zu machen, was sie zu tun und zu lassen habe, drehte sie sich um und entgegnete mit ihrem unverbindlichen Allerweltslächeln, ihrer Betonmauer aus Freundlichkeit und Distanz: »Ich darf das schon, Frau Vogel. Denn ich bin von der Polizei.«
»Ach, Entschuldigung, Frau Steiner. Ich hab Sie von hinten gar nicht erkannt. Sie sind aber heute auch so … äh … anders gekleidet als letztens. Das konnte ich leider von hinten nicht sehen, dass Sie das sind. Entschuldigen Sie nochmals.«
Der missglückte Versuch einer Erklärung für diese Verwechslung. Ab morgen, nahm sich die heute so ganz anders gekleidete Frau Steiner vor, kommen wieder die schmalen und knackigen Sachen zum Einsatz. Selbst auf die Gefahr, dass ihr Körper da nicht mitspielen wollte. Dann schloss sie die Tür.
In dem schmalen Flur bot sich ihr das gleiche Bild wie am Dienstagvormittag. Bis auf ein Detail – der Boden, auf dem die tote Elvira Platzer gelegen hatte, war nun frei begehbar. Zwar hässlich gemustert von den braunen bis dunkelroten Blutspuren, aber auf einer Fläche von ein mal zwei Metern erfreulich leer.
Sie ging nach hinten durch und betrat das Schlafzimmer. Auch hier stapelten sich Obstkisten, Pappkartons und Regale bis an die Decke, Letztere vollgestopft mit Büchern, Plastiktüten, Klopapierrollen und, sofern sie das auf den ersten Blick richtig deutete, noch original verpackten Kleidungsstücken. Als sie in das nächstbeste Fach griff und eines dieser in Plastik verschweißten Kleidungsstücke herauszog, kam ihr die ganze Fracht des Regalfachs mit entgegen. Sie sah auf den bunten Haufen zu ihren Füßen, bückte sich und versuchte, alles wieder an Ort und Stelle zu legen. Ein vergebliches Unternehmen, denn spätestens nach der zur Hälfte geglückten Rückführaktion machte sich die Ladung jedes Mal wieder selbstständig und fiel vor ihre Füße.
Sie spürte, wie Ungeduld und Übellaunigkeit in ihr hochstiegen. Tief ein- und ausatmend besah sie sich die restliche Möblierung. Vor dem Obstkistenstapel unter dem Fenster stand ein Jugendbett mit ehemals weißem, jetzt fleckig-beigem Schleiflackfurnier, auch darauf thronten meterhohe Pyramiden aus getragener und unbenutzter Kleidung. Davor ein breiter Polstersessel mit einer welligen Mulde in der Mitte und einem leicht fleckigen Polsterschoner – sonst nichts. Hier also hatte die Platzer ihr Nachtlager aufgeschlagen, vermutete sie, denn eine zweite freie Sitzfläche oder gar Schlafgelegenheit gab es in dem Zimmer nicht.
Was für ein erbärmliches Leben, das einen sogar dazu zwang, die Nacht im Sitzen zu verbringen und auf das behagliche, ja lustvolle Ausstrecken der Arme und Beine am Ende des Tages zu verzichten. Stundenlang nur dazuhocken und abzuwarten, dass ein neuer Tag anbrach und alles wieder von vorne losging.
Da ging der ehemaligen Soziologiestudentin ein Begriff durch den Kopf, den sie in seiner akademischen Abstraktion nie so richtig verstanden hatte und der doch für diese zugemüllte Wohnung eine passende Erklärung lieferte. War es der Fetischcharakter der Warenwelt, der Elvira Platzer zum Verhängnis geworden war? Der sie all die Dinge, die ihr irgendwo in die Finger kamen, als Beute heimtragen und bewahren ließ, wertvollen Trophäen gleich? Und irgendwann hatten die so gehorteten Waren, die wesenlosen Wesen dann ihre eigene Ordnung entwickelt, eine harte und unversöhnliche, und ihrer Eigentümerin ein Leben diktiert, das sie zum Schlafen auf diesen Polstersessel mit seiner welligen Mulde verbannt hatte.
Wie sie auf den durchgesessenen Sessel starrte, war eine große Leere in ihr. Ihre anfängliche Neugier und die zwischenzeitlich aufkeimende schlechte Laune waren jetzt Verzagtheit und sogar Schwermut gewichen. In diesem Moment wollte sie nichts mehr mit dem Fall Platzer, Elvira zu tun haben. Abrupt drehte sie sich um und verließ die Wohnung.
Als sie bereits im Erdgeschoss angelangt war, fiel ihr ein, dass sie dort oben zwei entscheidende Sachen vergessen hatte. Vor allem hatte sie vergessen, machte sie sich insgeheim den Vorwurf, im Schlafzimmer nach den größten Schätzen ihres Mordopfers zu suchen. Vielleicht lagerten diese ja immer noch, wie Erwin Platzer ihr gegenüber beiläufig erwähnt hatte, in einer Plastiktüte unter dem durchgesessenen Schlafsessel? Widerwillig stieg sie die Treppe wieder hoch, schloss die Wohnungstür auf, ging zurück ins Schlafzimmer, schob die Kleiderberge vor dem Liegesessel mit dem Fuß zur Seite, bückte sich und griff mit der rechten Hand unter das Möbel. Zwei, drei, vier, fünf Taschenschirme, alle mit dem roten Punkt und alle ohne jeden Gebrauchswert, waren ihre ersten Fundstücke. Es folgten ein Federmäppchen aus braunem Leder, ein Briefumschlag mit vier Ersttagsbriefen, zwei gelbe Glaskugeln für Teelichte. Dann endlich bekam Paula die Preziosenkollektion der Elvira Platzer zu fassen. Zufrieden zerrte sie eine mit einem Bindfaden fest verschnürte Plastiktüte hervor. Nachdem sie die Wohnungstür verschlossen hatte, klebte sie sorgfältig ein Siegel auf die Nut zwischen Rahmen und Tür.
Vor dem Haus zündete sie sich eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Noch nicht einmal Viertel nach zwei, sie hatte fast noch drei Stunden Zeit, um sich mit Heinrich zu treffen. Die Aussicht, dann mit drei Menschen zu sprechen, die ihr und Heinrich nur widerstrebend Auskunft geben und für ihre Tante respektive Schwägerin sicherlich wenig Gutes übrig haben würden, ließ sie vorerst nicht ins Präsidium zurückfahren, sondern den kurzen Weg in die Schlieffenstraße nehmen.
Kein Max tobte wie früher in dem Garten, der das kleine, einstöckige weiß gestrichene Häuschen mit seinem feuerroten Ziegeldach umgab. Sie klingelte an der Haustür. Es blieb verdächtig still. Erneutes Klingeln, nun wesentlich beherzter und druckvoller – wieder nichts. Sie trat zwei Schritte zur Seite und klopfte an das gardinenlose Küchenfenster. Nichts. Keine Reaktion. Als sie die Gartenpforte mit einem bangen Gefühl hinter sich zugezogen hatte, hörte sie von der gegenüberliegenden Seite des kleinen schmucklosen Rasenplatzes ein lautes und freudiges: »Paulchen, hallo, Paula!« Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen hinüber und entdeckte ihre Mutter mit prall gefüllten Einkaufstaschen in beiden Händen im Gespräch mit einer Nachbarin. Zu ihren Füßen lag Max.
Paula rannte ihnen entgegen, riss Johanna Steiner die schweren Taschen aus den Händen und beugte sich erst dann zu dem Rauhaardackel hinab, der auf ihr Streicheln mit zwar kurzem, aber wiederholtem Schwanzwedeln reagierte. Eine deutlich erkennbare Steigerung zu seiner lethargischen Begrüßung von gestern.
»Mensch, Mama, du sollst doch nicht immer das schwere Glump hier rauftragen«, sagte sie, während sie gemeinsam ins Haus traten. »Wie oft hab ich dir schon angeboten, dass ich dich zum Einkaufen fahre und dich auch samt deinen Einkäufen wieder heimbringe. Du musst es mir bloß sagen. Aber du rufst ja nie an! Mach dir dein Leben halt auch mal ein wenig leichter und lass dich nicht immer so bitten.«
Das klang wie ein leichter Vorwurf, war aber im Grunde nur ihre Art, ihre große Erleichterung darüber zu zeigen, dass beide wohlauf waren. Sie war heilfroh, dass sich ihre dunklen Ahnungen vom Küchenfenster in keiner Weise bestätigt hatten.
»Ich will das nicht, das weißt du doch. Ich will autark« – ja, ihre Mutter sagte tatsächlich autark, nicht autonom oder unabhängig – »bleiben. Außerdem kann ich den Einkauf wunderbar mit der Nachmittags-Gassirunde fürs Maxl verbinden. Und dann, ich muss in Bewegung bleiben. Frau Färber sagt das auch. Ich darf mich nicht gehen lassen.«
»Du kannst ja meinetwegen in Bewegung bleiben, aber ohne Gepäck. Und was Frau Färber sagt, ist mir ziemlich wurscht. Was ist denn da überhaupt drin, dass das gar so schwer ist?« Schwungvoll hievte sie die zwei Taschen auf den Küchentisch und begann auszupacken. »Kartoffeln … Milch … Mehl … Zucker … also wirklich.«
»Andere gehen ins Fitnessstudio, ich brauch das nicht. Ich bringe mich so in Form«, erwiderte ihre Mutter mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber mal was anderes: Ist dir auch aufgefallen, dass es dem Maxl heute wesentlich besser geht? Er hat dich gleich erkannt, und gefreut hat er sich auch, das ist doch ein gutes Zeichen.«
»Ja, das finde ich auch. Hoffentlich hält das recht, recht lange an.«
»Warum bist du eigentlich hier? Hast du heute frei? Oder baust du wieder mal Überstunden ab?«
»Weder noch. Ich war gerade in der Eichendorffstraße …«
»Wieder in diesem Altenheim?«, unterbrach ihre Mutter sie interessiert.
»Nein, in der Wohnung der Toten, dieser Messie-Frau. Aber da hab ich es nicht lange ausgehalten. Wie ein Mensch nur so leben kann! Was heißt hier leben? Vegetieren trifft es eher.«
»Tja, ich versteh so was auch nicht. Das muss doch eine Krankheit sein, diese ganze sinnlose Horterei, dieses Sam…«
»Quatsch, das ist keine Krankheit«, wurde sie von Paula heftig unterbrochen. »Das ist Disziplinlosigkeit. Solche Leute haben die Kontrolle verloren, das ist alles.«
Sie hörte dem Klang ihrer Worte nach und – erschrak. Jetzt hatte sie genau wie Apolonia Rupp gesprochen, hart, rechthaberisch und ohne jeden Anflug von Verständnis.
»Vielleicht handelt es sich dabei eher um einen Zwang«, schob sie, schon wesentlich milder im Ton, nach. »So wie Heinrich mit seiner Nägelbeißerei. Ich hab mal eine Sendung im Fernsehen gesehen, da haben sie einen Mann mittleren Alters, auch einen Messie, regelrecht vorgeführt. Bei dem war alles mit Werkzeugen vollgestellt, selbst der Garten. Und in seinem Computer hat er gespeichert, wo was in welcher Anzahl zu finden ist. Auf den ersten Blick das Chaos pur, auf den zweiten Blick aber ein Chaos mit System, Ordnung und Unordnung gleichermaßen. Genau wie bei meinem Mordopfer.«
»Die Sendung habe ich auch gesehen. Und mir noch gedacht, da muss aber was in der Kindheit ganz entschieden falsch gelaufen sein. Der ist bestimmt als Kind von seinen Eltern nicht genug geliebt worden.«
Mangelnde Liebe in frühen Jahren war für Johanna Steiner schon von jeher ein stimmiges Erklärungsmuster für jede Art von Fehlverhalten gewesen.
Und vielleicht war das ja auch die Erklärung, wenn auch eine sehr notdürftige, für die Sammelwut der Platzer? Dass das adoptierte und nach Aussage ihres Exmannes nicht eben wohlgelittene Kind zu wenig Zuneigung erfahren hatte?
»Du hast doch nächste Woche Geburtstag, Paulchen«, riss Johanna Steiner sie aus ihren Grübeleien, »und ich habe noch gar nichts für dich. Sag, womit könnte ich dir denn zumindest eine kleine Freude machen?«
»Das kann ich dir ganz genau sagen: damit, dass ihr zwei, du und das Maxl, noch recht lange lebt.«
»Das kann ich dir leider nicht schenken. Aber wir geben uns Mühe, gell, Maxl?«
Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht soll ich dir was kochen, was du gerne isst? Ochsenschwanzragout mit Basmati-Reis oder was anderes Feines, wofür bei dir die Zeit nicht langt?«
»Kommt gar nicht in Frage, dass du an dem Tag stundenlang in der Küche stehst. Nein, nein, an meinem Geburtstag lade ich«, betonte Paula, »dich zum Essen ein. Wir gehen irgendwo hin, wo es schön ist und wo der Max dabei sein darf – und machen uns einen ganz gemütlichen Abend. Und geschenkt will ich nichts haben, gar nichts. Ich habe jetzt gesehen, wohin das führt, wenn man sich die Bude mit allerlei Zeug vollbunkert, das man gar nicht braucht.«
»Ja, willst du denn nicht mit deinem Freund und deinen Kollegen feiern?«, fragte ihre Mutter. »Die erwarten das bestimmt.«
»Nein, will ich nicht. Das ist ungefähr das Letzte, was ich an diesem Tag will.«
Nachdenklich sah Johanna Steiner ihre Tochter an. »Ich glaube, Paulchen, du hast ein wenig Angst vor deinem fünfzigsten Geburtstag. Das brauchst du nicht. Du bist ja noch so jung. Für mich war die Zeit ab fünfzig mit die schönste in meinem Leben. Und für dich wird das genauso sein, da bin ich mir sicher.«
Das bezweifelte sie, sagte aber nichts dazu. Jetzt hatte sie sich doch tatsächlich zu einer Feierlichkeit, wenn auch nur zu einer im kleinsten Rahmen, hinreißen lassen. Aus freien Stücken. Das wunderte sie. Noch mehr wunderte sie ihre Vorfreude darauf. Denn ja, der Gedanke, dass sie den Abend dieses vermaledeiten Tages in Gesellschaft verbringen würde, stimmte sie wider Erwarten froh. Mehr und mehr.
Als sie den Nordring, der wie immer um diese Zeit in der Agonie des abendlichen Berufsverkehrs zum Erliegen kam, entlangfuhr, trällerte sie das alte Beatles-Lied »When I’m sixty-four«.
Frank Weber wohnte in Schniegling, im kleinbürgerlich-melancholischen Stadtteil des Nürnberger Nordwestens, in jener Stadtrandsiedlung, wo der Traum vom Eigenheim und der Alptraum der Langeweile auf bedrückende Weise nebeneinanderlebten. Nachdem sie vom Nordwestring in die Schnieglinger Straße abgebogen war, tauchten auch schon rechts die ersten Doppelhaushälften mit ihren übergepflegten Mini-Vorgärten auf. Links war das Nürnberger Ei, der dreihundert Meter lange Fernmeldeturm, zu ahnen, ein Schatten im nachmittäglichen Nieselregen. Schließlich hatte sie die Ganghoferstraße erreicht. Die Suche nach der Hausnummer erübrigte sich, sie erkannte Heinrichs Dienstwagen schon von Weitem und parkte ihren gleich dahinter.
Vor der schmucklosen Doppelhaushälfte mit ihrer billigen Fertigteilgaragenhälfte aus Blech und Beton sowie der unvermeidbaren gigantischen Satellitenschüssel auf dem Dach kamen sie und Heinrich schnell überein, dass er die Befragung führen würde. Sie war der Meinung, ein junger Polizeibeamter habe sicher einen leichteren Zugang zu zwei jungen Frauen als eine ältere Hauptkommissarin.
Als sie auf die Tür zugingen, flüsterte ihr Heinrich noch zu: »Paula, ich habe schon mal einen Blick in Webers Kontoauszüge geworfen. Finanziell sah es bei dem vor ein paar Jahren gar nicht gut aus. Der hatte Schulden ohne Ende.«
»Na, das ist doch schon mal was«, entgegnete sie in dem gleichen verschwörerischen Ton.
Dann klingelte sie. Ohne Erfolg. Zweiter Versuch. Wieder nichts. Sie grinste zu Heinrich hinüber und legte dann ihre rechte Hand mit großem Vergnügen und ebensolchem Druck auf den Klingelknopf.
Und dort lag diese Hand noch immer, als die Tür endlich von einer jungen, großen, überschlanken, weißblond gefärbten Frau – enge Jeans, weiße Ballerinas, ein über und über mit Strass besetzter breiter Gürtel, weißes nabelfreies Top – aufgerissen wurde, die sie anherrschte: »Was fällt Ihnen ein, hier so einen Terror zu veranstalten! Können Sie nicht warten, bis man Ihnen aufmacht! Oder glauben Sie, bloß weil Sie von der Polizei sind, können Sie sich …« Das musste die ältere der beiden Töchter sein, Jeannette Weber.
Da erst nahm Paula ihre Hand vom Klingelknopf und flötete mit honigsüßer Stimme: »Guten Tag, Frau Weber. Das hier ist Oberkommissar Bartels, und mein Name ist Steiner. Wir hatten einen Termin mit Ihnen für siebzehn Uhr vereinbart. Und jetzt haben wir Punkt siebzehn Uhr. Oder täusche ich mich da? Dann dürfen wir ja hereinkommen.«
Sie trat noch immer lächelnd in die kleine Diele, blickte kurz nach links, wo eine Garderobe stand, und schritt dann forsch nach rechts in den offenen quadratischen Wohnraum. Auch dieses Zimmer war für ihren Geschmack viel zu vollgestellt, was vor allem an der dunkelbraunen Schrankwand – Nussbaum antik, aber keine Antiquität – und dem wuchtigen Sitzensemble, bestehend aus einem schwarzen Ledersofa und zwei ebensolchen Ledersesseln, lag. Die Fenstersimse hinter den floral gemusterten Kunststoff-Stores waren über und über beladen mit den derzeit so angesagten Orchideen in allen denkbaren Bonbonfarben in farblich abgestimmten Keramik-Übertöpfen. Zwischen den kleinen einfachen Kunststofffenstern und der Couchgarnitur standen eine zierliche, fast hübsche Blondine, auch sie in engen Röhrenjeans, auch sie mit gefärbtem hüftlangem Haar, und ein großer gebeugter Mann Arm in Arm. Paula wiederholte ihren Gruß.
Als sie unaufgefordert auf einem der beiden Sessel Platz nahm, knarzte das dicke Leder unter ihrem Hintern wie unter einer schweren Last. Mit einer kleinen Genugtuung hörte sie dieses quietschende Ächzen auch, als Heinrich sich setzte. Die drei Gastgeber blieben ostentativ stehen. Sie warf Heinrich einen langen Blick zu, der von ihm mit einem kurzen verständigen Nicken aufgefangen wurde.
»Möchten Sie nicht auch Platz nehmen? Wir können uns doch dann viel entspannter unterhalten«, sagte er.
Noch zeigte sich das Trio unentschlossen. Sollten sie dieser Frage, bei der man nicht wusste, ob es nun eine freundliche Bitte war oder eine unverschämte Aufforderung, nachkommen? Nach einer langen Weile riss sich die jüngere der beiden Weber-Töchter von ihrem Vater los und nahm auf der Armlehne des breiten Sofas Platz. Schließlich tat es ihr Frank Weber gleich und setzte sich rechts neben sie, steif und lauernd. Jeannette Weber dagegen, deren Strassgürtel selbst in dem gedämpften Licht dieses dunklen Zimmers bizarr blinkte und glitzerte, blieb mit vor dem Körper verschränkten Armen stehen.
Paula sah sie prüfend an, dann wanderte ihr Blick zurück zu der Zweierbesatzung des Sofas. Und sie sah in den hängenden Mundwinkeln und hängenden Augenlidern, in all den auf den Kopf gestellten Us, die gleiche Muffigkeit und Ablehnung. Aber auch die Anstrengung, die eine solche geballte wie übereinstimmende Demonstration der schlechten Laune kostete.
»Ihre Schwiegermutter beziehungsweise Großmutter hat Sie ja bereits über den Mord an Frau Platzer informiert«, eröffnete Heinrich seine Unterhaltung und legte Stift und Notizblock griffbereit auf den Couchtisch.
»Wann haben Sie Elvira Platzer denn zum letzten Mal gesehen oder mit ihr gesprochen?«
Keine Antwort. Sämtliche Mundwinkel blieben in ihrer nach unten gezogenen Position. Heinrich wiederholte seine Frage. Schließlich antwortete Weber leise, ohne seinen Blick von der Schrankwand zu nehmen. »Wir hatten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr.«
»Seit wie vielen Jahren? Und trifft das auf jeden von Ihnen zu?«
»Seit 2004.«
Heinrich sah zu den Töchtern, die diese Angabe mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken bestätigten.
»Können Sie uns dennoch etwas sagen, was das Leben des Opfers anbelangt?«
»Nein.«
»Oder wissen Sie von Feinden beziehungsweise Personen, die Ihrer Schwägerin und Tante nicht wohlgesonnen waren?«
»Nein.«
»Dann hätte ich von Ihnen gern zumindest eine kurze Beschreibung, wie Frau Platzer war, damals, als Sie noch Kontakt hatten. Wie lebte sie, wie verbrachte sie ihre Freizeit, wie hat sie sich Ihnen gegenüber verhalten?«
»Das wissen wir nicht. Wir haben sie auch davor nur selten gesehen.«
»Nun, dann schildern Sie eben bitte Ihren Eindruck, den Sie von diesen wenigen Zusammenkünften hatten. An irgendetwas müssen Sie sich doch erinnern können.«
»Ich kann mich an nichts mehr bei dieser Person erinnern, an gar nichts mehr«, sagte Frank Weber in einer Weise, die sein Gesicht so leblos erscheinen ließ wie eine erstarrte Fliege in Bernstein. »Und meine Töchter auch nicht.«
»Wo waren Sie am vergangenen Montag um dreiundzwanzig Uhr?«
»Wir waren alle drei hier und haben ferngesehen.«
Das Gespräch war jetzt, nach nicht einmal zwei Minuten, an einem aussichtslosen Punkt angekommen. Heinrichs Notizblock lag noch in demselben Zustand vor ihm wie zu Beginn seiner Befragung – leer, ohne einen einzigen Eintrag.
»Damit wäre unsere Unterredung vorerst beendet. Oder, Frau Steiner?«, sagte Heinrich und wollte sich soeben aus dem Sessel schälen.
Für die Hauptkommissarin sah es ganz danach aus, als hätten die drei Webers exakt diese Fragen von ihnen erwartet, so emotionslos, wie die Antworten darauf gekommen waren. Dann waren es die falschen Fragen gewesen. Zeit, endlich ein paar richtige Fragen zu stellen. Sie gab Heinrich zu verstehen, dass er sitzen bleiben solle.
»Nein, noch nicht ganz. Haben Sie derzeit Schulden, Herr Weber?«
Er sah sie mit großen Augen an, die Bernsteinfliege schien zum Leben erwacht zu sein. »Nein, ich habe keine Schulden. Wie kommen Sie denn da drauf?«
Ja, wie kam sie darauf? Durch Heinrich und seine leider sehr flüchtige Einsichtnahme in Webers Kontoauszüge. Noch bevor sie sich eine amtliche, einigermaßen glaubwürdige Antwort zurechtlegen konnte, sekundierte ihr Heinrich bereits mit der Geschmeidigkeit des versierten Lügners.
»Uns liegen Zeugenaussagen vor, dass dem so sei. Und wir sind natürlich – speziell bei einem solchen Kapitalverbrechen – verpflichtet, dem nachzugehen.«
»Das ist ja eine Frechheit, so was! Rufschädigung ist das!«, schrie Jeannette Weber im hellen Diskant. »Das lassen wir uns nicht gefallen. Dagegen gehen wir gerichtlich vor. Wer behauptet so was, wer war das? Los, sagen Sie uns die Namen!«
»Aber Frau Weber«, sagte Paula in dem milden, nachsichtigen Tonfall einer Kindergärtnerin, die ihre Schutzbefohlenen schon zum x-ten Mal zur Ordnung rufen muss und davon leicht genervt ist, »das dürfen wir Ihnen doch nicht sagen. Das wäre ja gegen sämtliche Vorschriften. Also, halten wir fest, keiner von Ihnen hier hat momentan Schulden? Da habe ich Sie doch richtig verstanden, oder?«
»Natürlich nicht. Das haben wir doch schon gesagt«, lautete die schnelle Antwort von Jeannette Weber, die mittlerweile auf dem Sofa neben ihrem Vater Platz genommen hatte und betont gelangweilt die Augen verdrehte.
»Gut, dann können wir ja in aller Ruhe Ihre Angaben dazu und die unserer Zeugen abgleichen. So, das wäre geklärt.«
»Was verstehen Sie denn unter Schulden?«, fragte Tanja Weber und sah dabei auf ihre von Spliss ausgedünnten Haarspitzen. Es war ihr erster Beitrag zu diesem Gespräch, und im Gegensatz zu ihrer Schwester gab sie sich Mühe, ruhig und herablassend zugleich zu wirken.
»Unter Schulden verstehe ich Kredite, Rückstände, Verbindlichkeiten. Gegenüber der Hausbank zum Beispiel. Ist Ihnen das Wort nicht geläufig?«
»Und wenn man sein Konto mal überzieht, wie das jedem einmal passiert? Was ist dann? Sind das in Ihren Augen auch Schulden?«
»Frau Weber, fürs Fragenstellen bin ich hier zuständig. Jetzt noch mal: Haben Sie Schulden, ja oder nein?«
»Ich glaube«, Tanja Weber lächelte sie ironisch an, »eher nein. Oder doch? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Schon recht. Nächste Frage. Welchen Beruf haben Sie und üben Sie ihn auch aus oder sind Sie arbeitslos?«
Auch das schien eine richtige, eine gute Frage zu sein, wenn man die erstaunten bis unruhigen Reaktionen darauf richtig deutete.
»Wozu wollen Sie das wissen?«, fragte die jüngere der Weber-Schwestern nach.
Und wieder war es Heinrich, der mit seiner Antwort eine nette Kostprobe seiner Phantasie, gepaart mit einer großen Portion an Reaktionsschnelligkeit, zum Besten gab.
»Wir brauchen immer ein klares Profil der Angehörigen, um Rückschlüsse auf den oder die Mörder unserer Opfer ziehen zu können.«
Ein Satz, der sich in keinem Lehrbuch zur kriminalpolizeilichen Befragung fand. Weil er so blöd- wie unsinnig war, der aber hier in dieser Doppelhaushälfte ernst und für voll genommen wurde.
»Ich war fast dreißig Jahre Lagerverwalter bei der Quelle«, meldete sich als Erster Frank Weber, »bin aber jetzt, seitdem es die Quelle nicht mehr gibt, Arbeitssuchender. Also ohne Arbeit.«
Jeannette Weber arbeitete als ausgebildete Tierpflegerin, und ihre jüngere Schwester Tanja studierte im nahen Erlangen an der Friedrich-Alexander-Universität Tiermedizin. Heinrich machte sich eifrig Notizen.
Eine Frage schoss ihr in den Kopf, ohne Zeit für die Antwort zu lassen. Durfte sie diesem Mann und seinen Töchtern das zumuten oder …?
»Wie war eigentlich das Verhältnis Ihrer Mutter zu Elvira Platzer, die ja immerhin ihre Schwester war?«, wandte sie sich direkt an Jeannette Weber.
Diese reagierte überraschend neutral, fast schon freundlich. »Normal, würde ich sagen. Oder, Papa?«
Frank Weber nickte. »Ja, ganz normal. Wie unter Geschwistern halt so üblich.«
»Geht irgendjemand von Ihnen auf die Jagd – oder hat jemand von Ihnen den Jagdschein?«, fragte Paula weiter.
Alle drei Webers hoben verwundert den Blick und schüttelten verneinend den Kopf.
»Nicht? Gut. Haben Sie, Frau Weber«, Paula wandte sich der älteren der beiden Schwestern zu, »in Ihrer Arbeit als Tierpflegerin Umgang mit scharfen Messern?«
»Nein, warum?«, lautete die prompte Gegenfrage.
»Die meisten Tierpfleger sind doch auch für das Zerkleinern der Nahrung der ihnen anvertrauten Tiere zuständig?«
»Ich nicht. Ich arbeite im Delphinarium, da wird das Futter schon fix und fertig angeliefert.«
»Aha.« Sie sah auf Heinrichs Block, auf dem nun das Wort »Delphinarium« zweimal umkringelt war. Das bedeutete: Darum würde er sich kümmern.
»Haben Sie hier im Haus irgendeine Art Mäuse- oder Rattengift gelagert?«
»Was fällt Ihnen ein?«, blaffte Jeannette Weber sie an. »Sehen wir so aus, als ob wir Ratten …«
»Mir würde ein einfaches Ja oder Nein völlig genügen«, fiel Paula ihr ins Wort.
»Nein.«
»Gut. Das wäre es dann vorläufig. Nein, eine letzte Frage habe ich noch: Sie sind sich ganz sicher, dass Sie vor ein bis zwei Wochen mit Frau Platzer nicht«, sie betonte die Verneinung, »in Kontakt getreten sind? Und dazu benötigen wir von jedem von Ihnen eine gesonderte Aussage. Für das Vernehmungsprotokoll, verstehen Sie.«
Natürlich erhielten sie und Heinrich dreimal die gleichlautende Antwort – ein fast schon empörtes »Nein« – auf diese überflüssige Frage, die sich dennoch gelohnt hatte. Denn als sie sich von dem Weber-Trio, das bis zuletzt auf seinem knarzenden Ledersofa sitzen geblieben war, verabschiedeten, zeigten die drei Mundwinkel kein auf den Kopf gestelltes U mehr, sondern bildeten eher einen langen, schmalen, hie und da zittrigen Gedankenstrich. Diese sichtlich gereizte Anspannung wertete Paula als Ergebnis ihrer richtigen Fragen.
Vor dem Haus bedeutete ihr Heinrich, ihm zu folgen. Er eilte die Ganghoferstraße Richtung Kreuzsteinweg entlang, bog dort ab und blieb abrupt stehen.
»Noch eine Sekunde länger, und ich hätte mich nicht mehr beherrschen können«, prustete er laut lachend los. »›Für das Vernehmungsprotokoll, verstehen Sie.‹ – Das war wirklich einsame Spitze, Paula.«
Sie musste eine Weile warten, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Aber bei Weitem nicht so pfiffig wie dein klares Profil der Angehörigen. Das war um Klassen besser. Wie dir das nur so schnell eingefallen ist.«
So standen sie noch ein paar Sekunden schweigend an der Straßenecke und sonnten sich in den Komplimenten, die sie sich gegenseitig gemacht hatten. Dann marschierten die Hauptkommissarin und ihr Oberkommissar zum Haus der Webers zurück.
Bevor sie sich trennten, kamen sie überein, erst morgen weiterzumachen. Heinrich mit den Kontenüberprüfungen und dem »gründlichsten Gegenchecken, das du dir überhaupt vorstellen kannst«, sie mit einer Fortsetzung ihrer Wühlarbeit in der Eichendorffstraße.
Auf ihrem Weg in den Vestnertorgraben hielt Paula noch beim nächstbesten Supermarkt an und kümmerte sich um ihre Vorratshaltung.
Sie ging dabei nicht planvoll vor, sondern ausschließlich nach dem Zufallsprinzip. Alles, was ihr vor die Augen kam und verführerisch aussah, packte sie in den Einkaufswagen, der somit am Ende dieses Zickzackkurses mit allerlei gesunden wie ungesunden Lebensmitteln gefüllt war. Mit Knäckebrot und Fertigpizza, Studentenfutter und drei Lauchstangen, gesalzener Butter aus dem Périgord und einer Familienpackung Vanilleeis, einem Glas steinloser griechischer Oliven und Schokoladenkeksen aus der französischen Schweiz, tiefgekühltem Spinat und einer Flasche Himbeeressig, zwei Päckchen Spaghettini und hundertfünfzig Gramm Salamiaufschnitt, einer Tausend-Gramm-Packung »Frankenland«-Topfen und zweihundert Gramm frischem Parmesan von der Käsetheke, mit gerebeltem Majoran, einer Packung tiefgefrorener Fischstäbchen, einem Sack Kartoffeln der Sorte Quarta, einer Stange Baguette, sechs oberpfälzischen Bio-Eiern, einem Sechserpack Joghurt und einem Bund Petersilie.
Drei schwere Tüten schleppte sie aus dem Geschäft und wunderte sich, wie ihre zweiundachtzigjährige Mutter solche Einkäufe ohne Auto, mit einem steilen Anstieg und einem fünfzehnjährigen Rauhaardackel bewältigte. Ohne zu klagen.
Eine Stunde später war der Kühlschrank gefüllt. Nun stand sie vor der diffizilen Aufgabe, sich aus seinem konfusen Sortiment ein Menü zusammenzustellen. Sie traf ihre Wahl zugunsten der Fertigpizza und des Vanilleeises als Dessert. Eine Flasche Riesling von der Mosel für lächerliche fünf Euro – feinherb, Jahrgang 2010, Steillage – vervollständigte diese raffinierte Speisenabfolge.
Nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, ging ihr die dürre, abgemagerte Elvira Platzer durch den Kopf. Was sie wohl zu Abend gegessen hatte – und vor allem: wo? Zusammengekauert auf ihrem Schlafsessel?
Dann verselbstständigten sich ihre Gedanken. Niemand, mit dem sie bislang über das Opfer gesprochen hatte, schien Anteil zu nehmen an seinem vorzeitigen, gewaltsamen Tod. Niemand zeigte irgendein Zeichen von Mitgefühl, von Mitleid ganz zu schweigen. Niemand außer dem Exmann. Und selbst bei ihm hatte sie eher die rasende Wut auf den Mörder seiner geschiedenen Frau als die Trauer über ihren Tod erkannt.
Woran lag diese auffallende Teilnahmslosigkeit, mit der Elvira Platzers Angehörige, Nachbarn und Kollegen auf die Grausamkeit dieses Mords reagierten? Lag es am angeblichen Geiz der Platzer, an ihrem Egoismus, an ihrem Wesen also, oder an ihrem Müll?
Sie drückte die Zigarette aus, stellte Teller, Besteck und Weinglas ins Spülbecken und schaltete das Licht in der Küche aus. Noch ein langer Blick auf die erleuchtete Burg. Und da, im Angesicht der mittelalterlichen Kaiserstallung und des davor lagernden tiefen dunklen Burggrabens, fiel ihr die Antwort auf ihre Frage ein.
Es lag an ihrem ganzen armseligen Leben. Denn wenn eine solche Katastrophe wie ein Mord in ein Leben tritt, das reich mit Glück und Überfluss gesegnet ist, nur dann scheint es sich wohl um eine wahre, um eine von der Außenwelt auch nachvollziehbare Tragödie zu handeln. Gerade so, als nähme die Tragödie ihr Maß an der Höhe des Absturzes, die bei Elvira Platzer als zu gering schien, um sie als dramatisch zu empfinden.
Doch das war eine Täuschung, dachte Paula, die noch immer grübelnd im Rahmen ihrer Küchentür stand. Die Tragik dieses Todes der Elvira Platzer mochte zwar unauffälliger als bei anderen Mordfällen daherkommen, war aber nicht weniger grausam. Nein, ganz im Gegenteil.
Paula löste sich vom Türrahmen, nahm Elvira Platzers Tüte und trug sie ins Wohnzimmer. Dort, auf dem Couchtisch, breitete sie den Inhalt aus: vier Eierbecher, einer davon aus Alpaka-Silber, eine Baseballkappe, die ungetragen wirkte, ein Türknauf aus Messing, eine alte Polaroid-Kamera, ein kleiner Bilderrahmen, geschnitzt aus Lindenholz, eine alte Mundharmonika von Hohner mit Originalschachtel, ein leeres Parfümfläschchen, ein Operngucker in einem schwarzen Lederetui und ein Buch, noch in Zellophan verschweißt. »Simplify your Life«, der Klassiker unter all den Entrümpelungs- und Wegwerf-Ratgebern. Sicher in guter Absicht geschenkt von jemandem, der die Wirkung von gedrucktem Papier auf Elvira Platzer allerdings weit überschätzte. Kein Foto, kein Brief, nichts, was auf tiefergehende persönliche Kontakte der Toten hingewiesen hätte. Und damit auch nichts, was Paula irgendwie weiterhelfen konnte. Enttäuscht packte sie die Sachen wieder in die Tüte, stellte sie an die Wohnungstür und ging ins Bett.