2

Eine halbe Stunde später hatte Paula das Präsidium am Jakobsplatz erreicht, den Wagen auf dem Hinterhof geparkt, sie war in die Teppichetage hochgestiegen und stand nun vor dem Chefsekretariat ihres Vorgesetzten, Kriminaloberrat Karl Fleischmann. Artig klopfte sie an die Tür und wartete auf Einlass. Auf diese unmöglich schrille, kieksige Stimme der ihr widerwärtigen Reußinger. Sie musste sich fast eine geschlagene Minute in Geduld üben, nochmals in aller Demut an die Tür klopfen, dann endlich …

»Herein!«

»Guten Tag, Frau Reußinger. Ich komme Ihnen sicher ungelegen. Aber ich fürchte, es ist nicht zu vermeiden: Ich muss Sie um einen schnellen Termin bei Ihrem Chef bitten.«

Taktische Pause, von einem bitteren und im Ansatz schuldbewussten Lächeln untermalt.

»Es geht um, tja, ich muss es wohl so nennen: einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Dienstvorschriften …«

Erneute Pause. Sie hatte die Chefsekretärin während ihrer sorgsam einstudierten Rede beobachtet und erkannte in deren noch unentschlossenem Gesicht, dass sie noch ein Scheit Holz in das glimmende Feuer würde legen müssen, um möglichst schnell an ihr Ziel, das heißt: in Fleischmanns Büro, zu kommen.

»… den ich Herrn Fleischmann beichten muss. Ach, ist mir das peinlich.«

Jetzt endlich brannte das Feuer lichterloh, und sie wurde unverzüglich zu ihrem Chef vorgelassen.

Hinter der dick gepolsterten und von ihr sorgsam geschlossenen Tür erklärte sie ihm den Fall Brunner, Eva in dürren Worten, so emotionslos wie möglich. Es war, als würde sie über ein jahrzehntelang zurückliegendes Vergehen berichten, auf den sich bereits der Staub der Geschichte gelegt hatte.

Als sie geendet hatte – »… deshalb bitte ich Sie, Frau Brunner die Ausübung der Dienstgeschäfte bis auf Weiteres, aber zumindest für zwei Wochen, zu untersagen« –, sah sie ihn abwartend an.

»Ich habe das so kommen sehen, Frau Steiner. Ich hätte Ihnen Frau Brunner schon damals nicht überlassen dürfen. Nicht jeder Anwärter oder wie in diesem Fall: Anwärterin ist in Ihrer Kommission am richtigen Platz. Nicht jeder oder jede verträgt den Freiraum, den Sie ihm beziehungsweise ihr einräumen.«

Als sie widersprechen wollte, hob er die Hand und fuhr fort.

»Die meisten Auszubildenden in diesem Alter brauchen ein strenges Korsett, um nicht übermütig oder hochmütig, was in diesem Fall dasselbe ist, zu werden. Ein Korsett, das Herr Trommen seinen Mitarbeitern anlegt und mit dem sie in der Regel auch gut klarkommen. Und vor allem effizient arbeiten. Gut, dann machen wir das so. Zehn Tage Freistellung, dann wird Frau Brunner in Trommens Kommission wechseln. Jetzt aber zu der Toten in der Eichendorffstraße. Berichten Sie.«

Sie erzählte von der zugemüllten Wohnung und den Lockenwicklern, den thematisch sauber getrennten Plastiktüten und den unterschiedlichen Stichwunden des Opfers, eben alles das, was ihr in diesem Moment wichtig erschien, da es aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel.

Fleischmann hörte ihr schweigend zu. Schließlich sagte er: »Sie sind ja nun, nachdem Frau Brunner nicht mehr zu Ihrer Verfügung steht und Herr Bartels krank ist, allein auf sich gestellt. Möchten Sie irgendjemanden aus den anderen Kommissionen anfordern? Brauchen Sie Verstärkung?«

»Nein danke«, wehrte sie erschrocken ab. »Herr Bartels wird übrigens aller Wahrscheinlichkeit nach morgen wieder zur Arbeit erscheinen. Ich habe bereits mit ihm telefoniert. Es ist nicht so arg, wie es anfangs aussah, hat er mir versichert. Ein starkes Unwohlsein, das sich bis morgen aber wieder einigermaßen gelegt haben dürfte.«

Das war natürlich gelogen, sowohl das Telefonat als auch die Zusicherung Heinrichs, morgen wieder an seinem Platz zu sein. Aber erstens wollte sie bis auf Weiteres niemand anderen in ihrer Abteilung mehr haben, nur keine fremde Person jetzt! Wobei ihr fremd im Augenblick jeder war, jeder und jede außer Heinrich. Und zweitens, hatte sie sich in eben diesem Moment vorgenommen, würde sie ja sowieso bald mit Heinrich über seine notwendige Rückkehr sprechen. Eindringlich sprechen. Er würde, so hoffte sie, ein Einsehen haben und das von ihr gedanklich Vorweggenommene morgen schon in die Tat umsetzen.

»Apropos Herr Bartels. Ist es nicht seltsam, mit welch schöner Regelmäßigkeit er sich stets am Montag- oder wie heute am Dienstagmorgen krankmeldet? Es steht mir ja nicht zu, ich weiß, aber irgendwann würde ich gerne den eigentlichen medizinischen Grund für sein in letzter Zeit gehäuftes, wie nannten Sie es: starkes Unwohlsein erfahren.«

Damit hatte er sie unvorbereitet erwischt. Sie wusste auf die Schnelle keine glaubwürdig klingende Antwort darauf. Nichts, was Heinrichs gewohnheitsmäßige Krankfeierei entschuldigen oder als rechtmäßig darstellen könnte.

Fleischmann lächelte sie aufmerksam und wissend an.

Schließlich setzte er hinzu: »Sie auch, nehme ich an? Nun, der Tag wird kommen, da werden wir beide es erfahren. Und dann werden auch Ihre Kollegen, die mich erst heute wieder – und zwar von mehreren Seiten – auf diese seltsame Regelmäßigkeit der Krankmeldungen von Herrn Bartels angesprochen haben, beruhigt sein, dass ihm wirklich nichts Schlimmes fehlt.«

Er nickte ihr kurz und abschließend zu, die Audienz war beendet.

Als sie die Nebentür zum Chefsekretariat öffnete, dachte sie über Fleischmanns Worte nach. Also war der Tratsch über Heinrich wieder mal in vollem Gang. Wenn man sogar Fleischmann daraufhin angespitzt hatte. »Von mehreren Seiten«, hatte er gesagt. Dagegen müssen wir, Heinrich und ich, vorgehen, sonst dringt das Ganze noch eine Etage höher, und Kriminaldirektor Bauerreiß versteht bei laxen Dienstauffassungen wie dieser wenig Spaß. Um genau zu sein: gar keinen. Er würde Heinrich sicher …

»Na, so schlimm wird es doch nicht gewesen sein?«, fragte mit einem huldvollen Lächeln Sandra Reußinger, die ihre grübelnde Dauerkombattantin mit Wonne und falscher Anteilnahme beobachtete.

Als sie daraufhin keine Antwort bekam, setzte sie in neckischem Ton hinzu: »Was haben Sie denn nun eigentlich Schlimmes verbrochen?«

Paula blickte auf und entgegnete, mit derselben Falschheit wie die Sekretärin und dem gleichen schuldbewussten Gesicht wie zu Beginn: »Darüber darf ich leider nicht sprechen, Frau Reußinger. Herr Fleischmann hat es mir untersagt. Sonst hätte ich es Ihnen gern erzählt. Es wird einem dadurch ja auch leichter, wenn man so etwas mit jemandem teilen kann. Schade, aber das geht in diesem speziellen Fall nicht. Das muss ich schon allein mit mir ausmachen.«

So, dachte sie voller Zufriedenheit, jetzt ist die Gewitterziege des Präsidiums endlich mal ausgelastet, jetzt kann sie sich die nächsten Stunden ihren blond gefärbten Kopf zerbrechen und das nicht vorhandene Hirn zermartern.

Als sie die Treppe wieder hinunterstieg, hatte sich der ganze Missmut dieses an kleinen und großen Ärgernissen reichen Vormittags in Nichts aufgelöst. Weder war von der Wut auf Frau Brunner noch von der Verdrossenheit über ihren bevorstehenden Geburtstag und erst recht nichts von den Vorwürfen, die sie insgeheim Heinrich gemacht hatte, irgendetwas in ihr spürbar. Auf der anderen Seite war aber auch jedes Mitgefühl für ihre Mitarbeiterin, von Mitleid ganz zu schweigen, weggewischt. Ihr Kopf war vollkommen freigeschaltet für das, was ihr nun bevorstand.

Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro und erblickte eine Eva Brunner, deren Kopf anscheinend nicht ganz so freigeschaltet war wie ihrer. Auch wenig begabte Gedankenleser hätten der Anwärterin die widersprechenden Gefühle an der Nasenspitze ablesen können: Da war zumindest die Andeutung eines schlechten Gewissens, das sich aber noch im embryonalen Stadium befand; dann ein ausgeprägter Widerspruchsgeist, der in den vergangenen Wochen zu einer handfesten Renitenz herangereift war; und das alles wurde nun überlagert von einer ungeheuerlichen Willensstärke, ihrer Chefin gegenüber auf keinen Fall nachzugeben. In keinem Punkt! Eva Brunner hatte sich in der erzwungenen Wartezeit auf einen Wettkampf eingestellt, und sie war fest entschlossen, dieses Gefecht zu ihren Gunsten zu entscheiden. Schon allein deswegen, weil das bei den kleinen Scharmützeln in der letzten Zeit auch so gewesen war. Ein Irrtum.

»Ich kann mir schon denken, was Sie mir jetzt alles an den Kopf werfen werden«, begann die Anwärterin ihre Verteidigungsrede und sah Paula dabei herausfordernd an.

»So, dann wissen Sie mehr als ich, Frau Brunner. Denn ich werde Ihnen gar nichts an den Kopf werfen. Ich suspendiere Sie hiermit offiziell für vorerst knapp zwei Wochen vom Dienst aufgrund mehrerer schwerwiegender Verstöße gegen die Dienstvorschriften. Und ich halte Sie für so intelligent, dass Sie mir mindestens drei davon nennen können.«

»Was kann ich dafür, wenn keiner da ist, und wir kriegen einen Fall übertragen? Einer muss ja handeln, wenn Sie zu spät dran sind und Heinrich wieder mal krankfeiert. Ich bin immer pünktlich an meinem Arbeitsplatz. Denn einer musste sich ja um den Fall kümmern …«

»Ich fürchte, ich habe Sie überschätzt. Gut, dann der Reihe nach. Erstens, Frau Brunner, war ich nicht zu spät dran. Mein Dienst beginnt offiziell um neun Uhr, so wie der Ihre auch. Zweitens habe ich das mit der despektierlichen Bemerkung über den derzeitigen Krankenstand von Herrn Bartels überhört. Drittens haben Sie es bewusst versäumt, mich über den Mord und die Tatsache zu informieren, dass unsere Kommission diesen Fall übertragen bekommen hat. Wobei Ihnen Herr Breitkopf ausdrücklich aufgetragen hat, mich darüber in Kenntnis zu setzen. Viertens haben Sie sich Leitungsaufgaben angemaßt, die Ihnen in keiner Weise zustehen – und das coram publico. Und fünftens, Frau Brunner, haben Sie dabei auch noch aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Kollegen von der Arbeit ab- und aufgehalten.«

Das musste fürs Erste genügen, fand sie. Es genügte aber nicht.

»Warum sollte ich da oben dumm im Weg rumstehen? In dem Fall, da haben Sie recht, hätte ich die anderen von der Arbeit abgehalten, aber nur in diesem Fall. So aber eben bewusst nicht. Sie wissen ja selbst, wie es da oben aussah.«

Trotziges Schweigen.

»Schade und auch erstaunlich, dass Sie das vergessen haben. Der Ermittlungsführer ist für die Beschlagnahmung der Leiche zuständig, er entscheidet ferner, in welchem Ausmaß die Spurensicherung abläuft, und er begutachtet die Leiche. Das alles haben Sie verabsäumt.«

Als Eva Brunner widersprechen wollte, hob Paula die Hand. »Insofern gehen Sie jetzt. Und nutzen Sie diese freie Zeit. Machen Sie sich mit der Situation vertraut, dass Sie danach eventuell in eine andere Kommission wechseln werden.«

Verunsichert und bestürzt sah Eva Brunner zu ihr auf. Doch dieser kurze Moment der Irritation dauerte nicht lang, dann kehrte die Hochnäsigkeit zurück, zusammen mit dieser großen Portion Selbstgerechtigkeit, die ihrer Vorgesetzten Steiner heute bereits mehrere Male sauer aufgestoßen war.

»Dafür brauche ich keine Woche. Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Ja, ich will in eine andere Kommission. Das hier ist mir alles zu eng, zu wenig professionell. Sie kriegen doch von Fleischmann eh bloß die Pamperl-Fälle mit Ihrer Zwei-Mann-Abteilung.«

»Gut, ich nehme das hiermit zur Kenntnis. Und ich werde mich bemühen, dass Sie fortan in eine Kommission eingebunden sind, die größer ist und auch spektakulärere Fälle bearbeitet als wir hier.«

»Das dürfte nicht allzu schwierig sein, denn alle anderen Kommissionen sind ja bei Weitem größer als Ihre.«

Auch dieser letzte schnippische Seitenhieb traf sie nicht. Sie nickte lediglich zustimmend. Und war erleichtert, dass sich ihre ehemalige Mitarbeiterin bei diesem Gespräch als so entgegenkommend gezeigt hatte. Für sie war damit die Episode Brunner, Eva erledigt. Mit wachsender Ungeduld sah sie der Anwärterin dabei zu, wie sie ihre Siebensachen packte. Als sie aber daranging, die Dienstpistole aus dem Rollschrank zu holen, legte Paula ein Veto ein.

»Die Waffe bleibt hier. Ebenso wie Ihr Dienstausweis.«

»Aber wenn ich sowieso in Zukunft woanders tätig bin, kann ich sie doch gleich mitnehmen. Was soll denn das?«

»Bis dahin bleibt sie hier. Frau Brunner, Sie haben das anscheinend missverstanden: Sie haben nicht frei, das ist kein Urlaub, Sie sind derzeit vom Polizeidienst suspendiert. Das heißt: Die Ausübung all Ihrer Dienstgeschäfte ist Ihnen bis auf Weiteres untersagt, egal in welcher Abteilung oder Kommission. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn es so weit ist, dass Sie ins Präsidium zurückkehren können. An welchem Arbeitsplatz auch immer. Bis dahin halten Sie sich zu unserer Verfügung.«

Als sie ihr Büro endlich wieder für sich allein hatte, öffnete sie die beiden Fensterflügel weit. Sie empfand keinerlei Genugtuung, diese kleine Machtprobe so schnell und eindeutig für sich entschieden zu haben. Im Gegenteil. Sie wollte mit ihren Mitarbeitern nicht kämpfen, das war ihr zuwider. Die Kollegen sollten hier ihre Arbeit machen, genau wie sie selbst ihren Pflichten so gut wie eben möglich nachkam. Und vor allem sollten sie ihre Macken hinnehmen, genau wie auch sie bereit war, deren Marotten und Eigenarten bis zu einem gewissen Grad zu tolerieren oder sich ihrer gar bei der Ermittlungsarbeit nutzbringend zu bedienen.

Auf einem dieser zahlreichen Führungsseminare, die sie in ihrem beruflichen Leben so widerwillig wie folgenlos absolviert hatte, war ihr am Ende schwarz auf weiß bescheinigt worden, dass sie ein lausiger Team-Worker war und auch in fast allen Konstellationen eine schlechte Chefin. Da sie unduldsam und ungeduldig war, Fehler für unverzeihlich hielt und auf der anderen Seite selbst hervorragende Arbeit für so selbstverständlich ansah, dass sie auf Lob verzichten zu können glaubte. Seitdem gab sie sich mehr Mühe, gute Leistung entsprechend maßvoll zu würdigen, auch wenn sie nach wie vor überzeugt war, Lob und Anerkennung im Beruf seien Kinderkram, aufgesetztes Taktieren, falsches Getue und letztendlich dem Umgang unter erwachsenen Menschen unwürdig. Auf beiden Seiten im Übrigen.

Das alles war ihr in diesem Moment gegenwärtig. Genau wie die Tatsache, dass es in den vielen Jahren, die sie nun schon als Kommissarin am Jakobsplatz arbeitete, nur Heinrich längere Zeit mit ihr ausgehalten hatte. Trotzdem wunderte sie sich über den Vorfall an diesem vertrackten Dienstagmorgen. Wie hatte es so weit kommen können? Ausgerechnet Eva Brunner, die mit ihrem Eifer, ihrer Begeisterung und auch dem offensichtlichen Vergnügen an der Arbeit sie beide – Heinrich und sie selbst – manchmal richtiggehend angesteckt hatte. Von all dem war nun nichts mehr zu spüren gewesen, nur Trotz und Aufbegehren. Gegen die Arbeit, aber auch gegen sie selbst. Sie kam zu dem Schluss, dass sie diese ungute Verwandlung auf ihr Konto buchen musste. Sie hätte die Anwärterin mehr anleiten, mehr kontrollieren, mehr die Chefin herauskehren müssen. Führung durch Vorbild. Vielleicht war sie aber kein Vorbild, dem nachzufolgen es sich lohnte. Ja, mit Sicherheit war sie das nicht.

Nach einer halben Stunde intensiven Grübelns entschloss sie sich, den aktiven Polizeidienst wieder aufzunehmen. Sie wählte Heinrichs private Telefonnummer. Nachdem sie es neunmal vergebens hatte klingeln lassen, zog sie ihre Jacke an und verließ das Präsidium. Als sie auf den Parkplatz zuging, entschied sie sich abrupt um. Nein, sie würde nicht den Wagen nehmen, bei diesem schönen Wetter wollte sie sich mit Hilfe der VAG zu Heinrichs Wohnung fahren lassen.

Eine Entscheidung, deren Richtigkeit sie bereits am Hauptbahnhof in Zweifel zog. Zehn Minuten musste sie dort warten, bis endlich die Straßenbahn der Linie 8 um die Ecke am Königstor bog. Siebzehn weitere dauerte es, bis sie schließlich an der Haltestelle Lothringer Straße aussteigen konnte. Von da waren es nur noch wenige Schritte zum Budapester Platz.

Sie drückte dezent auf den Klingelknopf neben dem Metallschild »Bartels, A./Bartels, H.« und musste lange warten. Schließlich ging die Tür von innen auf, und vor ihr stand eine ältere Frau mit einer niedlichen Pekinesen-Dackel-Mischung auf dem Arm. Bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte sie noch, wie die alte Dame ihrem Hund zuzwitscherte: »So, Horsti, heut hammer endlich mal Glück mit dem Wetter, heute können wir uns ganz viel Zeit lassen mit dem Gassigehen. Heut ist schee.«

Was für ein liebenswertes Stadtviertel, in dem die Hunde richtige, anständige Namen trugen und in dem man den ersten frühlingshaften Tag auf so lebensnahe, zweckmäßige Art begrüßte.

Sie stieg die drei Etagen hoch und klopfte vorsichtig, noch immer um Geduld bemüht, an die Wohnungstür von Bartels, A./Bartels, H. Schon nach wenigen Sekunden öffnete Heinrichs Großmutter ihr.

Die Siebenundachtzigjährige machte bei ihrem Anblick ein erschrockenes Gesicht. Sie hatte vermutlich mit einer Nachbarin gerechnet, aber sicher nicht mit der Vorgesetzten ihres Enkels. Paula wusste von der Absprache zwischen Heinrich und seiner Großmutter im Falle einer seiner zahlreichen Krankschreibungen; er hatte es ihr im Übermut und unter Alkoholeinfluss einmal verraten – und mit Sicherheit schon etliche Male bereut. Gemäß dieser Absprache war das Telefon für beide, für ihn wie für seine Großmutter, ebenso tabu wie das Öffnen der Haustür oder – noch gefährlicher – gar der Wohnungstür.

»Grüß Gott, Frau Bartels. Ich würde gern mit Heinrich sprechen, wenn es irgendwie möglich ist. Ganz kurz nur. Ich habe heute Vormittag Frau Brunner entlassen müssen, und jetzt brauche ich dringend den Rat Ihres Enkels. Sagen Sie ihm das bitte? Ich warte gerne solange hier draußen.«

Es war Heinrichs Großmutter anzusehen, wie sie hin- und hergerissen war zwischen einem minimalen Zugeständnis an die Höflichkeit, demzufolge sie den Überraschungsgast jetzt in die Diele hereinbitten musste, und dem Verweigern eben dieses Zugeständnisses. Frau Bartels entschied sich schweren Herzens für die erste Variante. Dann verschwand sie in den hinteren Trakt der Altbauwohnung.

Sie hörte das aufgeregte Wispern der alten Frau mit der hohen und erstaunlich jugendlichen Stimme Heinrichs selbst durch die Tür. Kurz darauf kam er ihr offensichtlich gut gelaunt entgegen. Dunkelblau-weiß gestreifter Bademantel über dem Flanellschlafanzug, die Haare noch mehr zerzaust als sonst, ungewaschenes Gesicht, die Füße in ausgetretenen Badelatschen. Sie nahm den Geruch von abgestandener Wärme an ihm wahr.

»Oma hat mir gesagt, du hast die Eva rausgeworfen. Stimmt das?«

»Ja. Wobei ich den Begriff suspendieren vorziehen würde. Es ist auf jeden Fall sehr, sehr schön, dass du bereit bist, mit mir zu sprechen. Trotz der Tatsache, dass du krank bist.«

Der letzte Satz war frei von jeder Ironie, denn sie freute sich aufrichtig über sein Entgegenkommen, in jeder Hinsicht.

Bevor sie weiterreden konnte, wies er auf die Tür zu seiner Rechten. Er öffnete sie und trat dann einladend einen Schritt beiseite, um sie eintreten zu lassen. Eine altmodische Galanterie, für die er eigentlich zu jung war, an der sie aber Gefallen fand. Sie betrat das gemeinsame Wohnzimmer der Bartels’schen Zweier-WG, die, wie sie wusste, stets tadellos funktioniert hatte und das anscheinend noch immer tat.

Die Möblierung der guten Stube lieferte ihr dafür den augenfälligen Beweis: Mit einer Gleichberechtigung, die sämtliche »Schöner Wohnen«-Prinzipien Lügen strafte, verteilten sich hier die kennzeichnenden Insignien der Vorstellungen von Behaglichkeit einer siebenundachtzigjährigen Frau und eines vierunddreißigjährigen Mannes. An der Wand über dem klobigen Plüschsofa mit seinen geklöppelten Schondeckchen hingen in bizarrer Eintracht ein Schwarz-Weiß-Foto eines jungen blonden Burschen in Wehrmachtsuniform – wahrscheinlich Heinrichs Großvater – neben einer Druckgrafik von Andy Warhol, die Richard Wagner zeigte; in dem dunkelbraunen schweren Büfett aus glänzendem Nussbaumholz standen geschliffene Kristallweingläser über einer umfangreichen CD-Sammlung; der überdimensionale Bang&Olufsen-Fernseher war auf einer kleinen Kommode mit Kirschholzfurnier abgestellt. Obwohl dieses Wohnzimmer sämtliche Gesetze der Ästhetik missachtete, strahlte es doch eine Harmonie, ja mehr noch: eine ergreifende Gemütlichkeit aus, die von dem liebevollen Miteinander seiner Bewohner rührte.

Paula setzte sich an den riesigen dunkelbraunen Esstisch, dem wuchtigen Pendant zu der glänzenden Anrichte. Heinrich fragte, ob sie einen Kaffee oder Tee wolle. Sie verneinte beides. Eine Absage, die Frau Bartels, die soeben gekommen war, nicht gelten ließ.

»Das kommt ja gar nicht in Frage, dass Sie nichts trinken. Da darfst du nicht lang fragen, Heinrich, du musst der Frau Steiner einfach was vorsetzen, sie wird es dann schon trinken, gell? Ich mache uns mal einen Kamillentee, der passt immer. Und dazu gibt es ein paar Kekse, gell?«

Nachdem Frau Bartels in die Küche gegangen war, erzählte Paula ihm von dem neuen Fall der Elvira Platzer, von der Suspendierung und wie es dazu gekommen war, von Fleischmanns anzüglichen Fragen seine Schwänztage betreffend und, da Heinrich ein geduldiger Zuhörer war und der Kamillentee noch auf sich warten ließ, auch von ihrer Angst vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Ihr war nun, als ob mit dem Erzählen die Ärgernisse dieses an einschneidenden Widrigkeiten reichen Tages einen Gutteil ihres Schreckens verloren hätten. Sie wusste sie bei Heinrich in guten Händen.

Akkurat in dem Moment, als sie mit ihrem Bericht fertig war, öffnete sich die Tür abermals, und Frau Bartels erschien mit einem Tablett in den Händen, auf dem offenbar das Sonntagsteegeschirr – buntes Blümchenmuster auf feinem dünnem Porzellan – stand; daneben lagen drei scheckig-grau angelaufene Silberlöffel, die sicher über einen langen Zeitraum kein Tageslicht mehr gesehen hatten. Heinrichs Großmutter musste hinter der Tür gelauert haben, bis der Gast ausgeredet hatte, eine andere Erklärung für diese zeitliche Übereinstimmung zwischen Berichtsende und Eröffnung der Teestunde gab es nicht.

Während dieser ruhten die beruflichen Themen und Anforderungen. Paula beobachtete Heinrich, wie er einen Keks nach dem anderen schweigend in den Tee tunkte und dann mit großem Vergnügen in den Mund schob, währenddessen seine Großmutter den Tee in kleinen Schlucken trank und die Tasse jedes Mal mit einem kleinen Ruck auf der Untertasse absetzte. Es war jetzt ganz still in dem Zimmer. Nur der Verkehrslärm drang von ferne durch die Fenster. Es war so anheimelnd in diesem Wohnzimmer mit seinem Stil-Kuddelmuddel, dass Paula in keiner Sekunde ins Bewusstsein drang, dass hier ein allem Anschein nach überaus gesunder und fröhlicher Mitarbeiter saß und wieder mal auf ihre Kosten krankfeierte.

Als die Teetassen leer waren, stand Heinrich auf und sagte mit hochgezogenen Brauen: »Du willst doch jetzt bestimmt eine rauchen, Paula. Komm, wir gehen auf den Balkon.«

Er bedeutete ihr mit dem Kopf, ihm zu folgen. Als sie auf dem kleinen Balkon standen und sie sich die letzte Zigarette der Packung angezündet hatte, erfuhr sie den wahren Grund für seine versteckte Aufforderung. Er wollte mit ihr allein über Eva Brunners Benehmen und dessen Folgen sprechen.

»Tut es dir leid, das mit der Eva?«, fragte er Paula.

»Nein. Leid tut es mir nicht, nicht mehr. Das war einfach zu viel von ihr auf einmal. Vielleicht wenn sie am Anfang eingelenkt hätte, aber so? Nein, das hat schon seine Richtigkeit.«

»Und wenn sie sich Hoffnungen macht, wieder zu dir zurückkehren zu können?«

»Ich glaube nicht, dass sie zu uns zurückwill. Die ist doch froh, wenn sie in Trommens Kommission wechseln kann. Der war das einfach zu klein, zu mickrig in unserer Abteilung. Umsonst hat sie das mit den Pamperl-Fällen nicht gesagt.«

»Aber Paula, das war doch nicht ernst gemeint. Irgendetwas brauchte sie eben in diesem Augenblick, um vor dir nicht ganz und gar das Gesicht zu verlieren. Das war nur eine Art Verteidigung, wenn auch eine sehr unglückliche.«

»Und du, Heinrich, bedauerst du es, dass wir jetzt nur mehr zu zweit sind?«

»Bedauern? Nein, nicht wirklich. Das ist mir mehr oder weniger egal. Sie hat sich ja auch in den letzten Wochen oder richtiger: in den letzten Monaten in eine ganz andere Richtung entwickelt. In eine, wie ich finde, sehr unvorteilhafte Richtung. Wenn du nicht da warst, hat sie immer wieder mal versucht, die Chefin zu spielen. Aber das war nicht das Entscheidende, denn da hat sie bei mir sowieso auf Granit gebissen. Du kennst mich ja. Viel schlimmer war«, er zögerte einen Augenblick, bis er fortfuhr, »ihre kesse, vorwitzige und manchmal auch grobe Art. Einmal hat sie mich doch tatsächlich gefragt, ob ich schwul bin. Es wäre doch seltsam, meinte sie, dass ich nie von einer Freundin erzählen würde, sondern immer nur von meiner Großmutter.«

Er vermied es angestrengt, sie dabei anzusehen, sein Blick blieb auf die leeren Balkonkästen gerichtet.

Die Frage hatte sie sich insgeheim auch schon gestellt. Sie wusste nicht, was er jetzt von ihr erwartete. Hatte er ihr das erzählt, damit er es ein für alle Mal vor ihr klären konnte? Oder nur als ein Beispiel für Eva Brunners nassforsche Art, als eindrucksvoller Beweis für deren Taktlosigkeit? Wollte er nun von ihr eine konkrete Nachfrage, ob dem so sei, oder nur ein beifälliges Zur-Kenntnis-Nehmen, das die Unterstellung Eva Brunners als Ding der Unmöglichkeit gar nicht erst in Betracht zog? Sie wählte die dritte Möglichkeit.

»Das ist ja eine Unverschämtheit sondergleichen. Warum hast du mir denn das nicht früher gesagt? Ich glaube, wir beide können uns froh und glücklich schätzen, dass wir diesen wichtigtuerischen Trampel los sind. Und dann noch auf eine so elegante Art und Weise.«

Damit war das Thema Eva Brunner erledigt. Aber noch immer zögerte Paula, den eigentlichen Grund ihres Besuches zu nennen. Sie hoffte, Heinrich würde von selbst darauf zu sprechen kommen. Und das tat er auch, nachdem er ihr die Balkontür wieder auf diese altmodisch-galante Weise geöffnet hatte.

»Dann bist du jetzt ja allein. Soll ich morgen kommen?«

»Wenn du wieder so weit hergestellt bist, dass das möglich ist, dann wäre das prima. Du würdest mir damit sehr helfen. Ich mag nämlich jetzt vorerst niemand anderen aufnehmen, auch nicht vorübergehend. Ich habe die Nase gestrichen voll von all diesen Anwärtern und Anwärterinnen oder Trommens unausgelasteter Mannschaft, die mir Fleischmann immer schmackhaft machen will. Die nächste Zeit möchte ich keinen von denen bei uns im Büro sehen. Keinen und auch keine.«

»Gut, dann bin ich ab morgen wieder im Einsatz. Du kannst mit mir rechnen.«

Das hörte sie gern. Etwas übersteigert dankte sie ihm für sein Angebot und verabschiedete sich dann rasch, nachdem sie Frau Bartels noch ein Dankeschön für »die feinen Kekse und den hervorragenden und bestimmt gesunden Tee« ausgesprochen hatte.

Danach begleitete Heinrich sie zur Wohnungstür. Als sie bereits den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, rief er ihr noch mit einem feinen Lächeln nach: »Ich bin übrigens nicht homosexuell, falls dich das interessiert.«

Als sie eine Dreiviertelstunde später das Präsidium betrat, war sie voller Zuversicht. Morgen schon würde Heinrich wieder an ihrer Seite sein, und zusammen würden sie diesen Fall binnen Kurzem gelöst haben. Noch bevor ihre ehemalige Mitarbeiterin wieder an welchen Arbeitsplatz auch immer zurückkehren durfte. Das war der einzige Gedanke, den sie Eva Brunner an diesem Tag noch widmete. Und er erfüllte sie mit einer kleinen Genugtuung.

Anschließend rief sie als Erstes in der Gerichtsmedizin an. Sie hatte Glück. Frieder war noch da, und er konnte ihr bereits sagen, was sie wissen wollte.

»Ich bin noch nicht fertig mit der Obduktion, Paula. Aber was ich mit Gewissheit sagen kann, ist der Todeszeitpunkt. Montagnacht, gegen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn plus/minus eine Viertelstunde.«

»Du hast doch so was gesagt von einem Hirschfänger oder etwas Ähnlichem. Hast du dazu schon etwas Genaueres herausfinden können?«

»Habe ich. Es war zwar kein Hirschfänger, wie ich anfangs vermutete, dafür waren die Stiche nicht tief genug, aber doch ein Jagdmesser. Und zwar vermutlich ein Nickfänger oder Nicker, also ein Abfangmesser für Kleinwild, auch für Rehe. Circa zwanzig Zentimeter lang.«

»Davon habe ich noch nie gehört. Was macht man denn damit? Wofür wird das in der Jagd eingesetzt?«

»Wenn ein Tier verletzt ist, meist durch einen fehlerhaften Schuss, und ein weiterer Schuss ist nicht möglich, dann wurde Kleinwild, vor allem Rehe, früher mit dem Nicker von seinem Leiden erlöst. Durch einen Stich in den Nacken genau über dem obersten Halswirbel, der in der Fachsprache Nicker heißt.«

»Früher, sagst du. Jetzt nicht mehr?«

»Nein, der Nicker, genau wie der Hirschfänger, ist ziemlich aus der Mode gekommen. Die Stiche mit solchen Messern erfordern großes Geschick und viel Erfahrung, sie müssen sofort tödlich sein, das verlangen die Tierschutzvorschriften. Also werden sie fast nicht mehr eingesetzt. Wenn heutzutage ein Reh noch nicht verendet ist und der Gebrauch der Schusswaffe sich aus irgendwelchen Gründen verbietet, harter Untergrund oder Gefährdung der beteiligten Jagdhunde, dann tötet man es meist durch einen gezielten Stich in die Lunge oder das Herz.«

»Aha. Na, das ist doch schon mal was«, sagte sie gedankenverloren. »Dann könnte der Täter also ein Jäger sein. Ein älterer Jäger. Denn du hast ja gesagt, der Umgang mit solchen Nickern erfordert Geschick und Erfahrung.«

Eine naheliegende und simple Überlegung, die sie umgehend in Zweifel zog.

»Wobei, nein, nicht unbedingt. Es gibt ja so Waffennarren, die alles sammeln, was gefährlich ausschaut und schön glänzt. Das muss in puncto Täterprofil nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Und sonst, Frieder? Du hast am Tatort gesagt, dass man sie zuerst in die Halsschlagader gestochen hat und erst danach in den Bauch- und Lendenbereich.«

»Das stimmt. An dieser Erstverletzung ist sie auch gestorben. Der Stich hätte im Übrigen vollkommen ausgereicht, um sie zu töten, die anderen Stichwunden hat man ihr zugefügt …«

»Um auf Nummer sicher zu gehen?«, unterbrach sie ihn.

»Nein, das glaube ich nicht. Dafür sind die übrigen Verletzungen zu wahllos, zu absichtslos gesetzt, die folgen keinem Schema. Wenn überhaupt, dann nur dem Schema der unkontrollierten Gefühle. Der Mörder scheint bei seiner Tat von heftigen Emotionen getrieben worden zu sein. Die auf dem Unterleib kreuz und quer verteilten Wunden lesen sich wie das Diagramm eines regelrechten Jähzornausbruchs. Aber das ist nur …«

»… eine Vermutung deinerseits«, vollendete sie seinen Standardsatz. »Ich weiß, Frieder. Also der Täter …«

»… oder die Täterin«, jetzt war er es, der ihr ins Wort fiel, »vergiss das nicht. Die Emanzipation schreitet auch da allenthalben voran.«

»Gut, oder die Täterin, was insofern schon bemerkenswert ist, als die Platzer, wie mir ihre Nachbarin gesagt hat, nie jemanden in ihre Wohnung gelassen hat, sticht das Opfer dann gleich hinter der Tür nieder. Dabei ist er oder sie doch ein großes Risiko eingegangen oder hat es zumindest duldend in Kauf genommen. Es bestand die Gefahr, dass sie um Hilfe ruft oder zumindest vor Schmerz aufschreit. So was geht doch nicht lautlos ab, was meinst du?«

Sie stockte und überlegte. Ob der Täter – sie war trotz Frieders Einwurf nach wie vor davon überzeugt, dass es sich um einen Mann handelte – und sein Opfer noch miteinander gesprochen hatten, bevor er zustach? Oder ging das Knall auf Fall – die Tür öffnet sich, der Täter sticht augenblicklich zu, dann nochmals und nochmals …? Jetzt wusste sie, was sie anfangs so gestört hatte.

»Wichtig ist für uns, ob die Tat hinter verschlossener Wohnungstür geschah oder ob sie währenddessen offen stand.«

»Das kann ich dir leider nicht beantworten. Aber Klaus hat sicher eine Antwort auf diese Frage. Zu deiner Annahme, dass das nicht lautlos abgegangen sei, möchte ich dir sagen: Ich glaube nicht, dass das Opfer nach diesem Treffer in die Halsschlagader noch sprechen oder gar einen Schrei ausstoßen konnte.«

»Also ein Profi, der mit Kalkül zusticht. Aber dagegen spricht doch – wie hast du es genannt? – das Diagramm dieses Jähzornausbruchs, die anderen, die nachträglichen Einstichstellen?«

»Ja, das ist richtig. Auf der einen Seite der absichtsvolle Todesstich, auf der anderen Seite die ziellos gesetzten und auch überflüssigen Stiche. Plan und Planlosigkeit liegen hier ganz nah beieinander.«

Sie dankte Frieder für seine Auskunft, wie sie es immer tat, wenn er sein Fachwissen plus seine Vermutungen mit ihr geteilt hatte. Bevor er sich verabschieden konnte, musste sie noch etwas loswerden.

»Dass du so überhaupt nicht neugierig bist, Frieder, das verstehe ich einfach nicht. Ich im umgekehrten Fall hätte dich schon längst nach einer Erklärung für Frau Brunners Verhalten gefragt. Und auch danach, ob das Folgen hat, und wenn ja, welche.«

»Ach, Paula, du und deine Neugier.« Er lachte kaum hörbar. »Es wird schon eine Erklärung dafür geben. Die mich aber nichts angeht. Die nur dich etwas angeht. Und Fleischmann eventuell. Und die Folgen? Du wirst sie suspendiert haben und jetzt versuchen, sie woanders unterzubringen. Womöglich bei unserem gemeinsamen Freund Trommen.«

»Genau so ist es«, bestätigte sie lapidar seine Vermutungen.

»Ach, noch etwas, was mich zwar auch nichts angeht, aber was mich doch sehr interessiert: Wirst du denn deinen demnächst bevorstehenden runden Geburtstag in einem größeren feierlichen Rahmen begehen?«

In einem größeren feierlichen Rahmen? Manchmal drückte sich Frieder ein wenig barock aus.

»Nein, auf keinen Fall«, kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen, fast schroff. »Ganz bestimmt nicht.«

»Das hatte ich schon befürchtet.«

»Warum befürchtet?«

»Weil ich dich kenne, ein wenig zumindest, sodass ich das schon geahnt habe. Und weil es schade wäre, diesen Tag nicht mit ein paar netten Menschen zu begehen, die dich mögen. Und davon gibt es eine ganze Reihe. Nämlich mich, um nur einen zu nennen. Aber das ist natürlich ganz und gar deine Entscheidung. Außerdem kann ich dich sogar verstehen: Diese runden Geburtstage können einen schon aus der Bahn werfen. Sind mitunter eine regelrechte Bedrohung, vor der man am liebsten davonlaufen würde. Aber wenn sie Vergangenheit sind, ist es gar nicht mehr so schlimm, Paula. Und man bedauert eventuell, dass man diesen Tag so glanzlos hat verstreichen lassen.«

Nachdem sie nichts darauf sagte, fuhr er fort. »Bei mir war es der Dreißigste. Ab dann, hatte ich gedacht, geht alles bergab, wird alles bedeutungslos, mein Leben, hatte ich befürchtet, ist im Großen und Ganzen gelaufen. Jetzt ist es mir egal, wie alt ich bin oder werde. Du weißt ja, in drei Jahren feiere ich meinen Sechzigsten, und ich freue mich sogar darauf. Dass ich es geschafft habe, diese Schallmauer zu durchbrechen. Oder banal gesagt: dass ich noch am Leben bin. Vielleicht ist für dich der Fünfzigste, was bei mir der Dreißigste war.«

Genau, dieser fünfzigste Geburtstag, der war durch die Ereignisse des Tages ja unverdientermaßen in den Hintergrund gerückt. Wenn Heinrich morgen wieder da war, würde sie sich darum als Erstes kümmern. Jetzt aber rief sie in der Kriminaltechnik an, um vom Anrufbeantworter zu erfahren, dass weder Klaus Dennerlein noch Klaus Zwo derzeit zu sprechen waren. Auch das würde also bis morgen warten müssen.

Heinrich fehlte ihr. Am liebsten wäre sie auf der Stelle heimgekehrt, um diesen wirren Tag mit einer Flasche elsässischen Rieslings möglichst schnell zu einem wenigstens erfreulichen Ende zu bringen. Doch dann entschied sie sich anders. Sie las sich ihre Notizen durch, die sie sich bei der aparten Nachbarin von Elvira Platzer gemacht hatte, und nahm ihre Jacke vom Kleiderhaken.

Die Mutter der Toten wohnte in der Pilotystraße, einer Querstraße zur Pirckheimerstraße. Sozusagen in ihrer Nachbarschaft. Sie hatte beschlossen, mit der Büroarbeit für heute Schluss zu machen und noch einen Teil ihrer Pflichten abzuarbeiten. Nach den Informationen, die sie bisher gesammelt hatte, war Elvira Platzers Mutter die Person, die ihr am nächsten stand. Der würde sie demnächst sowieso die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbringen müssen, und da leider nichts dagegen sprach, dies gleich jetzt zu tun, mussten ihr Keller und das Weinlager eben noch ein wenig auf sie warten. Außerdem würde sie versuchen, etwas von dem Leben und der Person der Elvira Platzer zu erfahren. Schon allein deswegen, damit sie Heinrich morgen etwas vorweisen konnte.

Paula, die ihre heftige Abneigung gegen jede Art sportlicher Betätigung mit Umsicht und Langmut pflegte, hatte sich entschieden, auf den Dienstwagen zu verzichten und in die Pilotystraße zu Fuß zu gehen. In ihren Augen war das ein mehr als vollwertiger Ersatz für zwei Stunden Plackerei in einem dieser grotesken Fitnessstudios. Nur eben wesentlich gesünder, weil vielseitiger.

Als sie den Burgberg erklommen hatte und nun den Vestnertorgraben entlanglief, bereute sie ihr gesundheitsförderndes Vorhaben. Das hätte doch auch bis morgen Zeit gehabt, zumal sie jetzt direkt vor ihrer Wohnung stand. Der Weinkeller, ihr Sofa, ein gemütlicher Ausklang dieses konfusen Tages – alles in greifbarer Nähe. Kurz sah sie zu ihrem Küchenfenster hinauf, um dann entschlossen und zügig weiterzugehen.

Beim Abbiegen in die Pilotystraße gingen ihr Frieders Worte durch den Kopf. Die heftigen Emotionen, die bei dem Mord offenbar im Spiel gewesen waren. Also große Gefühle wie Liebe, Hass, Eifersucht, Rache. Für all das schien ihr Elvira Platzer mit ihrer zugemüllten Behausung und ihrer offensichtlichen Einsamkeit so gar keinen Anlass gegeben zu haben. Trotzdem war sie durch diesen Aspekt der tödlichen Leidenschaft noch neugieriger als ohnehin geworden.

Es war immer wieder ein ganz besonderer Aspekt ihrer Arbeit, in die Leben ihrer Opfer einzutauchen, ein Puzzleteil nach dem anderen herauszugreifen und zu einem Ganzen zusammenzufügen, bis sie sich ein genaues, klares Bild von demjenigen machen konnte, der umgebracht worden war. Was hatte ihre Opfer angetrieben, was war ihnen wichtig gewesen, wovor hatten sie Angst gehabt, wie hatten sie ihren Alltag organisiert, wie sah das soziale Umfeld aus? Für Paula war das alles hochinteressant. Jedes Mal aufs Neue.

Die dunklen Wolken dieses Dienstags hatten sich verzogen. So betrachtete sie mit Wohlgefallen die herausgeputzten, gepflegten Vorgärten mit ihren abgedeckten Zierbrunnen und den immergrünen Büschen, die die Miniaturvillen aus der Gründerzeit links einrahmten. Es roch nach vermoderndem Gras und Laub. Schließlich hatte sie die Pirckheimerstraße überquert und stand vor dem lang gezogenen Wohnblock, der in den sechziger Jahren als das Nonplusultra städtearchitektonischer Modernität in der Nürnberger Nordstadt gegolten hatte und der mittlerweile von der Nürnberger Wohnungsbaugenossenschaft verwaltet wurde. Vom Vorzeigegebäude zum sozialen Wohnungsbau.

Es dauerte eine Weile, bis sie das gesuchte Klingelschild ausfindig gemacht hatte. Die meisten waren mit einem handschriftlichen Papierstreifen versehen und schon unzählige Male überklebt, nicht so das von Elvira Platzers Mutter. »Rupp, A.« stand auf dem Metallschild neben dem Klingelknopf. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür aufsprang. Paula stieg in den sechsten Stock hoch, verzichtete bewusst auf die Dienste des Aufzugs, auch das ein Teil ihrer sportlichen Trainingsmaßnahme. Neben den meisten Wohnungstüren standen billige Schuhpaare, Kinder-, Damen-, Herrenschuhe aus dem Discounter mit deutlichen Gebrauchsspuren. Auch da machte Apolonia Rupp eine Ausnahme: Vor ihrer Wohnungstür lag lediglich ein neuer schwarzer Fußabstreifer.

Die hochgewachsene Frau – dünne Lippen, schmale Nase, weißer Teint, glattes, fast weißes Haar, das hinten zu einem winzigen Dutt zusammengesteckt war –, die unter dem Türrahmen stehend wartete, empfing Paula mit einem hochmütigen Blick. Sie stellte sich vor.

»Können Sie sich ausweisen?«

»Ja, natürlich.« Paula hielt Frau Rupp den Ausweis hin, den diese sofort ergriff. Die gut Siebzigjährige schien unter einer ausgeprägten Altersweitsichtigkeit zu leiden, so weit, wie sie den Ausweis von sich weg hielt. Nachdem sie ihn ausführlich studiert hatte, fragte sie unfreundlich: »Und was führt Sie zu mir?«

»Kann ich hereinkommen, Frau Rupp? Ich denke, das, was ich Ihnen zu sagen habe, sollte man besser nicht im Treppenhaus besprechen.«

Widerwillig wurde sie hereingebeten und folgte Frau Rupp in deren gute Stube.

Es war die typische Wohnung einer alten Frau, die bessere Zeiten erlebt hatte und sich mit Hilfe ihrer Einrichtung gerne an diese besseren Zeiten erinnerte. Fliesen in Marmoroptik in der Diele, Eichenlaminat im Wohnzimmer, überall Orientteppiche, die neu aussahen. Ein Druck von Rembrandts »Nachtwache« in breitem Goldrahmen über dem Esstisch aus schwerem Nussbaumholz. Daneben ein riesiger Regulator und in der Ecke ein stattlicher Kirschbaumsekretär mit vergoldeten Messingknöpfen und offen stehender, leer geräumter, auf Hochglanz polierter Schreibtischlade.

Doch am meisten faszinierte Paula das altmodische schwarze Telefon mit Wählscheibe aus Bakelit, das von einer weinroten Brokathülle mit grünem Perlon-Spitzenband abgedeckt war. Es war lange her, dass sie so etwas grausam Kitschiges gesehen hatte.

Artig setzte sie sich auf das ihr zugewiesene Sofa mit dem großblumigen weinroten Muster und wartete, bis auch ihre Gastgeberin auf einem hellen Holzstuhl Platz genommen hatte.

Bevor sie zu reden begann, bemerkte sie, dass Frau Rupp braune Straßenschuhe aus Leder trug, die sie jetzt parallel zueinander in Stellung brachte. Ihren noch immer argwöhnischen Blick versuchte sie, mit einem freundlichen Lächeln zu neutralisieren. Es gelang ihr nicht, im Gegenteil. Frau Rupps Misstrauen schien durch diese angestrengte Verbindlichkeit noch an Schärfe zu gewinnen.

Sie eröffnete ihre zurechtgelegte Rede mit dem Satz: »Ich bin Ihrer Tochter wegen da, Frau Rupp. Wir gehen davon aus, dass Sie diejenige sind, die ihr am nächsten stehen?«

Sie erhielt keine Antwort. Also fuhr sie fort und überbrachte ihre Nachricht vom gewaltsamen Tod der Elvira Platzer. Dann schwieg sie und sah ihr Gegenüber aufmerksam an. Jetzt endlich hatte sich das Misstrauen in den kleinen blassblauen wässrigen Augen verflüchtigt, war einer vollständigen Leere gewichen.

Es war so ruhig in dem dunklen Zimmer, dass Paula das Ticken des Regulators wie das laute Schlagen einer Kirchturmuhr vorkam.

Nach einer Weile richtete sich Apolonia Rupp auf ihrer Stuhlkante kerzengerade auf und sagte halblaut: »Das musste ja so kommen.«

Die Art, wie sie anschließend ihre Augen kurz mit den Händen bedeckte, um die Hände dann betont langsam in den Schoß zu legen und dort zusammenzufalten, erschien Paula gekünstelt. Unecht wie das grüne Perlon-Spitzenband des Telefonschoners.

»Wenn Sie jetzt allein sein möchten, akzeptiere ich das natürlich. Dann komme ich gerne ein anderes Mal wieder. Wenn Sie sich aber stark genug dafür fühlen, Frau Rupp, dann würde ich Ihnen gleich hier und jetzt ein paar Fragen stellen.«

Das kurze Kopfnicken deutete sie als Einverständnis, bleiben und fragen zu dürfen.

»Sie haben gerade gesagt: Das musste ja so kommen. Das klingt, als hätten Sie damit gerechnet, dass Ihre Tochter auf diese grauenvolle Weise ums Leben kommt. Darf ich fragen, warum?«

Statt einer Antwort erhielt sie eine Gegenfrage. »Waren Sie denn nicht in der Wohnung? Haben Sie nicht den ekelerregenden, widerlichen Unrat, den ganzen Saustall dort gesehen? Den Schmutz und den Staub?«

»Doch, ja, schon, aber …«

»Na, dann wissen Sie ja, wie es um Elvira bestellt war. Meine Tochter hatte sich nicht unter Kontrolle, in keinster Weise. Sie neigte schon als Kind zur Disziplinlosigkeit, aber das hatte in den letzten Jahren ein Ausmaß angenommen, das unerträglich wurde. Einfach abscheulich!«

»Trotzdem verstehe ich nicht ganz, was das mit dem Mord zu tun hat.«

»Es heißt ja nicht umsonst, das Äußere ist immer auch ein Spiegelbild des Inneren. Ich pflege dazu zu sagen: Außen pfui, innen pfui! Ein Phänomen, das Ihnen als Kriminalkommissarin ja geläufig sein dürfte. Und für das meine Tochter das beste Beispiel war. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, vollständig. Es war ja nicht nur ihre Wohnung, die verwahrlost war. Sie hat sich auch sonst in jeder Hinsicht verkommen lassen. Allein wie sie schon angezogen war!«

Nach einer kurzen Pause fuhr Frau Rupp angeekelt fort: »Immer dieselben Sachen. Dann ihre mangelnde Körperpflege. Im Beruf ist sie mit dieser Einstellung natürlich auch wiederholt angeeckt. Anerkannt war sie von ihren Vorgesetzten jedenfalls nicht, bestenfalls geduldet. Und dann diese Arbeit, die ja keiner freiwillig machen will. Alten Leuten den Hintern abwischen, das ist doch kein Beruf für jemanden, der noch einen Funken Selbstachtung im Leibe hat. Und zu all diesem Übel hat sie auch noch geraucht wie ein Schlot! Wie ihre Haare immer gerochen haben, fürchterlich.«

Paula, selbst Raucherin und ebenfalls ohne jedes Talent zu einer mustergültigen Hausfrau, war so erschrocken über diesen Gefühlsausbruch oder vielmehr über die Wucht, mit der er sich entlud, dass sie sekundenlang schwieg.

Eigentlich hätte sie jetzt nachfragen müssen, inwieweit Schlamperei und Nachlässigkeit in den Augen der Apolonia Rupp ein derartiges Gewaltverbrechen rechtfertigten. Aber ihr war die Lust auf solche Fragen vergangen, die, sollten sie zu einem Erkenntnisgewinn beitragen, von ihr ein taktisches Feingefühl verlangt hätten, zu dem sie sich im Augenblick außerstande sah.

Sie sehnte sich nach einer Zigarette, ihrem Weinvorrat und dem staubigen Frieden ihrer telefonschonerfreien Wohnung. Nur weg hier, weg von diesem hartherzigen Monstrum einer Mutter, raus aus diesem bedrückenden Wohnzimmer mit seinen bleischweren Möbeln.

Also erhob sie sich und verabschiedete sich.

An der Wohnungstür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Ich werde demnächst wiederkommen. Ich habe noch ein paar Fragen an Sie.«

Es sollte wie eine Drohung klingen, aber da war die Tür schon ins Schloss gefallen.

Als sie wieder auf der Straße stand, sah sie in den sechsten Stock hoch. Sie fand schnell, was sie suchte: Die blütenweißen Stores mit dem Bleiband an der Unterkante waren ihr Wegweiser. Akkurat aufgefächerte Plisseegardinen von einem kalten kalkigen Weiß, das so emblematisch war für die Kaltherzigkeit der Frau, die nun hinter den Stores auf sie herabblickte und sie so lange mit ihrem hochmütigen Blick verfolgte, bis sie nach links in die Pirckheimerstraße abgebogen war.

Sie genoss den Heimweg. Noch immer hielt das Wetter, was es am frühen Morgen versprochen hatte: Es war trocken, mit dieser zarten Andeutung des Frühlings, der bald kommen wollte. Außerdem hatte sie soeben ein umfangreiches Sportprogramm absolviert, ihre Pflichten abgearbeitet und somit bereits für den morgigen Tag vorgesorgt.

Und sie hatte Glück: Die winzige Lotto-Annahmestelle in der Pirckheimerstraße war noch geöffnet; hier deckte sie sich mit ihrem Wochenbedarf an Zigaretten ein.

Nachdem sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, blieb sie in der Diele stehen und sah sich prüfend um. Ein Dielenschränkchen aus Fichte natur, eine Garderobe, fast eine Antiquität, wenn sie dafür nicht einen Tick zu neu und ramponiert gewesen wäre, ein mannshoher Spiegel – das war alles. Es war so herrlich leer und geräumig bei ihr, gleichzeitig aber musste das karge Mobiliar keine Mission erfüllen, war nicht mit dünkelhaften großbürgerlichen Insignien aufgeladen wie bei Frau Rupp. Diesem Entree sah man an, dass die Einrichtende auf subtile Tricks verzichtet hatte, dass es ganz aus einer Laune heraus sowie entsprechend der jeweiligen finanziellen Verhältnisse möbliert worden war.

Sie zog den Mantel aus, hängte ihn an den Haken und ging in die Küche, um sich dort ebenfalls mit Wohlgefallen umzusehen. Auch hier keinerlei Anspielungen, keine Dekoration, nur Gebrauchsmobiliar, ausgewählt mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip. Und – überall dünne gräulich weiße Staubschichten. Auch das empfand sie in diesem kurzen Moment der Wohnungsbesichtigung als überaus beruhigend, setzte sie sich doch damit so eindeutig wie augenfällig von der beschränkten Vorstellungswelt der Apolonia Rupp ab, die sie schon jetzt als Paradebeispiel der pathologischen Putzerin abqualifiziert hatte. Und zwar als eine von der Sorte, die ständig hinter ihren blitzsauberen weißen durchbrochenen Kunststoffgardinen lauerte.

Überhaupt war für Paula, die regelmäßiges Staubwischen für Zeitvergeudung hielt, überall da, wo es so sauber und keimfrei zuging wie bei der Mutter der Ermordeten, ein kleinlicher engstirniger Putzteufel daheim. Und so starrte sie mit einer gewissen Befriedigung auf die dünne Schicht auf dem Kühlschrank. Da ging ihr einer der Sinnsprüche ihrer Mutter Johanna, die über einen großen Fundus davon verfügte, aus dem sie mal ernst, mal ironisch zitierte, durch den Kopf: »Wo Staub liegt, herrscht Frieden.«

Auf dem Küchentisch standen zwei ihrer guten Kellergeister: ein sündteurer Riesling aus dem Rheingau und ein italienischer Chardonnay von 2010 aus dem Friaul, für den sie nicht einmal fünf Euro bezahlt hatte. Sie entschied sich für den Italiener, für den Conti di Colloredo, zum einen des verführerischen Namens wegen, zum anderen aus purem Trotz gegen Frau Rupp. Die würde, vermutete sie, sicher nur deutsche Weine, wahrscheinlich ausschließlich Frankenweine trinken, teure, hervorragende Bocksbeutel-Weine, die frei von jedem Verdacht waren, aus Lagen zu stammen, wo man es mit der Ordnung und Sauberkeit nicht ganz so genau nahm.

Nach dem ersten Schluck bereute sie ihre Wahl. Sie war wieder mal auf den wohlklingenden Namen hereingefallen, was ihr in letzter Zeit häufig passierte. Der Chardonnay war plump und aufdringlich, ohne jede Raffinesse und feine Fruchtigkeit. Dennoch würde sie ihm heute Abend die Treue halten, schon allein deswegen, um sich von Frau Rupp auch bei der Getränkewahl sinnfällig abzusetzen.

Nun war sie auf der Suche nach einem passenden Begleiter für den derb-vordergründigen Italiener. Sie entschied sich für breite Bandnudeln mit brauner Butter und geriebenem Emmentaler, diesmal nicht aus Gründen der Opposition, sondern einfach deswegen, weil ihr schlecht sortierter Haushalt momentan nichts anderes zu bieten hatte. Während des Essens schweifte sie gelegentlich in die Eichendorffstraße ab und versuchte sich vorzustellen, was bei Elvira Platzer abends auf dem Esstisch gestanden hatte. Wenn es überhaupt einen Tisch gab, an dem man essen konnte, das heißt: einen leeren Tisch. Viel konnte es nicht gewesen sein, so mager und ausgezehrt, wie das Opfer da in dem Flur vor ihr gelegen hatte.

Als sie bereits beim Nachtisch war, der sich aus einer Zigarette plus einem langen Blick auf die Kaiserstallung zusammensetzte, klingelte das Telefon. In Vorfreude über die Aussicht auf ein angenehmes Gespräch mit Paul Zankl nahm sie den Hörer bereits nach dem ersten Läuten ab. Es war tatsächlich Paul, der es in ihrem Leben mittlerweile zu einer festen Konstante geschafft hatte. Er wollte wissen, ob sie ihn am Freitagabend zu einem Heimspiel des 1. FCN begleitete.

»Ich habe von einem Arbeitskollegen zwei Dauerkarten bekommen. Im Block 15 B, beste Lage, Sitzplätze. Es wird ein hochinteressantes Spiel – der Club spielt gegen Schalke. Na, was ist, Paula? Gehst du mit? Machen wir uns einen schönen Freitagabend!«

Am liebsten hätte sie auf der Stelle Nein gesagt. Bei dieser Kälte zwei Stunden im Freien zu verbringen, das fand sie nicht hochinteressant, sondern öde. Extrem langweilig. Wenig verlockend. Doch da sie ihm in letzter Zeit schon etliche solcher Bitten abgeschlagen hatte, er ihr aber umgekehrt nicht, sie also in seiner Schuld stand, sagte sie erst mal nichts, sondern überlegte. Begab sich auf die Suche nach einer glaubwürdigen Entschuldigung, wobei sie jedoch auf die Schnelle nicht fündig wurde. Paul allerdings missverstand dieses nachdenkliche Schweigen.

»Gell, da bist du platt. Prima, du kommst also mit. Ich hol dich dann am Freitag von der Arbeit ab. Passt dir halb sechs?«

»Was, so früh? Das Spiel beginnt doch erst um acht.«

»Das ist nicht früh, das ist spät. Weil wir mit den Öffentlichen fahren. Mit dem Auto brauchst du es da gar nicht zu versuchen – keine Chance auf einen Parkplatz. Und dann wollen wir doch noch die Atmosphäre vor dem Spiel genießen. Ich sag dir, wenn du einmal das Lied ›Die Legende lebt‹ gehört hast, willst du ab sofort zu jedem Heimspiel. Das kann richtig zur Sucht werden. Das ist so was von ergreifend, da spielt das Ergebnis fast keine Rolle mehr. Du als Nürnbergerin müsstest da eigentlich jedes zweite Wochenende draußen sein.«

Er hatte schnell gesprochen und für einen Oberpfälzer erstaunlich viele Worte gemacht. Hatte er schon sein Tagesquantum von drei Halben Bier intus, oder war es die Vorfreude auf das Spiel, die ihn mitgerissen hatte?

»Also gut, wenn du bis Freitagfrüh nichts von mir hörst, geht das klar. Aber ich warne dich lieber schon mal vor: Ich habe nämlich seit heute einen Fall, einen ausgesprochen komplizierten, den wir in zehn Tagen gelöst haben müssen – vielleicht kann ich am Freitag gar nicht weg.«

»Da kannst du schon weg, da bin ich mir ganz sicher«, widersprach er gut gelaunt. »Du hast ja zwei Mitarbeiter, spann die doch ein. Und das kann ich dir gleich sagen: Wenn du jetzt wieder nicht mitkommst, nehme ich dir das gewaltig übel. Ich habe mir in letzter Zeit bei dir bloß Absagen eingefangen, ich mache doch umgekehrt auch alles mit, wenn du was von mir willst, beziehungsweise unterstütze dich, wo immer es geht!«

Sie zog eine Grimasse in Richtung Hörmuschel. »Ja, das weiß ich. Ich sag ja nur, dass es eventuell sein könnte, dass ich kurzfristig umdisponieren muss. Und außerdem habe ich ab heute nicht mehr zwei Mitarbeiter, sondern nur noch Heinrich. Und der kommt eigens morgen aus dem Krankenstand zurück, um mich bei diesem dringenden Fall zu unterstützen.«

Nachdem Paul nichts darauf sagte, nicht einmal nach den Gründen fragte, die zu diesem Knall auf Fall halbierten Mitarbeiterstab geführt hatten, ahnte sie, was er von ihr erwartete – eine endgültige Zusage ohne Wenn und Aber.

»Aber ich denke schon, dass ich es einrichten kann. Das wird bestimmt klappen, Paul.«

Als sie immer noch nichts von ihm hörte, setzte sie hinzu: »Das klappt hundertprozentig. Also dann sehen wir uns spätestens Freitag um halb sechs vor dem Präsidium.«

Nachdem er nun endlich gehört hatte, was er hören wollte, stellte er die Fragen, die sie hören wollte. Am Ende des zweiundsiebzigminütigen und stellenweise sehr vergnüglichen Telefonats hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen: »Ich freu mich schon auf das Spiel, schön, dass wir so tolle Plätze haben.«

Noch lange, nachdem er aufgelegt hatte, dachte sie über ihre feste Zusage nach. Jetzt hatte er sie doch noch drangekriegt. Vielleicht würde es ja ganz nett werden. Zumindest war es eine neue Erfahrung, die in drei Tagen auf sie zukommen würde. Aber das Beste daran war: Das Haben-Soll-Konto zwischen seinen und ihren Kompromissen war damit ausgeglichen. Na ja, fast. Ab Freitagabend stand der Zähler bei ihr auf jeden Fall wieder auf null.