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»So, und jetzt fahren wir in das Altersheim, wo die Platzer gearbeitet hat.« Sie stand auf und gab Heinrich ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Ja, und unser Mittagessen?«

»Das entfällt heute. Wir können ja unterwegs irgendwo halten und uns eine Leberkäs-Semmel kaufen, wenn du so großen Hunger hast.«

»Ich habe um die Zeit immer großen Hunger«, mit schwerem Schritt stapfte Heinrich hinter ihr die Treppe ins Erdgeschoss hinab, »und zwar so großen, dass eine Leberkäs-Semmel dafür nicht ausreicht. Außerdem ist das auch Fast Food, deutsches Fast Food zwar, aber trotzdem hochgradig ungesund und überhaupt nicht für meinen empfindlichen Magen geeig…«

»Dann iss halt zwei Semmeln oder drei für deinen so großen Hunger.« Den zweiten Teil seines Vetos ignorierte sie. Sie hatte sich nämlich nach den Brunner’schen Eskapaden vorgenommen, ihren Laissez-faire-Stil als Vorgesetzte vorerst auf Eis zu legen und stattdessen ab sofort die stramm hierarchischen sowie vor allem intakten Befehlsstrukturen des Kollegen Trommen, die in dem Moment einen großen Reiz auf sie ausübten, zu imitieren. Und dazu gehörte ihrer Meinung nach eben auch, dass in ihrer Kommission nur sie die Definitionsgewalt darüber hatte, wie ein »großer Hunger« am besten bekämpft werden konnte und ob eine Leberkäs-Semmel nun ungesund war oder nicht.

Eine gute halbe Stunde später standen sie vor dem Philipp-Melanchthon-Heim in der Eichendorffstraße. Eine zahnpastaweiße Anlage aus den sechziger Jahren, davor eine ansehnliche Linde, ein gepflegter Grüngürtel aus Rasen und gestutzten Hecken, das Dach über dem Haupteingang lagerte auf ebenfalls weißen, zierlichen Säulen. Lediglich die weit geschwungene Auffahrt für Rollstühle an der rechten Seite deutete darauf hin, dass es sich hier nicht um ein Hotel handelte, sondern um ein sehr gepflegtes Seniorenstift, sprich: um ein besseres Altersheim.

Als sie die Stufen zum Eingang emporstieg, sagte sie zu Heinrich, der ihr stumm folgte, er solle bei dem folgenden Gespräch ausschließlich ihr das Wort überlassen. Diese Vernehmung werde sie führen, und zwar sehr kompakt und sehr effizient, er möge sich da ganz raushalten.

Worauf Heinrich mit einem spöttischen Lächeln nur erwiderte: »Jawohl, Chef, mach ich. Ist ja auch mehr dein Zuständigkeitsbereich, altersmäßig gesehen, meine ich.«

Langsam drehte sie sich zu ihm herum und formte mit spitzen Lippen ein stummes, aber deutliches »Arschloch«.

Links hinter der schweren selbst öffnenden Glastür befand sich der Empfang des Heims, der mit seinem niedrigen Tresen und den hellen Holzmöbeln eher einer Rezeption glich. Paula stellte sich und ihren »Kollegen, Oberkommissar Bartels« vor, worauf eine freundliche Endvierzigerin mit den prächtigsten goldblonden Locken, die sie je gesehen hatte, entsetzt von ihrem Drehstuhl aufsprang.

»Oh mein Gott, ist etwas mit einem unserer Bewohner?«

Jetzt war es Paula, die ihrerseits überrascht war, und zwar so, dass es ihr für einen Moment die Sprache verschlug. Das hatte sie nicht erwartet; sie war davon ausgegangen, Frau Rupp hätte zwischenzeitlich auch den Arbeitgeber ihrer Tochter über das Geschehene informiert, trotz der heftigen Abneigung ihr gegenüber. Schließlich antwortete sie, nachdem sie das Namensschild der Goldblonden, auf dem in großen Buchstaben »Irene Striegel/Verwaltungsleiterin« stand, gelesen hatte.

»Nein, Frau Striegel. Wir sind nicht gekommen, um mit Ihnen wegen eines Ihrer Bewohner zu sprechen, sondern wegen einer Ihrer Mitarbeiterinnen. Vielleicht ist es besser, wenn wir irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können.«

Die Verwaltungsleiterin nickte. »Ich komme gleich, ich muss nur noch den Kollegen Bescheid sagen.«

Während sie warteten, studierte Paula die Tafel mit der Veranstaltungsliste des Heims. Da gab es ein Internetcafé mit monatlich wechselndem Programm, ein Gedächtnistraining wurde angeboten, eine spezielle Rückengymnastik, der Literaturkreis beschäftigte sich derzeit intensiv mit dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch, und der Künstler Sowieso – offenbar ein Bewohner, der sein Atelier hier im Heim hatte – engagierte sich als Interpret seiner Werke, die einer Sonderausstellung gleich im ganzen Haus an den Wänden verteilt hingen.

Schließlich schlüpfte Frau Striegel hinter dem Tresen hervor, führte sie über einen langen Gang mit blauen Bänken, blauen Handläufen und blauem Teppichboden an etlichen großformatigen Bildern und Pflanzenkübeln vorbei zum rückwärtigen Teil. Sie betraten gemeinsam den Innenhof des u-förmigen Gebäudes – ein hübscher, an drei Seiten eingeschlossener Garten, in dem schon die Traubenhyazinthen und Rhododendronbüsche in blauer Blüte standen. Auf der geschützten Terrasse, die sich unter den Balkonen entlangzog, nahmen sie auf schneeweiß gestrichenen eleganten Gartenstühlen aus verzinktem Eisen Platz. Die Mittagssonne schien ihnen direkt ins Gesicht, dennoch war es hier im Freien immer noch frisch.

Irene Striegel sah sie besorgt und mit einer Spur Neugier an. Paula berichtete ihr von dem Mord an der Altenpflegerin Platzer.

Die Verwaltungsleiterin schlug sich die rechte Hand vor den Mund und sagte dann fassungslos: »Das ist ja furchtbar. Ganz furchtbar. Wer tut denn so was Schreckliches?«

»Um das herauszubekommen, sind wir unter anderem hier, Frau Striegel.« Paula überlegte. Durfte sie bei der nun folgenden Befragung ihrer wachsenden Neugier und Ungeduld nachgeben – oder musste sie der kanonischen Fragenliste einer Hauptkommissarin den zeitlichen Vorzug geben? Sie entschied sich kurzerhand für das Naheliegende, für ihre Neugier.

»Wussten Sie, dass Frau Platzer so etwas wie ein Messie war, dass ihre Wohnung bis zur Unbewohnbarkeit vollgestellt war?«

Irene Striegel nickte kurz, bevor sie antwortete. »Gewusst habe ich es nicht, aber geahnt. Sie hat ja niemanden in ihre Wohnung gelassen, wirklich niemanden, nicht einmal Kolleginnen, die sie ihrerseits hin und wieder besuchte, hat sie zu sich nach Hause eingeladen. Also, vermutet haben wir das alle hier.«

»Dann haben wir Aussagen von Zeugen, die sie als extrem geizig schildern. Können Sie auch das bestätigen?«

»Extrem geizig, tja, ich weiß nicht, ob es das trifft.«

Es war der Verwaltungsleiterin anzusehen, wie sie sich bemühte, diesen Spagat zwischen den Erfordernissen der Wahrheit und jenen des Anstands, der verlangt, über eine Tote nur Gutes zu verlautbaren, einigermaßen seriös zu schlagen.

»Aber sparsam war sie auf jeden Fall, nicht eben die Freigiebigste. Wenn wir zum Beispiel bei einem Geburtstag eines Kollegen alle zusammengelegt haben, hat sich Frau Platzer rausgehalten. Sie sagte in solchen Situationen immer, dass die Menschen hier in Mitteleuropa doch schon alles hätten. Oder wenn es um ein Geldpräsent ging, dass ihr das zu schäbig sei, einfach nur Geldscheine zu überreichen.«

»Weiter liegen uns Zeugenaussagen vor, Frau Striegel, dass sich Ihre Mitarbeiterin gemobbt fühlte. So sehr, dass sie schon überlegte, ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Hatte Frau Platzer mit dieser Einschätzung recht?«

»Nein«, lautete die prompte und auch ein wenig empörte Antwort. »Damit hatte Frau Platzer ganz und gar nicht recht. Wobei ich mir aber schon vorstellen kann, warum sie so etwas Unrichtiges Ihren Zeugen gegenüber behauptet hat.«

Wieder überlegte die Verwaltungsleiterin, wie sie bei dem nun Folgenden der offenbar unangenehmen Wahrheit genauso wie dem Respekt gegenüber der Toten die Ehre geben könnte. Doch diesmal musste der Respekt gegenüber der Wahrheit in den Hintergrund treten.

»Der Grund dafür ist wahrscheinlich darin zu suchen, dass sich Frau Platzer geschämt hat. Denn gemobbt wurde sie meines Wissens hier im Haus nicht, aber wir haben ihr mehrere Male die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses nahegelegt.«

»Und warum das?«, fragte Paula.

»Weil sie in letzter Zeit so viele Fehlzeiten zusammengebracht hatte, dass wir …« Irene Striegel unterbrach sich und sah zum Nachbartisch, an dem soeben eine scheinbar alterslose zierliche Dame Platz nahm, die weißen Haare frisch und akkurat onduliert, eine Perlenkette über dem beigefarbenen Rollkragenpullover.

Nach einer Weile fügte sie in deutlich gedämpftem Ton fort: »Wissen Sie, wir haben fünfundneunzig Bewohner, sechsundsiebzig davon im Modell betreutes Wohnen, fünfzehn in der stationären Pflege, der Rest in der Tagesbetreuung. Das ist für ein Seniorenstift wie das unsere viel. Was ich damit sagen will, ist: Wir können es uns auf Dauer einfach nicht leisten, dass unsere Pflegekräfte überraschend und über mehrere Wochen hinweg krankheitsbedingt ausfallen. Zusätzlich zu den üblichen Fehltagen. Frau Platzers Ausfälle konnten wir nur einigermaßen ausgleichen, indem die Kolleginnen und Kollegen immer wieder für sie einsprangen. Das haben diese am Anfang gern getan, aber irgendwann war mit dieser Hilfsbereitschaft Frau Platzer gegenüber auch Schluss.«

»Hat Ihnen Frau Platzer erzählt, was der Grund für dieses häufige Fehlen war?«

»Wir haben sie gefragt, anfangs vorsichtig, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, schließlich deutlicher, aber sie hat immer nur darauf geantwortet: Sie sei nicht verpflichtet, darüber zu reden. Das stimmt auch, das ist beziehungsweise war ihr gutes Recht. Aber ich musste ja auch sehen, wo ich blieb. Immer wieder war ich gezwungen, die komplette Diensteinteilung über den Haufen zu werfen, und das alles nur wegen Frau Platzer. Wenn ich gewusst hätte, was der Grund ihrer häufigen Krankmeldungen war, hätten wir ihr eventuell helfen können. Mit einer längeren Freistellung beispielsweise, damit sie sich gründlich auskuriert hätte und danach wieder voll einsetzbar gewesen wäre. Verstehen Sie?« Das klang wie eine Rechtfertigung.

»Wie viele Fehltage hatte sie denn in letzter Zeit?«

Irene Striegel brauchte keine Sekunde, um darauf zu antworten. »Im letzten Jahr waren es dreiundfünfzig Tage, und in diesem Jahr auch schon wieder achtzehn. In nicht einmal drei Monaten! Da mussten wir handeln.«

Diese Größenordnungen kamen Paula sehr vertraut vor: Das waren Zahlen, die auch Heinrich in einem solchen Zeitrahmen schaffte, und zwar locker schaffte. Sie sah amüsiert zu ihm, der ihrem Blick mit einer gewissen Forschheit standhielt.

»Das heißt: Sie haben ihr die Kündigung in Aussicht gestellt?«

»Ja. Leicht ist mir das nicht gefallen …«

»Und am vergangenen Montag, hatte Frau Platzer da Dienst?«

»Sie hätte Dienst gehabt, war aber wieder mal krankgeschrieben.«

»Mal was anderes, Frau Striegel. Wie viel verdient denn eine einundfünfzigjährige Pflegekraft bei Ihnen so im Schnitt?«

»Die Höhe des Gehalts hat weniger mit dem Alter zu tun. Sondern mehr damit, wie lange jemand in diesem Beruf arbeitet. Bei Frau Platzer waren es knapp zweitausendsiebenhundert Euro.«

Das überraschte Paula. Nach den zahlreichen und kontrovers geführten Diskussionen in den Medien, die auch das mickerige Gehalt von Pflegekräften streiften, hatte sie mit weniger gerechnet.

»Das ist ja ganz ordentlich. Davon kann man doch einigermaßen anständig leben?«

»Na ja, viel ist es nicht«, entgegnete Irene Striegel. »Wenn Sie nur an die körperliche Belastung denken. Das dauernde Heben, Lagern, die ständige Bückerei. Das geht über kurz oder lang auf die Wirbelsäule. Hinzu kommt noch die psychische Belastung, die die körperliche manchmal bei Weitem übersteigt. In diesem Beruf hat man immerzu und ausschließlich mit dem Alter, den Gebrechen und dem Tod zu tun. Das kann man nach Dienstschluss nicht einfach abschütteln, das nimmt man zwangsläufig mit heim. Ich habe immer wieder Mitarbeiter, die das überfordert, die diesen Stress nicht mehr packen. Die mir dann offen ins Gesicht sagen, sie wollten nicht länger täglich nur alte Leute um sich rumhaben. Und ich kann das gut verstehen.«

»Vielleicht war das bei Frau Platzer auch der Fall, dass sie unter einem Burn-out-Syndrom litt, es aber nicht zugeben wollte?«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Irene Striegel sichtlich ungehalten und fast ein wenig ruppig. »Wenn Frau Platzer überhaupt unter etwas zu leiden hatte, dann unter einem Cool-out.«

Auf Paulas fragenden Blick fügte die Verwaltungsleiterin hinzu: »Das ist eine Art Selbstschutz der Seele. Man legt sich ganz bewusst eine harte Schale zu, und dabei bleibt die Empathie ganz und gar auf der Strecke. Das kann natürlich nicht in unserem Sinne sein, dass unseren Pflegekräften das Wesentliche, um ihren Beruf optimal ausüben zu können, fehlt. Eben das soziale Engagement. Es reicht nämlich nicht aus, nur höflich, freundlich und fachlich top zu sein, man muss auch mit den Menschen hier mitfühlen können, ihnen das Alter so angenehm wie möglich machen wollen, das ist eine Grundvoraussetzung, dann erst ist man eine gute Altenpflegerin beziehungsweise ein guter Altenpfleger.«

Die Ausführungen der Verwaltungsleiterin fielen bei Paula auf fruchtbaren Boden: Jetzt empfand auch sie zweitausendsiebenhundert Euro Monatslohn als viel zu wenig für jenes Zuviel, was in diesem Beruf gefordert wurde.

»War Frau Platzer bei Ihren Bewohnern beliebt oder eher nicht?«

»Eher nicht«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen, wurde aber umgehend abgemildert. »Wissen Sie, wir haben es hier mit einer ganz besonderen Klientel zu tun. Auf der einen Seite sind einige unserer Bewohner dankbar, wirklich dankbar für jedes nette Wort, das an sie gerichtet wird. Andererseits gibt es viele, die in erster Linie den Pfleger für ihr Alter und ihre Gebrechen verantwortlich machen. Da genügt schon ein einziges falsches Wort, dann ist es ein für alle Mal aus mit einer gedeihlichen Beziehung. Und Frau Platzer war sehr mit sich beschäftigt. Wenn sie sich ausnahmsweise zu einer Unterhaltung mit unseren Bewohnern entschlossen hatte, dann sollte sich diese auch unter anderem um sie selbst drehen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Paula nickte. Verstand sie doch sehr gut, was die Leiterin ihr damit andeuten wollte. Dass das Mordopfer nicht nur hochgradig geizig und extrem unbeliebt, sondern auch eine Egoistin sondergleichen gewesen war.

»Und davon einmal abgesehen, wie war sie sonst?«, fragte sie weiter. »Erzählen Sie mir doch bitte, welchen Eindruck Sie von ihr hatten.«

Irene Striegel zögerte lange.

»Was soll ich Ihnen da erzählen? Es ist schwierig, einen Menschen zu beschreiben, den man nur an seinem Arbeitsplatz sieht. Im Beruf kennt man meist ja nur eine Seite von ihm. Die andere, die private, kennt man oft nicht so genau. Und privat habe ich Frau Platzer nie erlebt.«

Schließlich kam doch noch eine Beschreibung, wenn auch wieder nur eine auf den Beruf bezogene.

»Jede unserer Pflegekräfte hat einen Generalschlüssel. Das heißt: Sie kommen überall rein, in jedes Zimmer, um im Ernstfall sofort zur Stelle zu sein. Das birgt aber auch gewisse Gefahren oder besser«, die Leiterin suchte nach einem harmloseren Ausdruck und wurde schließlich auch fündig, »Angriffspunkte in sich. Unser Heim steht in dieser Hinsicht Gott sei Dank sehr gut da, aber auch bei uns kommt es vor, dass unseren Mitarbeitern vorgeworfen wird, Geld oder Schmuck entwendet zu haben.«

»Und Frau Platzer gegenüber wurde dieser Vorwurf erhoben?«, fragte sie.

»Ja, leider. Zweimal in den letzten zwei Jahren. Wir sind diesen Vorwürfen natürlich nachgegangen, aber es hat sich herausgestellt, dass daran nichts war. Nicht das Geringste«, betonte Irene Striegel nochmals.

Auch über diese pikante Information machte sich Paula Notizen. Dann stand sie auf und bedankte sich bei der Verwaltungsleiterin mit einem breiten Lächeln für deren Offenheit.

Als sie gemeinsam Richtung Empfang gingen, machte sie Irene Striegel noch ein etwas bemühtes, aber durchaus ernst gemeintes Kompliment, das diese mit einem freudigen Strahlen quittierte.

»Das ist schön, dass Sie das sagen, Frau Steiner. Das nämlich ist auch unser Ziel. Wir wollen weniger ein Heim als vielmehr ein Hotel sein. Mit allen Freiheiten, die es gibt. Wie die eigenen Möbel zum Beispiel, die jeder mitbringen darf, oder der Tatsache, dass unsere Gäste zum Essen kommen und gehen können, wann immer sie wollen. Sie müssen sich nicht dazu anmelden wie in anderen Heimen. Und das Wichtigste für mich ist: Es darf bei uns nicht riechen. Und das tut es anscheinend auch nicht, wenn Sie das schon so nett sagen mit dem Grand Hotel für die Generation sechzig plus.«

Als sie zu ihrem Wagen zurückmarschierten, blieb Heinrich plötzlich stehen.

»Was hältst du davon, Paula, wenn wir zum Platnersberg gehen, uns dort eine freie Bank suchen und uns ein wenig unterhalten, bevor wir ins Präsidium zurückfahren?«

»Das können wir schon machen, aber ich dachte, du bist so hungrig.«

»Jetzt nicht mehr«, lautete die rätselhafte Antwort.

Schweigend gingen sie zu dem weitläufigen Park, der nur einen Steinwurf entfernt von der Terrasse des Philipp-Melanchthon-Heims lag. Sie mussten nicht lange suchen – alle Parkbänke waren frei. Nachdem sie Platz genommen und sich rasch eine Zigarette angezündet hatte, begann Heinrich, der immer noch vor ihr stand, mit der Unterhaltung, um die er gebeten hatte.

»Ich möchte jetzt eine ehrliche Antwort von dir, Paula. Hast du schon jemals darüber nachgedacht, mich loszuwerden, also mich aus deiner Kommission wegzuloben?«

»Hä?«, lautete ihre erstaunte Gegenfrage. »Wieso und warum?«

»Na ja, weil das, was ich an Fehlzeiten zusammenbringe, doch auch über den Durchschnitt hinausgeht. Wie bei der Platzer, der sie deswegen auch kündigen wollten. Oder es schon getan haben.«

Ach das, das hatte sie ganz vergessen. Im ersten Moment war sie drauf und dran, ihm als Revanche für sein »Zuständigkeitsbereich, altersmäßig gesehen« eine entsprechend humorige oder gar ironische Antwort zu geben. Doch da er noch immer vollkommen ernst und mit einem gewissen bangen Gesichtsausdruck vor ihr stand, verkniff sie sich diese einmalige Gelegenheit zum Konter. Dachte stattdessen nach und versuchte sich zu erinnern.

»Nein, nie.«

»Wirklich wahr?«

»Wirklich wahr. Das soll aber nicht heißen, dass mir deine elenden Schwänzwochen immer in den Kram gepasst hätten. Das haben sie nämlich nicht.«

Und da passierte etwas Einmaliges. Heinrich nahm an ihrer linken Seite Platz, legte für einen kurzen Moment seine Hand auf ihre rechte Schulter und sagte dann: »Du bist ein guter Mensch, Paula. Ein richtig guter Mensch, weißt du das?«

Schließlich fügte er noch spöttisch hinzu: »Nicht immer, aber doch sehr oft.«

Dann stand er abrupt auf und sagte: »So, und jetzt spüre ich ihn wieder, meinen großen Hunger. Was meinst du, sollen wir für heute Schluss machen?«

»Hm«, brummte sie zustimmend.

»Du musst mich nicht ins Präsidium fahren, ich nehm gleich die Straßenbahn.«

Ihr war das recht, so konnte sie auf dem Heimweg noch bei einem anderen privaten Seniorenstift vorbeischauen – bei ihrer zweiundachtzigjährigen Mutter und deren fünfzehnjährigem Dackel.

In der nahen Schlieffenstraße wurde sie von der gebrechlicheren Hälfte der Heimbelegschaft empfangen. Max litt seit einigen Monaten unter starker Epilepsie, die mit regelmäßiger Tablettenvergabe im Zaum gehalten wurde. Diese »Hammer-Tabletten«, wie ihre Mutter sie nannte, legten sich allerdings wie ein dunkler Schatten auf das freudige und freundliche, einst allen Menschen und Tieren zugetane Wesen des Rauhaardackels, der das Helle und Sonnige seines Charakters fast unkenntlich machte. So war auch die Begrüßung am Gartentor längst nicht mehr so überschwänglich und herzlich wie früher, eher beiläufig, ja fast schon wurschtig wurde Paulas Kommen zur Kenntnis genommen.

Es war vor allem diese Gleichgültigkeit des Empfangs, die ihr jedes Mal einen derart tiefen Stich ins Herz versetzte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie konnte und wollte sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ihr geliebtes Maxl dabei war, sein kümmerliches Restleben auszusitzen. Dass der Anfang vom Ende gekommen war. Sie holte ihn zu sich, nahm ihn auf den Arm und trug ihn, wieder und wieder sanft über den Kopf streichelnd, ins Haus. In der Diele wurden sie bereits von ihrer Mutter erwartet.

»Am besten ist, Paula, du legst ihn gleich auf das Kanapee. Von selbst kann er da nämlich nicht mehr hinaufspringen. Auch das geht seit letzter Woche nicht mehr.«

Dürre und scheinbar emotionslos vorgebrachte Worte, die den körperlichen Verfall umso eindringlicher dokumentierten. Als sie den Dackel behutsam auf das weiche Sofa, das bis zum Ausbruch seiner Krankheit das letzte Tabu in diesem Haus für ihn dargestellt hatte, ablegte, löste sich eine Träne aus ihrem rechten Augenwinkel und tropfte auf sein linkes Ohr.

»Ich fürchte«, sagte ihre Mutter, die nun hinter ihr stand, »irgendwann müssen wir uns was überlegen.«

Obwohl sie noch nie darüber gesprochen hatten, wusste sie, was damit gemeint war – der Gang zum Tierarzt, der letzte Gang für Max.

»Aber jetzt noch nicht«, wehrte sie heftig ab, »jetzt noch lange nicht. Schau, er hat doch noch Spaß an seinem Leben. Das Essen schmeckt ihm nach wie vor, und wenn er dich in der Früh sieht, freut er sich immer noch so unbändig, genau wie früher, das hast du mir selbst gesagt. Und«, sie dachte intensiv nach, war auf der Suche nach einem weiteren Grund, sich diesem Gedanken nicht stellen zu müssen, »deinen Garten mischt er auch noch gerne auf, auch daran hat sich nichts geändert.«

»Ich hab ja auch nur gesagt: irgendwann«, war alles, was Johanna Steiner darauf entgegnete.

Damit war das Thema »Irgendwann müssen wir uns was überlegen« abgeschlossen. Für beide. Vorerst.

Paula berichtete von ihrem neuen Fall. Ihre Mutter interessierte sich vor allem für ihre Stippvisite im Philipp-Melanchthon-Heim. Wie es da aussähe, ob das Personal freundlich sei und welchen Eindruck die Bewohner auf sie gemacht hätten? Bevor sie antwortete, fragte sie: »Warum willst du denn das so genau wissen, Mama?«

»Ach, das kann schneller aktuell werden, als man meint. Du hast es ja am Maxl gesehen.«

Das war zu viel für sie. Was für ein Scheißtag! Mit solchen Scheißthemen! »Gar nichts hab ich gesehen!«, schrie sie ihre Mutter so laut an, dass sogar der Hund aus seinem Dämmer erwachte, sich mühsam auf dem Sofa aufrappelte und sie beide böse anstarrte. »Was willst denn du im Altersheim? Da hast du noch gar nichts verloren! Das ist doch bloß was für …«

»… alte Leute«, ergänzte ihre Mutter lächelnd. »Und ich mit meinen zweiundachtzig Jahren bin ja noch so jung.«

»Genau, das bist du auch: viel zu jung, viel zu gesund und fit und überhaupt. Mal was anderes, Mama: Kannst du dich eigentlich noch an den Blumen-Rupp in der Breiten Gasse erinnern?«

»Ja, natürlich, sehr gut. Das war damals der erste Blumenladen am Platze. Ein wirklich feines Geschäft. Die hatten alles, sogar meine Mimosen. Die kriegt man ja heute nur noch auf Vorbestellung.«

»Ich weiß. Und die ältere Rupp-Tochter ist jetzt am letzten Montag umgebracht worden. Nein, eigentlich schon vorher, weil man sie …«

»Die Rupp-Tochter, sagst du?«, wurde sie erstaunt unterbrochen. »Hm, so was. Das war ja immer schon seltsam.«

»Was war immer schon seltsam?«

»Na ja, da hat ja damals die ganze Stadt gemunkelt, dass das kein Neun-Monats-Kind sei. Dass das Mädchen sehr abrupt auf die Welt kam und die Rupp sehr plötzlich Mutter wurde. Das Ganze kam für alle ein bisschen überraschend. Denn niemand hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwas von ihrer Schwangerschaft gesehen, und nun hatte sie auf einmal ein Baby. Verstehst du?«

»Nein, verstehe ich nicht. Wollte man damit sagen, dass die Rupp ihrem Mann ein Kind, das nicht seins war, untergejubelt hat?«

»Nein.« Johanna Steiner schüttelte entschieden den Kopf und sah Paula verwundert an. Dass ihre Tochter, immerhin eine Kriminalhauptkommissarin, die doch für ihren Spürsinn und ihr Einfühlungsvermögen bezahlt wurde, aber auch so begriffsstutzig sein konnte!

»Das nicht. Die meisten glaubten halt, dass die Rupps ein Kind adoptiert haben, weil es bei ihnen selbst nicht geklappt hat. Verstehst du jetzt, Paula?«

»Ach so, aber das ist doch nichts, was man verbergen müsste.«

»Damals schon. Damals war das anders. Das war halt was, worüber sich ganz Nürnberg ausgelassen hat. Der stadtübliche Tratsch und Klatsch eben, der bei einigen sogar so weit ging, dass sie etwas noch Delikateres unterstellten. Kannst du dir vorstellen, was das sein könnte?«

»Etwas noch Delikateres?«, wiederholte Paula die rätselhafte Andeutung ihrer Mutter. »Was soll das sein?«

»Also, die Annegret zum Beispiel war felsenfest davon überzeugt, dass die Rupp nicht die Mutter, aber der alte Rupp der leibliche Vater dieses Babys war.«

»Und du, was hast du damals geglaubt?«

»Ich weiß es nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein. Na ja, das ist ja jetzt auch egal. Auf jeden Fall scheint es bei der zweiten Tochter dann ja auf dem üblichen Weg geklappt zu haben. Voller Stolz hat die Rupp ihren Bauch damals im Geschäft vor sich hin und her getragen, damit ihn auch wirklich jeder sieht. Das war schon eine elegante Frau, immer im Kostüm oder Kleid, immer hohe Absatzschuhe, perfekt geschminkt. Sehr auf Haltung bedacht, fast schon ein wenig herrisch. Also damals zumindest. Wie schaut sie denn jetzt aus?«

»Eigentlich so, wie du sie beschrieben hast, nur ein paar Jahrzehnte älter. Aber mal was anderes: Weißt du, wer damals als die leibliche Mutter gehandelt wurde? Oder hast du zumindest eine Vermutung?«

»Nein, ich habe keine Ahnung. Leider.«

Nach guten zwei Stunden verabschiedete Paula sich. Heute liebevoller als sonst. Als sie bereits an der Gartenpforte angelangt war, kehrte sie noch einmal rasch um, nahm ihre Mutter fest in die Arme und sagte ihr leise ins Ohr: »Und außerdem bin ich ja auch noch da.«

Damit machte sie endgültig kehrt und fuhr zurück Richtung Innenstadt.

Als sie bereits am Rathenauplatz angelangt war und auf das Grün der Ampel wartete, wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu dem Seniorenstift mit seinem von ihr so hochgelobten Hotelcharakter. Warum hatten Heinrich und sie eigentlich nicht gleich im Anschluss nach dem Gespräch mit Frau Striegel die beiden Bewohner befragt, die Elvira Platzer des Diebstahls bezichtigt hatten? Wahrscheinlich weil sie – wie die meisten Menschen – froh waren, das Heim auf dem schnellsten Weg wieder verlassen zu können. Trotz der vielen Freiheiten, die es dort gab. Sie wendete und fuhr dahin zurück, woher sie gekommen war. In die Eichendorffstraße.

Forsch trat sie an den Empfangstresen des Philipp-Melanchthon-Heims. Frau Striegel sah fragend zu ihr.

»Kann ich Ihnen helfen, Frau Steiner?«

»Ja«, lautete die knappe Antwort. »Es geht um die beiden Herrschaften, die damals angaben, von Frau Platzer bestohlen worden zu sein.«

»Oh«, sagte Irene Striegel erschrocken, »aber Sie wollen doch nicht etwa …?«

»Doch, ich will und ich muss. Also, wie heißen die zwei Personen, und wo kann ich sie finden?«

»Ich weiß nicht, ob das jetzt möglich ist. Es ist bald Essenszeit, da wollen wir unsere Bewohner vorher nicht unnötig in Aufregung versetzen.«

»Das muss aber möglich sein. Andernfalls muss ich die beiden Polizeibeamten, die draußen auf mich warten, bitten, die für uns so wichtigen Zeugen ins Präsidium zu überstellen. Ich wollte Ihnen und auch den Bewohnern da entgegenkommen, Frau Striegel. Aber es geht auch anders.«

»Nein, dann besser doch hier. Wobei Sie Frau Andernach nicht mehr befragen können, die ist letztes Jahr verstorben. Das geht nur noch bei Herrn Schneider-Sörgel. Ich werde ihn anrufen und Sie avisieren. Einen Augenblick.«

Zehn Minuten später stand sie vor dem Zimmer ihres »wichtigen Zeugen«. Wilhelm Schneider-Sörgel erwartete sie bereits. Ein hochgewachsener Mann mit kerzengerader Haltung und fein geschnittenem Gesicht. Schmale Lippen, gerade Nase, blaue Augen und nackenlange graubraun melierte Haare. Braunes Sakko und braune Lederschuhe. Am meisten faszinierte sie der Seidenschal in rot-blauem Paisley-Muster, den der alte Mann lässig über die Schultern gelegt hatte.

»Sie also sind die Hauptkommissarin Steiner, die mich zu so später Stunde noch sprechen möchte.« Seine Stimme war so leise wie ausdruckslos.

»Ja, tut mir leid, Herr Schneider-Sörgel, dass ich Sie jetzt noch stören muss. Aber wir von der Polizei können uns halt auch nicht immer die Zeiten aussuchen, die unseren Zeugen genehm wären.«

»Dann zeigen Sie mir doch mal Ihren Ausweis, damit ich Sie auch identifizieren kann.«

Sie überreichte ihm das Gewünschte. Nach einem flüchtigen Blick darauf machte er einen Schritt zur Seite und ließ sie eintreten. Ein großer, heller Wohnraum mit einer kleinen Sitzgruppe, einem gemütlichen Ledersessel und einem Flachbildschirm an der Wand. Vor dem gardinenlosen Fenster eine Staffelei mit der fast fertigen Ölzeichnung eines Kleinkindes. Schneider-Sörgel wartete, bis sie auf einem der beigefarbenen Stühle mit hoher Lehne Platz genommen hatte, dann setzte er sich ihr gegenüber.

»Ach, Sie sind der Künstler des Hauses, dessen Bilder hier überall verteilt hängen. Sie bieten ja auch Führungen an.«

»Keine Führungen, Frau Steiner. Es handelt sich dabei um eine Exegese meiner Werke, um Erklärungen und Interpretationen. Und jetzt mal los, fragen Sie.«

»Ich bin wegen Frau Platzer da. Sie wurde vergangenen Montag in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden.«

Er quittierte diese Nachricht mit einem millimeterkurzen Heben und Senken der Achseln. »Und jetzt wollen Sie wissen, ob ich der Mörder bin und ob ich für die Tatzeit ein Alibi habe?«, sagte er lächelnd und mit einer Stimme, die jede Betroffenheit vermissen ließ.

Sie schüttelte ebenso lächelnd den Kopf. »Nein. Es geht um etwas anderes. Sie selbst wurden von Frau Platzer bestohlen, wie man uns mitgeteilt hat. Vielleicht mag Ihnen das jetzt merkwürdig vorkommen, was das eine – der Mord – mit dem anderen – dem Diebstahl – zu tun hat, aber ich …«

»Nein«, unterbrach er sie, »das kommt mir nicht merkwürdig vor. Sie werden schon wissen, was Sie machen und warum Sie danach fragen. Ja, das ist richtig. Frau Platzer hatte mir Geld und einen Brillantring gestohlen.«

»Erzählen Sie mir doch bitte mehr dazu. Wie es dazu gekommen ist. Und auch, warum Sie Ihre Anzeige anscheinend wieder zurückgezogen haben. Denn Frau Striegel sagte mir …«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Zuerst, zwei Jahre ist das mittlerweile her, fehlte der Ring, das einzige Erbstück von meiner Mutter. Ich habe eine kleine Schmuckschatulle, in der ich auch meine Krawattennadel und den Siegelring aufbewahre. Nun gut, dieser Ring war also eines Tages weg. Und da ich wusste, dass dafür nur eine Person in Frage kommt, habe ich Frau Platzer daraufhin angesprochen. Sie hat die Tat jedoch vehement abgestritten. Da blieb mir nichts anderes übrig, als ihr eine gründliche Hausdurchsuchung in Aussicht zu stellen, falls der Ring nicht schnellstens wieder in seiner Schatulle läge. Und raten Sie mal, was ich am Tag darauf in meiner Serviettentasche am Frühstückstisch gefunden habe?«, stellte er die rhetorische Frage.

»Den Ring. Und der Gelddiebstahl? Wie sind Sie da auf Frau Platzer als Tatverdächtige gekommen?«

»Ich brauchte dringend eine neue Herzklappe und habe mich zu diesem Behufe letztes Jahr ins Martha-Maria-Krankenhaus einliefern lassen. Das ging damals alles ein wenig hopplahopp, sodass ich in der Eile vergessen habe, meine Kreditkarte, eine MasterCard Gold, mit in meine Ausweismappe zu nehmen, die ich stets in solchen Fällen bei mir trage. Die lag, wie sie das für gewöhnlich tut, in jener Zeit also noch in meinem Nachtkasten. Und darunter, und da werden Sie über meine Nachlässigkeit jetzt sicher lachen, Frau Steiner, der Zettel mit der PIN-Nummer. Ich weiß natürlich, dass man beides immer strikt getrennt voneinander aufbewahren soll. Aber gehalten habe ich mich nicht daran. Eine Dummheit des Alters, die Sie mir verzeihen mögen.«

Nach einer längeren Pause fuhr er fort.

»Tja, und nach meiner Rückkehr ins Stift musste ich feststellen, dass sich in der Zwischenzeit jemand von diesem Konto zweimal kräftig bedient und dabei jeweils den Verfügungsrahmen von fünftausend Euro voll ausgenutzt hatte. Den Diebstahl bemerkte ich natürlich erst, als ich die Kontoauszüge erhielt und dabei auf die verdächtigen Abbuchungen stieß, mithin viel später. Mitte Juni fehlten dann auf dem Konto summa summarum zehntausend Euro.«

»Das ist bitter«, kommentierte Paula diesen emotionslos vorgetragenen Rapport.

Schneider-Sörgel zuckte mit den Schultern, als sei das nicht so tragisch, wie es sich vielleicht anhören mochte. »Jetzt war guter Rat teuer, im wahren Sinn des Wortes. Ich habe mir dann etwas einfallen lassen, das mir passend erschien und das letztendlich auch hochgradig wirksam war.«

»Darf ich fragen, was das war?« Paula war neugierig geworden.

»Dürfen Sie. Ich weiß, dass es in den Banken Überwachungskameras gibt, die rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche, Aufzeichnungen von den Bankkunden vor diesen Automaten machen. Zudem kannte ich von den Kontoauszügen ja auch die Tage inklusive der bis auf die Minute genauen Uhrzeit, wann sich dieser Jemand an meinem Geld zu schaffen gemacht hatte. Und mit eben diesem Wissen habe ich alle Pfleger und Pflegerinnen, die für diesen Diebstahl in Frage kamen, konfrontiert. Es war dann nur Frau Platzer, die nicht wollte, dass ich dieses Wissen«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Lächeln, »an die Polizei weitergab.«

»Das haben Sie gut gemacht.« Sie lächelte Schneider-Sörgel gespielt bewundernd an.

Er erwiderte das Lächeln und schob nach: »Wir haben uns dann schnell geeinigt, Elvira und ich. Ich bekam mein Geld zurück. Plus einen ganz ordentlichen Ausgleich für die Scherereien, die ich deswegen hatte.«

Paula horchte auf. »Sie nannten Frau Platzer gerade beim Vornamen?«

»Wir sprechen die Pflegekräfte hier mit dem Vornamen an, ein hausinterner Usus, den ich nach diesem Vorfall natürlich aufgegeben habe. Aber manchmal erliege ich noch, wie Sie gerade bemerkt haben, dieser Macht der Gewohnheit. Und sollten Sie mich nun fragen, warum Frau Platzer das getan hat … Es mag für Sie simpel klingen, aber ich habe keine bessere Erklärung für ihr Verhalten als die, dass Gelegenheit Diebe macht. Ein Sprichwort, das so einfach wie wahr ist. Und nun möchte ich Sie bitten zu gehen. Ich würde gern mein Abendessen einnehmen.«

Damit erhob sich Schneider-Sörgel und ging, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die Tür seines Appartements zu. Er öffnete sie schwungvoll und blieb abwartend stehen. Sie trat auf ihn zu. Noch bevor sie den Dank für sein Entgegenkommen und ihre Entschuldigung für die späte Störung ausgesprochen hatte, schloss sich die Tür von innen.

Jetzt hatte sie es eilig, nach Hause zu kommen. Im Vestnertorgraben angelangt, marschierte sie zielstrebig in den Keller und entnahm dem untersten Fach ihres Weinregals die Flasche, die ihr vor einiger Zeit irgendwer zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wer das gewesen war, wusste aber noch, dass dieser Blanc de Garance aus der Provence vom Weingut Rouge Garance des französischen Schauspielers Jean-Louis Trintignant stammte. Dass sie diesen Wein bislang verschmäht hatte, lag an ihrer grundlegenden Skepsis. Sie war der Überzeugung, dass solche Eigenanbauten von irgendwelchen abgehalfterten Schauspielern oder Politikern im Rentenalter nichts taugten und nur eine Art selbst gewählte Beschäftigungstherapie waren. Genau wie es unter Exschauspielerinnen und Exfotomodels und Exgeliebten Mode geworden zu sein schien, sich jetzt auf die Kreation von Parfüms und Handtaschen zu verlegen.

Mit einem kleinen Rest dieses Misstrauens öffnete sie die Flasche, nahm den ersten Schluck und war – angenehm überrascht. Dieser Weißwein war nicht schlecht, und er wurde mit jedem Schluck besser. Voller, fruchtiger, blumiger. Und eigenwilliger, richtig gut. Das genügte ihr als Abendmahl.

Es wurde ein kurzer Feierabend im Vestnertorgraben, bereits um halb zehn lag sie in ihrem Bett und schlief sofort, noch bevor sie sich auf ihre linke Schlafseite drehen konnte, weinselig ein.

Hunger und Durst weckten sie frühzeitig am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf. Noch bevor sich ihr Stalker zu Wort melden konnte, sprang sie aus dem Bett, lief in die Küche und schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Sie nahm sich nach einem kurzen deprimierenden Blick in den Kühlschrank erneut vor, heute endlich für eine ebenso reichliche wie exquisite Vorratshaltung zu sorgen.

An diesem Tag betrat Paula Steiner bereits um Viertel vor acht das Präsidium, nachdem sie unterwegs noch die Zeitungen gekauft hatte. Der Mord in der Eichendorffstraße hatte es in allen vier Ausgaben nur zu einer kurzen einspaltigen Notiz gebracht; das würde für Reaktionen aus der Bevölkerung nicht langen, war ihre Überzeugung.

Sie fing an, sich eine Reihe von Dingen zu notieren, die sie demnächst erledigen wollte. Beim hiesigen Jagdverein nachfragen, was es mit diesem Nicker auf sich hatte. Außerdem sollte der ihr auch die Liste von all denjenigen, die im Großraum Nürnberg einen gültigen Jagdschein besaßen, zukommen lassen.

Dann wollte sie die Frage klären, wer die leibliche Mutter von Elvira Platzer war, wenn denn die Informationen ihrer Mutter stimmten. Darunter schrieb sie: »Stöbern/Eichendorffstr.«. Das Beste, das mit dem größten Spaßfaktor, hatte sie sich für den Schluss aufbewahrt.

Zuerst überprüfte sie die »delikaten« Aussagen ihrer Informantin Johanna Steiner. Das war einfach. Schon zehn Minuten später hatte sie es schwarz auf weiß, dass diese mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte: Die leibliche Mutter von Elvira Platzer war nicht Apolonia Rupp, sondern eine gewisse Gertraude Klemm, 1942 in Fürth geboren, 2009 im Alter von siebenundsechzig Jahren in Nürnberg gestorben. Also war sie gerade mal neunzehn und ledig gewesen, als sie Elvira auf die Welt brachte. Beides zusammengenommen – das Alter und den Familienstand – war wohl auch der Grund gewesen, warum sie ihre Tochter zur Adoption freigegeben hatte.

Da Heinrich noch auf sich warten ließ, wählte sie anschließend die Nummer des Nürnberger Jagdschutz- und Jägerverbands e.V. Die wortreichen Auskünfte, die sie dort erhielt, bestätigten nur das, was sie schon wusste: dass Nicker aus der Mode gekommen waren und dass deren waidgerechte Handhabung Erfahrung und Geschick zugleich erfordert.

Als sie nach der Mitgliederliste fragte, erfolgte die Gegenfrage: »Wofür brauchen Sie die?«

»Für die Aufklärung eines Mordfalls«, antwortete sie kühl. Nach einer Kunstpause am anderen Ende der Leitung versprach man, ihr die Namen aller Vereinsmitglieder noch heute zu faxen.

»Mailen geht wohl nicht?«

»Die Mitgliedschaft in unserem Verband ist nichts, was sich für die öffentliche Zurschaustellung in einem internationalen Forum eignet«, lautete die rätselhafte Antwort.

Anschließend rief sie bei dem Exehemann der Toten an. Erst beim sechsten Klingeln meldete sich eine schlaftrunkene Stimme.

»Ja, Platzer Erwin hier. Wos is?«

Sie war von dieser Stimme sofort entzückt – ein ungemein männliches Brummknödeln, das sie schon lang nicht mehr gehört hatte und das aus der Tiefe einer unendlich weiten Brust zu kommen schien. Sie stellte sich vor, erläuterte den Grund ihres Anrufs und fragte, wann sie mit ihm über seine Exfrau sprechen könnte.

Eine Zeit lang hörte sie nichts von diesem verheißungsvollen warmen Brummknödeln. Sie wiederholte ihre Frage.

»Ich weiß gar net, ob ich das glauben soll, Frau Steiner. Steiner war doch Ihr Name, gell? Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass jemand die Elvira umbringt. Warum auch? Die hat doch nix. Und Sie sind sich ganz sicher, dass die tote Frau wirklich die Elvira, also meine Ex, die Frau Platzer ist?«

»Ja, wir sind uns ganz sicher, dass das Ihre Exfrau ist, Herr Platzer.«

»Trotzdem, irgendwie fehlt mir dafür die Vorstellungskraft, dass ausgerechnet …«

»Wenn ich Sie geweckt haben sollte, tut mir das leid.«

»Das passt schon. Sie haben ja einen wichtigen Grund. Darf ich sie sehen?«

»Die Leiche? Ja, natürlich. Aber Sie müssen sich das nicht antun. Identifiziert hat sie schon eine Nachbarin.«

»Trotzdem, ich möchte sie sehen. Vielleicht kann ich es dann glauben.«

Sie kamen schnell überein, sich um zehn Uhr vor dem Gerichtsmedizinischen Institut in der Tetzelgasse zu treffen.

Eine Stunde später traf Heinrich im Büro ein. Sie erzählte ihm rasch von ihren neuen, gestern Abend gewonnenen Informationen und dem bevorstehenden Termin.

»Und das mit der Adoption, das stimmt auch? Woher hast du denn das?«

»Aus bestens unterrichteten Kreisen der Nürnberger Gesellschaft.« Als Dreingabe zu diesen hohlen Worthülsen schenkte sie ihm ein breites Lächeln in der Hoffnung, dass ihm diese unverbindliche Antwort genügte.

»Also von deiner Mutter. Dann wird es auch stimmen.«

Er wartete ihre Bestätigung nicht ab, sondern fragte stattdessen: »Sag mal, müssen wir uns dann nicht langsam auf den Weg machen, wenn wir um zehn diesen Termin haben? Wir gehen doch zu Fuß, oder?«

»Diesen Termin haben nicht wir, sondern ich. Du kannst dich derweil ja schon mal um die Konteneinsicht kümmern. Wir brauchen Einsicht für den Schwager der Toten, ihre beiden Nichten, für die Rupp …«

»Du glaubst doch nicht, dass die alte Frau damit was zu tun hat?«

»Möglich ist alles. Und wir benötigen auch die Konteneinsicht für den Exmann, für Herrn Platzer. Kümmerst du dich darum?«

»Ja, natürlich.«

»Und was du noch machst: uns bei dem Schwiegersohn der Rupp und ihren Enkelinnen anmelden. Obwohl … Ich glaube, es ist besser, wenn wir die hier einbestellen. Denn ich fürchte, die sind genauso schwierig zu handeln wie unsere Apolonia. Ach, mach, wie du meinst. Anmelden oder vorladen, mir egal.«

»Aber so ein paar Telefonate dauern doch keine Stunden, Paula, das ist doch gleich erledigt. Ich kann mit dir gehen. Gestern hast du noch gesagt, wir arbeiten alle Termine gemeinsam ab.«

»Gestern war gestern, und heute ist heute. Außerdem sind die Zeitungen voll mit unserem Doppelmord, da können wir es uns nicht leisten, dass das Telefon so lange unbesetzt ist.« Und außerdem, was der eigentliche, der wahre Grund war, wollte sie dieses hoffnungsvolle Brummknödeln für sich allein haben. Heinrich würde da nur stören.

Gleichzeitig war sie überrascht, wie einwandfrei ihre Reproduktion der hierarchischen Befehlsstrukturen des Kollegen Trommen funktionierte. Denn auf diese klare Order erfolgte nämlich kein verbaler Widerspruch mehr, Heinrich schien sich ihr und damit auch ihrem neuen Führungsstil zu fügen. Wenn auch widerwillig, wenn sie sein nun betont angeödetes und muffiges Gesicht richtig deutete.

Auf dem Weg zur Gerichtsmedizin bedauerte sie ihre nonchalante Kleiderwahl von heute Morgen. Herrn Platzer wäre sie lieber in einer knackigen figurbetonten Jeans oder einem schmalen damenhaften Rock begegnet statt in der labbrigen, stellenweise ausgebeulten Bundfaltencordhose und den flachen Schnürschuhen, die sie trug. Das Problem war nur – alles, was auch nur annäherungsweise knackig oder schmal war, eignete sich derzeit ausgesprochen schlecht, ihre Figur zu betonen. Dafür hatte sich in letzter Zeit einfach zu viel Speck auf den Hüften angesammelt. Und die Aussichten, dieses ungeliebte Hüftgold wieder loszuwerden, schienen nicht rosig, wenn man ihrer Mutter glauben wollte. Die nämlich vertrat die Anschauung, dass man ab einem »gewissen Alter« zur Quadratur neigte und diese »z’sammag’stauchte« Körperform allen Anstrengungen zum Trotz beibehalten werde. War sie schon in diesem »gewissen Alter«?

Eine Viertelstunde vor zehn bog sie in die Tetzelgasse ein. Schon von fern sah sie Erwin Platzer vor dem Gerichtsmedizinischen Institut rauchend auf und ab gehen. Ein riesiger Kopf auf einem kurzen Hals, eine untersetzte, kräftige Statur, ein respektabler Bauchansatz, das musste er sein. Von Weitem hatte er große Ähnlichkeit mit dem Bud Spencer der siebziger, achtziger Jahre.

Als sie ihm schließlich gegenüberstand und ihm die Hand reichte, vertiefte sich ihr unverbindliches Allerweltslächeln unwillkürlich und wurde sehr verbindlich. Was für ein Mann! Vollbart, nass zurückgekämmte glatte Haare, die sich hinten im Nacken kräuselten, minimalistische Mimik und ein müdes Gesicht mit wachen Augen. Ein Auslaufmodell jener altmodischen Männlichkeit, für die sie schon als junge Frau eine Schwäche gehabt hatte.

»Guten …« Zudem verfügte Erwin Platzer auch über eine dermaßen enorme physische Präsenz und Direktheit, dass ihr für den Bruchteil einer Sekunde die Stimme wegkippte. Sie räusperte sich. »… Morgen. Das hätte ich nicht gedacht, dass Sie so überpünktlich da sind. Ich habe Sie doch heute früh aus dem Schlaf gerissen, oder?«

»Schon, ja. Wissen S’, ich bin Busfahrer und hab derzeit die Nachtschicht. Da komm ich vor halb zwei net ins Bett. Und steh entsprechend spät auf.«

Sie betraten das Gebäude, wobei Platzer ihr den Vortritt ließ. Ohne jede galante aufgesetzte Geste, aber mit einer großen Selbstverständlichkeit. Frieder Müdsam kam ihnen entgegen. Sie sagte ihm, dass Herr Platzer sich bereit erklärt habe, seine tote Exfrau zu identifizieren.

»Aber das hat doch schon die Nachbarin gemacht, diese Frau …«

»Vogel«, ergänzte sie. »Ja, aber wir befinden es für besser, wenn das zur Sicherheit ein nahestehender Angehöriger wiederholt.«

»Wenn das so ist, na gut. Herr Platzer, möchten Sie, dass Frau Steiner dabei ist, wenn Sie den Leichnam identifizieren?«

»Nein, das braucht’s net. Das mach ich allein.«

Während die beiden Männer nach hinten in die Leichenkammer verschwanden, nahm Paula auf der einfachen Holzbank Platz, dem einzigen Sitzmöbel in dem riesigen Entree des Instituts. Warum hatte Elvira Platzer einen solchen Mann ziehen lassen? Oder gab es einen anderen, einen nachvollziehbareren Grund für die Trennung der Eheleute Platzer als den der Sammelwut? Das wollte sie wissen, und sie würde ihn danach fragen, ohne falsche Rücksichtnahme.

Als Platzer ohne Müdsams Begleitung in die Vorhalle zurückkehrte, hatte sein noch vor wenigen Minuten fahles Gesicht eine ungesunde Röte angenommen. Er eilte, ohne sie zu beachten, nach draußen, blieb auf den Stufen abrupt stehen und kramte ein verknittertes Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche hervor. Nachdem er ein Streichholz angerissen und sich eine filterlose Reval angezündet hatte, blies er den Rauch durch die Nase aus und murmelte: »Wer tut so was? Das möcht ich wissen. Und wenn ich’s weiß, dann dreh ich der Drecksau den Hals um.«

Paula, die ihm nachgeeilt war und jetzt zwei Stufen über ihm stand, antwortete: »Das wollen wir auch wissen, Herr Platzer. Und wir werden es herausbekommen, das verspreche ich Ihnen. Es ist besser, Sie überlassen uns das.«

Jetzt erst schien er sie wahrzunehmen. Er drehte sich zu ihr um. »Haben Sie sie gesehen?«

Sie nickte. »Ja, natürlich.«

»Haben Sie schon einmal einen Menschen gesehen, der so übel zugerichtet war?«

Erneutes Nicken. »Ja, und noch schlimmer.«

Er sah sie erstaunt an. »Gibt’s das, noch schlimmer zugerichtet als Elvira?«

»Ja, das gibt es. Herr Platzer, wollen wir uns nicht hier irgendwo in ein Café setzen und reden? Oder haben Sie jetzt keine Zeit?«

»Ich hab Zeit. Und selbst wenn ich keine hätte, dann wäre mir das auch egal.«

Schweigend und mit großem Abstand zueinander liefen sie die Tetzelgasse hinab, bogen rechts in die Theresienstraße und steuerten auf das nächstbeste Stehcafé zu. Obwohl es nieselte, wollte Platzer seinen Kaffee im Freien, an einem der hässlichen runden Plastiktische trinken.

»Zum Kaffee brauch ich eine Zigarette, sonst schmeckt er mir nicht.« Eine Argumentation, der sie sich gerne anschloss.

Als schließlich zwei dieser üblichen unansehnlichen klobigen Becher vor ihnen standen, legte sie Block und Kugelschreiber auf den feuchten Tisch und begann ihre Befragung.

»Sie leben zwar schon einige Jahre von Ihrer Frau getrennt, aber vielleicht können Sie mir dennoch ein paar Namen von Freunden oder Bekannten nennen, mit denen sie – außer ihrer Familie – regelmäßig Umgang pflegte?«

Er sah erstaunt von seinem Becher auf. »Warum wollen Sie das wissen? Das hat doch nix mit dem Mord zu tun.«

Eine Gegenfrage, die sie sonst hellhörig und ungehalten werden ließ, die sie ihm aber nachsah. So antwortete sie: »Weil wir das immer fragen, um alle Eventualitäten auszuschließen.« Eine Plattitüde, die Platzer aber als Begründung zu genügen schien.

»Wissen S’, Frau Steiner, viel Kontakt haben Elvira und ich nicht mehr gehabt. Sie wollte das nicht. Ich schon, ich hätte mich gern auch weiterhin mit ihr getroffen, sie ab und zu gesehen oder auch bloß mit ihr telefoniert. Bloß wohnen wollte ich nicht mehr bei ihr. Das ging nicht.«

Nach einem verständnisvollen Nicken wiederholte sie ihre Frage. »Also wissen Sie nichts von Frau Platzers Freunden beziehungsweise Bekannten?«

Die Antwort ließ lange auf sich warten.

»Wissen tu ich es nicht, da haben Sie schon recht. Aber ich glaube, Elvira hatte niemanden, keine Freundin oder so was in der Richtung. Das hatte sie früher, als wir noch zusammenlebten, auch nicht. Wir haben ganz allein gelebt, nur für uns, damals schon. Wenn ich mich mit jemandem treffen wollte, musste ich das außer Haus machen. In die Wohnung konnte man ja keinen mehr hereinlassen. Und warum sollte das jetzt anders geworden sein? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Würden Sie mir freundlicherweise beschreiben, wie Ihre Exfrau war? Welchen Charakter sie hatte, was ihr wichtig war und was nicht?«

»Elvira war im Grunde ein ganz lieber Mensch«, antwortete Platzer, wieder nach einer längeren Pause. »Die hat alles für einen gemacht, wirklich alles! Wenn sie helfen konnte, hat sie geholfen. Und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Über alles. Auf der anderen Seite war sie aber auch sehr empfindlich, nicht nur gegenüber anderen, auch bei sich selbst. Sehr empfindlich, sensibel eben. Fast schon ein wenig kompliziert. Ihr dumm daherkommen durfte man nicht, da war sie tagelang beleidigt. Aber das ist ja auch kein Wunder bei den Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen ist.«

»Warum, welche Verhältnisse meinen Sie?«

»Sie haben doch sicher schon mit Elviras Mutter gesprochen, oder?«

Sie nickte.

»Dann wissen Sie ja, was sie durchmachen musste. Elvira hat keine schöne Kindheit und Jugend gehabt. In ihrem Elternhaus gab es nur eine Person, um die sich alles drehte. Ihre Schwester Claudia. Elvira war eigentlich nur ein besseres Dienstmädchen, das nichts zu melden hatte.«

»Aber von ihrem Vater wurde sie doch geliebt, schließlich hat er ihr die Eigentumswohnung vererbt und nicht seiner anderen Tochter oder seiner Frau.«

»Ach, der hatte doch, genau wie Elvira, zu Lebzeiten nichts zu melden. Das Regiment im Haus Rupp hat nur die Alte gehabt, dieser Drachen. Und das mit der Wohnung war bloß eine Art Rache von ihm, um den beiden anderen Weibern eins auszuwischen.«

»Diese Rache hat offensichtlich gut funktioniert. Ich hatte den Eindruck, dass Frau Rupp ihrem Mann diese Erbschaft nicht verziehen hat. Genauso wenig wie sie Elvira verziehen hat, dass sie das Erbe schließlich auch angetreten und nicht mit ihr geteilt oder es ihr – noch besser für Frau Rupp – ganz überlassen hat.«

»Na«, schnaubte Erwin Platzer empört und im tiefsten Bass, »da wär sie aber schön blöd gewesen. Und dumm war Elvira nicht, gutmütig ja, aber nicht dumm.«

»Sie sprechen immer noch sehr liebevoll über Ihre Exfrau. Darf ich Sie fragen, was der ausschlaggebende Grund war, dass Sie sich damals von ihr getrennt haben? Oder sie sich von Ihnen?«

Erstaunt sah er sie an. »Eigentlich haben wir beide eingesehen, dass es mit uns so nicht weitergeht. Die letzten zwei Jahr hab ich mich schon gar nicht mehr nach Haus getraut. Es wurde immer schlimmer. Jeden Tag war mindestens ein neues Trumm da und am nächsten Tag wieder eins und noch eins … Sie können sich das nicht vorstellen, wie das ist, wenn jemand alles sammelt, was er irgendwo findet, auch in der Mülltonne hat sie rumgekramt, und aufhebt und nichts hergeben will. Und dabei so stur ist, nicht zum Einlenken zu bewegen. Durch nichts.«

Resigniert starrte er auf seinen Kaffeebecher.

»Gegessen haben wir in der Küche. Im Stehen. Geschlafen hab ich auf der Luftmatratze in der Diele, Elvira in ihrem Sessel. Und dann kam der Tag, als ich die Beherrschung verloren hab. Elvira hatte mir noch am Morgen versprochen, Ordnung zu machen. Ganz fest versprochen hatte sie es mir. Doch als ich heimkam, war alles wie sonst. Nichts hatte sich geändert. Und da hab ich dann aufgeräumt. Angefangen hab ich in der Küche. Alles, was mir in die Finger kam, gepackt und an die Wand geworfen. Weiter ging’s im Bad und von da aus im Schlafzimmer. Dort stand aber schon Elvira im Türrahmen und wollte mich nicht reinlassen. Im Schlafzimmer hat sie nämlich ihre größten Schätze aufgehoben, in einer Plastiktüte unter ihrem Sessel. Da war ich ganz kurz davor, dass ich ihr …« Er stockte und blickte ins Leere.

Nach einer Weile fuhr er fort. »… dass ich ihr eine schmier. Und zwar eine gewaltige. Und nicht nur eine. Dass ich ihr gegenüber mich nicht mehr im Griff hab. Das wollte ich nicht. Also bin ich gegangen. Eine Zeit lang hab ich bei einem Kumpel gewohnt, bis ich eine Wohnung gefunden hatte.«

»Und seit diesem Tag haben Sie sich nicht mehr gesehen?«, fragte Paula, die Verständnis für seinen Kontrollverlust hatte, es aber nicht zeigen wollte.

»Nein. Kein einziges Mal.«

Zum Abschluss musste sie ihm noch eine unangenehme Frage stellen, wusste aber nicht, wie sie diese anbringen sollte, ohne ihn zu kränken.

Doch sie sah keinen anderen Weg als den direkten, den unmissverständlichen, den mit dem hohen Verletzungsrisiko.

»Frau Platzer wurde am vergangenen Montag, in der Nacht gegen Viertel nach elf umgebracht. Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?«

»Ah, Sie wollen wissen, ob ich ein Alibi habe«, stellte er ohne beleidigten Unterton fest. »Ich hab eins, und zwar das allerbeste, was man sich denken kann. Ich war mit dem Stadtbus in Nürnberg unterwegs. Die 36er Linie, vom Plärrer zum Doku-Zentrum und retour. Nachtschicht, Dienstbeginn achtzehn Uhr dreißig, Dienstende offiziell null Uhr dreiundvierzig am Plärrer. So steht es im Linienfahrplan, das können Sie jederzeit überprüfen. Und nachts werden die Fahrpläne auf die Minute eingehalten. Es ist ja wenig los auf den Straßen.«

Gutmütig, sensibel, hilfsbereit – in den vergangenen fünfzehn Minuten war aus Heinrichs geizigem und habgierigem »Herzchen«, aus der unbeliebten und egozentrischen Mitarbeiterin von Frau Striegel ein anderer Mensch geworden. Einer mit vielen Facetten und vor allem einer mit einer Vergangenheit, die wahrscheinlich so bewegend für die Tote wie aufschlussreich für ihre, Paula Steiners, polizeiliche Arbeit war. In diesem Moment ahnte sie, dass sie tief hinabsteigen musste in das Leben der Elvira Platzer. Und ebenso bewusst war ihr, dass dies nicht nur im übertragenen Sinn zu bewältigen war. Sondern auch im ursprünglichen, im wörtlichen Sinn – sie würde in dieser vollgemüllten Wohnung jedes Blatt einzeln in die Hand nehmen müssen, keinen Stein auf dem anderen lassen dürfen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.