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So weit, so gut. Und Trommens immer noch offene Teilrechnung? Keine Sorge, er hat bezahlt, mit Zins und Zinseszins. Und das – fast – ohne Zutun Paula Steiners. Durch einen dummen, oder sollte man nicht besser sagen: blitzgescheiten Zufall, wie ihn nur das Leben schreibt.
Exakt eine Woche, nachdem die Kommission den Doppelmord geklärt, ihren Fall gelöst hatte, kam der oberste Dienstherr des Polizeipräsidiums Mittelfranken zu Besuch. Einmal im Jahr lädt sich der Innenminister des Freistaats Bayern bei den Nürnbergern ein. Das ist so Usus, die Innenminister kommen und gehen, aber diese Gewohnheit bleibt bestehen. Die Untergebenen vom Jakobsplatz reagieren auf diesen allerhöchsten Besuch mit durchaus gemischten Gefühlen. Die einen gelangweilt bis leicht genervt, andere wiederum mit einer emotionalen Kälte, die fast schon erschreckend ist, und manche freudig-erwartungsvoll. Es versteht sich von selbst, dass Jörg Trommen zur dritten Gruppe gehörte, ja, eigentlich als ihr inoffizieller Anführer galt. Er hoffte beziehungsweise er war sich sehr sicher, auch wegen seiner hervorragenden Beziehungen zum Leitenden Kriminaldirektor, dem Staatsminister persönlich vorgestellt zu werden. Und bei dieser Gelegenheit dem hochrangigen Gast seine Verdienste und Erfolge in jenen leuchtenden Farben schildern zu können, die diesem gewiss in Erinnerung bleiben würden, um dann, wenn eine Neubesetzung anstünde, ihre Wirkung zu zeigen.
Trommen dachte in diesem Zusammenhang eine lange Zeit an Fleischmanns Position, kam dann aber, je näher der Termin rückte, zu der Einsicht, dass ein Leitender Kriminaldirektor wesentlich besser zu ihm passe. Dafür nahm er sogar eine zwei Wochen andauernde Diät auf sich. Denn die Polizeiuniform, die er – wie alle Angehörigen seines Sachbereichs – an diesem entscheidenden Tag zu tragen beabsichtigte, zwackte hier und dort. Vor allem an den Hüften hatte der Kommissionsleiter zugelegt, währenddessen die Jacke an den Schultern seltsamerweise blähte. Mit Hilfe seiner Frau und ihrer Engelsgeduld hatte er sich vierzehn Tage lang ausschließlich von lauwarmer Gemüsebrühe ernährt, ein Verzicht, der ihm an diesem so wichtigen Montag anzusehen war. Jacke und Hose schienen ihm wieder auf den Leib gebügelt zu sein.
Nun endlich war der große Tag gekommen. Paula Steiner hatte in der Früh erstaunt und erfreut zugleich festgestellt, dass Eva Brunner in Zivil erschienen war, genau wie Heinrich und sie selbst. Es war exakt dreizehn Uhr fünfundvierzig, der Minister war seit einer knappen Stunde im Haus, als sie ihr Büro verließ, um die Kantine für ein spätes Mittagessen aufzusuchen. Ebenfalls um dreizehn Uhr fünfundvierzig verließ der Staatsminister die Kantine, wo er mit Fleischmann und Bauerreiß das Montagsmenü eingenommen hatte, nämlich Putenschnitzel mit Reis und als Dessert Obstsalat. Kaffee und dieser herrliche Zwetschgenkuchen aus der kleinen Bäckerei in der Maxfeldstraße sollten dann sozusagen als kulinarischer Höhepunkt des Nachmittags im Zimmer des Leitenden Kriminaldirektors folgen. Da sich der Innenminister innerhalb des Präsidiums so sicher wie in seiner Staatskanzlei fühlte – und dazu auch allen Grund hatte –, verzichtete er auf jeglichen Begleitschutz, als er sich auf den Weg in die Teppichetage einen Stockwerk tiefer machte. Er betrat den Lift um dreizehn Uhr sechsundvierzig und hätte diesen zehn Sekunden später wieder verlassen können, wenn nicht Paula Steiner den Aufzug kurze Zeit zuvor in ihre Etage gerufen hätte. So also fuhr der Aufzug inklusive seinem staatsministerlichen Fahrgast ins erste Stockwerk, um dort eine überraschte und auch ein wenig peinlich berührte Kommissarin aufzunehmen.
Freundlich, aber knapp grüßte sie ihren obersten Chef mit einem unverfänglichen fränkisch-bayerischen »Grüß Gott«. Der Minister erwiderte den Gruß mindestens ebenso freundlich, wenn auch leutseliger: »Grüß Gott. Wir haben anscheinend den gleichen Weg, Frau …?«
»Steiner. Das glaube ich nicht. Sie möchten doch sicher zu Herrn Bauerreiß oder Herrn Fleischmann. Und ich will in die …«
Bevor sie weiterreden konnte, hielt der Aufzug mit einem kräftigen Ruck. Minister und Kommissarin sahen sich fragend an. Paula Steiner, die sich instinktiv für den hohen Gast verantwortlich fühlte, sagte betont zuversichtlich: »Einen Augenblick. Das werden wir gleich haben.«
Sie drückte auf alle Knöpfe, erst langsam von oben nach unten, dann, nachdem die erhoffte Wirkung ausblieb, nochmals von unten nach oben, mit viel Druck – wieder nichts. Schließlich kam die Ultima Ratio in solchen Fällen zum Einsatz, der rote Notruf-Knopf – auch dies ohne die wünschenswerten Folgen. Natürlich hatten weder sie noch gar der Minister ihre Handys dabei. So blieb nur das Rufen.
Ein paar Minuten verstrichen, bis endlich jemand auf die festgeklemmte Zweierbesatzung aufmerksam wurde. Es war Winkler, Trommens Vertreter. Nachdem er vernommen hatte, welch brisante Fracht im Präsidiumslift feststeckte, versprach er so eilfertig wie aufgeregt: »Ich werde mich um alles kümmern, Herr Minister. Sofort. Augenblicklich. Sie können sich auf mich verlassen, Herr Minister. Keine Sorge, Sie sind bald wieder befreit, Herr Minister.«
Es dauerte dann doch immerhin sieben Minuten, bis der Herr Minister wieder befreit war. Eine lange Zeit, wenn man mit Paula Steiner, die noch eine Teilrechnung offen hat, in einem Aufzug festsitzt. Das war ihre Chance, und sie nutzte sie. Erzählte ihrem Gegenüber auf dessen aus Gründen des Zeitvertreibs, weniger aus Interesse gestellte Frage von dem gelösten Fall Shengali, kam dann auf ihre »klitzekleine, aber gerade deswegen so hocheffiziente Kommission« zu sprechen und lobte den hohen Gast aus München für dessen Klugheit, »bei der Aufteilung der Mordkommissionen sowohl auf große als auch kleine Unterkommissionen zu setzen«.
Sie übertrieb es nicht mit ihren anerkennenden Worten, machte aber deutlich, dass es nur auf diese Tatsache, also auf die ministerielle Weitsicht zurückzuführen war, dass das Präsidium Mittelfranken so erfolgreich agierte, erfolgreicher gar als die Münchner von der Landeszentrale. Was man im Grunde nur einem zu verdanken habe – nämlich dem Herrn Minister, einem Mittelfranken, der wie alle Neubayern eine gepflegte Aversion gegen die lauten, selbstbewussten Mia-san-mia-Oberbayern hatte.
Als der Aufzug schließlich eine halbe Etage nach oben glitt und die Lifttür sich öffnete, sah sie als Erstes in Trommens verdutztes und leicht panisches Gesicht. Dann erkannte sie den Hausfotografen, der dieses denkwürdige Ereignis für die Hauszeitschrift festhalten sollte. Und schließlich Kriminaldirektor Bauerreiß, der seinen Chef fragte, ob er etwas dagegen einzuwenden habe, wenn man ihn vor diesem denkwürdig unzuverlässigen Lift ablichten würde. Nein, antwortete der Minister vergnügt, überhaupt nicht, aber nur wenn die charmante Frau Steiner, die ihm die Wartezeit so unterhaltsam verkürzt habe, dass er es schon fast bedauere, nicht mehr im Lift festzustecken, haha, mit auf das Bild käme.
Es war die erste und bislang einzige Ausgabe der hausinternen Zeitung, die Paula Steiner aufmerksam las und nicht sofort im Papierkorb entsorgte. Das fröhlich-entspannte Bild von dem ihr zulachenden Minister ließ sie vergrößern und pinnte es auf die Außenseite ihrer Bürotür. Das war als Zins- und Zinseszins-Abgeltung gegenüber Trommen gedacht und im Grunde eine ziemliche Gemeinheit. Denn der Kommissionschef musste auf dem Weg in sein Büro jeden Tag an dieser Tür und ihrer beider Konterfei vorbei.
Es versteht sich von selbst, dass nach diesem Aufzugs-Debakel für Trommen oder Aufzugs-Glücksfall für Paula Steiner nie wieder die Rede von einer Zusammenlegung der Kommissionen 1 und 4 war.