9
Als sie wenig später ihr Büro betrat, klingelte gerade ihr Telefon. Eva Brunner nahm ab und reichte dann den Hörer an sie weiter.
»Hier Blahotova Susanka. Sie hatten doch gesagt, ich darf mich bei Ihnen melden.«
»Ja, natürlich, gerne sogar. Was ist Ihnen denn in der Zwischenzeit eingefallen?«
»Mir ist nichts eingefallen, aber aufgefallen ist mir«, antwortete die Tschechin ungewohnt schnell und mit vorwurfsvollem Ton, »dass jemand meine Schlüssel gestohlen hat.«
»Welche Schlüssel?«, fragte sie verwundert nach.
»Die Autoschlüssel für den Audi.«
»Ach so, die. Die sind nicht gestohlen, die Schlüssel für den Audi hat die Polizei sichergestellt. Wo sind Sie denn jetzt?«
»Oben in Karstens Büro. Aber der Audi steht doch unten in der Tiefgarage. Wann kriege ich die Schlüssel wieder?«
»Vorerst nicht. Genauso wenig wie den Wagen selbst. Der bleibt so lange in Verwahrsam, bis der Fall abgeschlossen ist.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Sehr, sehr lange. Wochen, vielleicht Monate. Brauchen Sie denn momentan das Auto so dringend? Haben Sie keinen eigenen Wagen?«
»Doch, natürlich«, schoss es entrüstet zurück.
»Na, dann nehmen Sie halt den derweil.« Paula Steiner merkte, wie sie unruhig wurde und ihr die Geduld ausging. Viel fehlte nicht mehr, dann würde sie dieses Gespräch so abrupt wie grußlos beenden …
»Das geht nicht. Der Spider ist schon abgemeldet. Wir melden ihn immer Anfang September ab. Das ist mehr ein Auto für schönes Wetter, nicht für die kalte Jahreszeit.«
Bei dem Stichwort »Spider« hatte sich ihr Geduldskonto schlagartig wieder aufgefüllt. Sie war jetzt die Ruhe in Person und vor allem voller Bewunderung für ihre Gesprächspartnerin.
»Ein Spider, sagten Sie? Was für ein herrlicher Wagen, ein Traum von einem Auto! Das ist ja was ganz Seltenes. Sicher ein Oldtimer?«
»Ja, natürlich. Aus dem Jahr 1966. Frau Steiner, kriege ich jetzt den Audi oder nicht?«
Sie überhörte diese überflüssige, da mehrfach beantwortete Frage und erkundigte sich stattdessen: »Wo befindet sich denn Ihr Spider momentan?«
»Warum möchten Sie das wissen?«, kam prompt die ungehaltene Gegenfrage.
»Weil bei einem Mordfall alles von Bedeutung sein kann.«
»Mein Auto ist nicht von Bedeutung.«
»Ob der Wagen von Bedeutung ist oder nicht, überlassen Sie uns. Also, wo steht er?«
»Bei Hersbruck, in einer Scheune. Auf dem Land.«
»Wo genau?«
Widerwillig und pikiert nannte die Alfa-Eigentümerin die Adresse, die sie notierte. Sie wollte Frau Blahotova noch fragen, wofür diese den Audi so dringend brauchte, doch da hatte die Tschechin schon in die Tat umgesetzt, was ursprünglich der Plan der Kommissarin gewesen war – sie hatte das Gespräch abrupt und grußlos beendet.
Eine Sekunde nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, klingelte das Telefon wieder. Es war Klaus Dennerlein.
»Du hattest recht, Paula, in dem Chrysler waren tatsächlich Fingerabdrücke. Aber nur auf dem Innenspiegel. Der Täter wird wohl vergessen haben, den abzuwischen. Oder der Spiegel ist bei der professionellen Rundumreinigung übersehen worden. Sollen wir den Wagen noch weiter auswerten?«
»Nein. Den könnt ihr an Frey zurückgeben. Zu den Fingerabdrücken auf dem Innenspiegel: Mach mal einen Abgleich mit den Abdrücken von Kramer. Ich glaube, das lohnt sich. Und noch was, Klaus. Ich weiß jetzt, wo die Mordwaffe, der Wagenheber, ist. Beziehungsweise ich bin mir ziemlich sicher. Wenn ihn Kramer nicht zwischenzeitlich entsorgt hat. Aber so, wie ich den einschätze, hat er den wieder an Ort und Stelle zurückgebracht. So eine Antiquität schmeißt der nicht einfach weg.«
»Und wo ist dieser Wagenheber?«
»In einer Scheune im Nürnberger Land. Bei Hersbruck. Er gehört zu einem Alfa Spider aus dem Jahr 1966.«
»Den möchte ich mir anschauen.«
Sie gab Dennerlein die Adresse und war froh, schon mal diese Sache vom Hals zu haben. Anschließend setzte sie ihre Mitarbeiter über die zwei aufschlussreichen Telefonate mit Klaus und der Blahotova in Kenntnis. So, jetzt blieben nur noch die Telefonliste und die Kundenkartei des privaten Arbeitsvermittlers. Beides reine Fleißaufgaben, notwendig, lästig, zeitraubend und wahrscheinlich unergiebig – also genau die passende Herausforderung für eine pflichtbewusste, aber redselige Assistentin. Damit wäre diese die nächste Zeit schon mal außer Gefecht gesetzt. Mindestens zwei volle Tage Quasselpause in ihrem Büro – das war die Sache wert.
»Frau Brunner, ich habe zwei Bitten an Sie: Lassen Sie sich Kramers Kundenkartei von seiner Sekretärin geben. Ich möchte wissen, wie umfangreich diese Kartei war und ob es Firmen gibt, mit denen er signifikant oft, also besonders«, berichtigte sie sich umgehend, »oft zusammengearbeitet hat. Und besorgen Sie sich die Telefonlisten von Kramers Büroanschluss sowie von seiner Privatnummer. Bei denen interessiert mich vor allem der gestrige Vormittag und auch der Tag zuvor, der ganze Montag. Denn der Kramer wird wahrscheinlich gewusst haben, dass er am Abend Besuch bekommt. Seine Freundin und seine Sekretärin haben das beide bestätigt. Um achtzehn Uhr ist er von der Schmausenbuckstraße weggefahren, also war er gegen halb sieben spätestens im Frauentorgraben. Wer kümmert sich eigentlich um Kramers geleasten Audi?«
»Das mache ich«, meldete sich Heinrich. »Denn dein Wagenheber kann genauso gut da drin zwischengelagert sein.«
»Das glaube ich nicht, Heinrich. Wenn es so ist, wie wir jetzt mal annehmen, dann hat der Kramer Shengali fast den ganzen Tag spazieren gefahren. Von acht Uhr in der Früh bis abends um halb zwölf. Als er Shengali vor dem Wasserwerk deponiert hat, war der Wagenheber längst wieder an Ort und Stelle, davon bin ich überzeugt. Und dann, denk doch mal nach: Wer von Hersbruck nach Nürnberg über die Bundesstraße fährt, kommt automatisch bei Erlenstegen raus und damit am Wasserwerk vorbei. Jawohl, das ergibt einen Sinn. Den Wagenheber muss er sich schon vorher aus der Scheune, aus seinem Alfa geholt haben.«
Ihre beiden Mitarbeiter nickten zustimmend. Sie deutete das als Aufforderung, ins fiktive Detail zu gehen. »Kramer hat Shengali um acht Uhr in der Früh auf dieser Kindinger Parkbucht den Schlag versetzt, ihn dann in den geliehenen Crossfire gepackt und ist los. Zweieinhalb Stunden später stirbt Shengali, erliegt seiner schweren Verletzung. Das heißt: Kramer bleibt jede Menge Zeit, bis er sein Opfer – am besten im Schutz der Dunkelheit – wieder loswerden kann. Das passiert abends um halb zwölf, das wissen wir von diesem Rentner, den Frau Brunner befragt hat. Irgendwann im Laufe dieses Montags, in dieser Zeitspanne von acht Uhr früh bis fast Mitternacht, fährt Kramer in dieses Dorf bei Hersbruck, legt den Wagenheber wieder in den Spider, fährt zurück nach Nürnberg und entsorgt Shengali dort gleich am Ortseingang, nämlich vor dem Wasserwerk. Ja, und dann musste er sich nur noch um den Crossfire kümmern. Er hat sicher erst selbst versucht, die Spuren zu beseitigen, schließlich aber erkannt, dass das nicht ausreicht und den Wagen in die Autowaschanlage gebracht. Es gibt ja jetzt solche Speziaireinigungen, da wird auch der ganze Innenraum mit allem möglichen Pipapo von Grund auf sauber gemacht. Ich kenne mich da nicht so aus …«
»Aber ich«, unterbrach sie Eva Brunner. »Ich habe mich schon erkundigt. In Zabo zum Beispiel gibt es so eine Art Autowaschsalon, die haben ein Extrahiergerät für die Innenraumnassreinigung. Damit kriegt man neunundneunzig Prozent aller lösbaren Flecken aus den Polstern und Teppichen heraus. Neunundneunzig Prozent!«
»Aha, gut recherchiert«, bemerkte Paula Steiner anerkennend. »Kramer hat sich darauf verlassen, dass das, also die neunundneunzig Prozent, ausreicht. Eine Woche später, am Montagvormittag, wollte er den Wagen an Frey zurückbringen, aber da sind wir, Heinrich und ich, ihm in die Quere gekommen. Also hat er den Rückgabetermin verschoben. Auf den späten Nachmittag oder Abend. Genau so war es.«
»Dann besteht ja die Chance«, ergänzte Heinrich, »dass irgendwer in diesem Kaff bei Hersbruck den Kramer in dem Crossfire gesehen hat. Ein auffälliges Auto, zumindest auffälliger als ein schwarzer Audi. Also müssen wir auch da nach möglichen Zeugen suchen. Wer soll das deiner Meinung nach übernehmen?«
Sie deutete lächelnd mit dem Zeigefinger auf ihn. »Immer der, der fragt.«
»Gut, ich mache das. Und auch Kramers Konten schaue ich mir morgen an.«
»Ja, darum wollte ich dich sowieso bitten.« Das war gelogen. Diese Routinearbeit hatte sie bislang schlicht vergessen. Sie war Heinrich und auch Frau Brunner in diesem Moment dankbar, dass sie ihr all die lästigen Pflichtaufgaben so beflissen und entgegenkommend abnahmen. Und dieses kleine, gut eingespielte Team sollte demnächst aufgelöst, die fette Beute des Kollegen Trommen werden …
»Aber mal was anderes, Paula. Willst du unseren grandiosen Ermittlungserfolg nicht nach oben melden? Das würde unserer Kommission beim derzeitigen Stand der Bestrebungslage doch guttun, oder? Wenn wir schon den ersten Fall so gut wie gelöst haben.«
»Natürlich werde ich das nach oben weitergeben. Und wie ich das nach oben geben werde! Das ganze Haus soll noch heute davon erfahren, wie schnell und professionell und überhaupt wir, inklusive Ihnen, Frau Brunner, arbeiten. Aber den Fall haben wir, nur unter uns gesagt, eben leider noch nicht gelöst, Heinrich. Wir haben zwar vielleicht den Täter, aber überhaupt kein Motiv. Und das brauchen wir für Fall zwei ganz dringend.«
»Was ist mit der Gutschein- und Prämiengeschichte? Du hast doch immer gesagt, da ist was zu holen?«
»Nein, da habe ich mich geirrt, das glaub ich nicht mehr. Wie schon gesagt, dafür ist das zu wenig Geld. Außerdem hat keiner von den Freys ein Hehl daraus gemacht. Das ist zwar eine Sauerei, aber eine ganz legale. Die Entner hat das ja bestätigt. Nein, die Sache hat damit zu tun, aber nicht zentral als Auslöser. Eher als Klammer, die beide Fälle zusammenhält. Davon bin ich nach wie vor überzeugt.«
Sie hielt inne und schwieg. Sie sah Stefanie Vitzthum vor sich, wie sie ihren Mann aufforderte: »Chanim, erzähl auch das mit den Anzeigen und den Gutscheinen. Das passt doch genau zu diesem Thema.« Warum durfte sie nicht weiterreden? Wenn das doch alles legal war? Weil sich dahinter etwas verbarg, was eben nicht legal war. Eine noch größere Sauerei. Von der alle, die Freys, Kramer, Shengali und Ostapenko wussten. Und auch Ostapenkos Ehefrau.
»Du denkst, bei deinem Auslöser handelt es sich um etwas ganz Großes, auch in punkto Geld. Zumindest für den Kramer und eventuell auch für die Freys. Um etwas, was sich nicht gehört. Um etwas, was ganz offensichtlich nicht in Ordnung ist. Und zwar in beiden Fällen. Meinst du das?« Konnte Heinrich mittlerweile auch ihre Gedanken lesen? Denn besser hätte auch sie ihre stummen Überlegungen nicht paraphrasieren können.
»Ja, so in der Richtung.«
»Mal eine andere Frage: Was machst du eigentlich, während wir, die Eva und ich, unsere Hausaufgaben erledigen?«
»Ich? Ich habe genug zu tun. Zuerst schreibe ich eine wohlüberlegte, ausgetüftelte Mail an unseren Chef, und dann …«
»Warum gehst du nicht zu ihm und berichtest ihm persönlich? Das geht doch viel schneller«, unterbrach Heinrich sie.
»Na, Herr Oberkommissar, die Frage hättest du dir aber sparen können, bei deinem hochentwickelten kriminalistischen Spürsinn.«
»Ach, wegen der Reußinger.«
»Exakt. Und außerdem wollte er von mir einen schriftlichen Bericht. Und danach werde ich die wichtigste Zeugin befragen, die ich bislang vernachlässigt habe.«
»Wer sollte das sein?«
»Frau Vitzthum. Die wird mir hoffentlich all das sagen, was sie weiß und was sie bislang nicht sagen durfte.«
Für den Bericht brauchte sie mehr als zwei Stunden. Als sie ihn endlich abschickte, waren ihre Mitarbeiter längst nach Hause gegangen. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Diesen Bericht konnte man an höchster Stelle vorzeigen. Das war Wischiwaschi von der allerfeinsten Sorte.
Sie schaltete erst den Computer, dann das Licht aus, zog ihre Jacke an und wollte soeben die Tür verschließen, als ihr Telefon klingelte. Nach kurzem Zögern nahm sie ab. Klaus Dennerlein meldete sich.
»Gut, dass ich dich noch erwische, Paula. Ich bin gerade in der Scheune bei Hersbruck. Der Spider ist weg, nur die zwei Nummernschilder mit dem Historisch-Kennzeichen sind noch da. Hast du dafür eine Erklärung?«
»Ja, habe ich.« Sie erzählte ihm von der Besitzerin des Oldtimers, einer gewissen Susanka Blahotova, die jetzt sicherlich in Richtung deutsch-tschechische Grenze fuhr, wahrscheinlich mit den ungültigen Kennzeichen eines geleasten Audi A4. Wenn sie nicht schon in ihrer Heimat Prag war.
»Ja, spinnt die?«, ereiferte sich Dennerlein. »Die kann doch nicht einfach Beweismaterial entwenden!«
»Na ja, ich hab es ihr nicht ausdrücklich verboten. Das war mein Fehler, Klaus.«
»Das ist mir so was von wurst«, brüllte Dennerlein ins Telefon, »wessen Fehler das war. So geht’s nicht. Die lass ich ausschreiben, samt ihrem Spider. Gib mir mal das Kennzeichen von dem Audi.«
Sie schaltete das Licht wieder ein und ging zum Aktenschrank, griff nach dem Hängeregister »Shengali, Abdulaziz« und setzte sich mit einem leisen Seufzer an ihren Schreibtisch. Während sie nach Eva Brunners Eintrag suchte, redete sich Dennerlein am anderen Ende des Telefons in Rage.
»Das ist ja ein Herzchen, diese Blahotova. Ihr Alter ist noch nicht mal richtig kalt, geschweige denn unter der Erde, da sucht die schon das Weite. Die muss ja gleich, nachdem ihr bei ihr wart, die Koffer gepackt haben und abgehauen sein. Das spricht alles für die ganz, ganz große Liebe. An deiner Stelle würde ich die mal genau unter die Lupe nehmen. Da stimmt doch was nicht, so wie die reagiert. So reagiert nur jemand, der gehörigen Dreck am Stecken hat.«
»Klaus, schrei doch nicht so. Ich bin noch nicht schwerhörig, werde es aber bald, wenn du weiter so plärrst. Das war eben mehr eine Zweckgemeinschaft. Sie hat Kramer ihre Schönheit und Jugend zur Verfügung gestellt, er hat sie dafür finanziell versorgt, und zwar sehr gut versorgt. Das ist doch kein Verbrechen, Klaus. So was kommt vor.« Wo war die Aktennotiz mit dem geleasten Wagen? Sollte die gewissenhafte Frau Brunner die einfach vergessen haben?
»Paula, jetzt mal ehrlich, würdest du so was machen? Am selben Tag, an dem sie dir den Mord an deinem Lebensgefährten mitteilen, einfach packen und weggehen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich heiße auch nicht Susanka Blahotova, bin nicht so schön, kann mich Gott sei Dank selber ernähren und muss mich nicht von einem Mörder mit glatten kinnlangen blonden Haaren aushalten lassen. Vor allem über Letzteres bin ich übrigens sehr froh. So, jetzt aber, ich hab die Nummer.«
Nachdem sie ihm das Kennzeichen durchgegeben hatte, sagte Dennerlein leise und voller Bitterkeit: »Ihr seid doch alle kalte, hartherzige Weiber!« Dann hängte er grußlos ein.
Sie konnte an dem Verhalten der Tschechin nichts Verwerfliches entdecken. Obwohl, ein wenig seltsam war das schon. Keine Träne, keine Verzweiflung, kein Zusammenbruch, keine Frage, wie es geschehen war, wer es gewesen sein konnte, gar nichts. Keine Trauer, nur kühles Kalkül. Die Welt der Blahotova war ihr fremd. So fremd und undurchsichtig wie die von Karsten Kramer. Ein Mann, der in einem mit wertvollen Antiquitäten möblierten Zimmer Lager- und Staplerfahrer empfing. Der seine weiße Wohnung mit einem wurmstichigen volkstümlichen Altar aufpeppte. Ein Mann, der einen Berufskraftfahrer mit einem Wagenheber aus den sechziger Jahren niederschlug, ihn dann barbarisch verbluten ließ und ihn zum Schluss noch mit einer symbolhaften Geste ausstaffierte, aufpeppte wie sein Schlafzimmer mit einer Kreuzigungsgruppe. Was war das für ein Mensch? Das war auf jeden Fall jemand, dem die Oberfläche der Wahrnehmung von außen über alles ging. Weil er den Kern, der sich darunter verbirgt, mit allen Mitteln, auch mit denen der Gewalt, geheim halten wollte. Und was verbarg sich im Kern, im Innersten des Agenturleiters, was keiner wissen durfte?
Nach einer Weile stellte sie diese düsteren wie unergiebigen Grübeleien ein und schrieb stattdessen auf einen Zettel: »An Heinrich. Spar dir das mit der Zeugensuche! Kümmere dich bitte vorrangig um Kramers Konten. Danke, Paula«.
Sie fühlte sich plötzlich so erschöpft, dass sie am liebsten den Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt hätte. Da klopfte es an ihre Bürotür. Sie schrak auf. Erst beim zweiten Klopfen sagte sie unsicher: »Ja, bitte.«
Der späte Gast war eine ebenso unsichere Sandra Reußinger, die abwartend im Türrahmen stehen blieb. »Ich habe bei Ihnen noch Licht gesehen, Frau Steiner. Aber ich kann auch morgen wiederkommen, wenn ich jetzt störe.«
Sie schüttelte verneinend den Kopf. Sie war noch so in der ihr fremden Welt des Karsten Kramer gefangen, dass sie für einen Moment keine Erklärung für diesen seltenen Besuch hatte, auch gar nicht danach suchte. Doch dieser Moment währte nicht lang. Als die Chefsekretärin nach dieser stummen, aber eindeutigen Einladung immer noch abwartend im Türrahmen stand, fiel ihr deren forsches Auftreten vom heutigen Vormittag wieder ein. Ah, der späte Gast war gekommen, um sich zu entschuldigen. Sie entschloss sich, es ihrer Intimfeindin leicht zu machen. Erstens war sie müde. Zweitens erinnerte sie sich an ihr durchaus ernst gemeintes Vorhaben, in Zukunft mehr auf die Gefühle der anderen zu achten. Drittens, und das war der eigentliche, der ausschlaggebende Punkt, wollte sie die nun folgende, offenbar unumgängliche Peinlichkeit für beide Seiten so kurz wie möglich halten. Vor allem für sich selbst.
»Kommen Sie doch herein, Frau Reußinger. Und setzen Sie sich an Herrn Bartels’ Schreibtisch, wenn es länger dauern sollte«, sagte sie wachsam, aber nicht streitlustig. Es klang wie »Bringen wir es schnell hinter uns«.
Artig nahm die Sekretärin auf Heinrichs Stuhl Platz, atmete einmal tief durch, dann schweifte ihr Blick nach rechts zum Fenster, in dem sich ein einsames Licht aus dem Gebäudeflügel gegenüber spiegelte.
»Also«, begann sie leise, »ich habe mich heute Morgen bei Ihnen gewaltig danebenbenommen. Es geht natürlich nicht an, dass ich Arbeit an Sie verteile. Ich habe meine Kompetenzen bei Weitem überschritten. Das tut mir leid, und ich bitte Sie dafür um Entschuldigung.« Ihre Stimme klang beherrscht.
Das war der offizielle, einstudierte Teil, dem umgehend, ohne dass die Kommissarin die Chance ergreifen konnte, sich und ihrer Intimfeindin weitere Minuten der Verlegenheit zu ersparen, der inoffizielle, improvisierte folgte.
»Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist. Das hab ich noch nie gemacht. Ich kann manchmal richtig ekelhaft sein, gell? Und vor allem zu Ihnen, Frau Steiner. Und ich will das eigentlich gar nicht, meistens zumin…«
»Ich bin ja auch nicht immer die Verträglichste, Frau Reußinger«, unterbrach sie das Gestammel von gegenüber. »Ich kann auch manchmal richtig ekelhaft sein. Meistens gleicht es sich dadurch unter uns beiden ja wieder aus, oder?«
Sandra Reußinger nickte heftig und erleichtert. »Ja, das tut es.«
Schließlich fragte sie noch allen Ernstes: »Vielleicht zoffen wir deswegen so oft miteinander, weil wir uns so ähnlich sind?«
Eine sehr gewagte, aus den Untiefen der Vulgärpsychologie hergeholte Theorie, über die Paula Steiner schmunzeln musste. Mit einem raschen Heben und Senken der Schultern gab sie ihrem Alter ego zu verstehen, dass die Frage nicht so leicht zu beantworten sei.
»Heißt das denn, Sie nehmen meine Entschuldigung an?«
»Ja, das heißt es. Und jetzt vergessen wir die ganze Sache.«
»Gut. Da bin ich aber froh. Jetzt kann ich ganz entspannt heimgehen. Danke, Frau Steiner.«
Bevor ihre Besucherin sich ganz entspannt auf den Heimweg machen konnte, wollte sie von ihr noch etwas wissen.
»Eine letzte Frage, Frau Reußinger, hätte ich noch, die mit dieser schon vergessenen Sache nichts – ich betone: nicht das Geringste – zu tun hat. Sie müssen auch nicht antworten. Hat Herr Fleischmann Sie zu mir geschickt oder sind Sie aus freien Stücken gekommen?«
Da drehte sich die Sekretärin ihres Chefs erstaunt um, sah ihr fest in die Augen und sagte, ohne zu zögern: »Ich bin natürlich aus freien Stücken zu Ihnen gekommen. Glauben Sie denn, ich lasse mir von jemandem, selbst wenn es mein Chef ist, so etwas anschaffen? Das würden Sie doch auch nicht machen, oder?«
Sandra Reußinger wartete eine Antwort auf ihre hypothetische Frage nicht ab, sondern verschwand nun endgültig mit einem fast herzlichen »Auf Wiedersehen bis morgen, Frau Steiner« aus dem Zimmer.
Was für ein denkwürdiger Tag! Der Tag, an dem sich die Reußinger bei ihr entschuldigt hatte! Aus freien Stücken! Am liebsten wäre auch sie jetzt ganz entspannt heimgegangen, zu ihrem Weinkeller und zu ihrem leeren Kühlschrank. Da aber Paula Steiner zu den Menschen gehörte, die sich nur dann wohlfühlen und mit sich zufrieden sein können, wenn sie ihre Pflichten gewissenhaft abgearbeitet haben, ging sie nicht heim, sondern fuhr Richtung Galgenhof.
Auf dem Weg in die Rankestraße hielt sie in der Südstadt an und kaufte in einem türkischen Gemüseladen Zwiebeln, Tomaten, eine Paprikaschote und vier Eier. Es war kurz nach acht Uhr, als sie direkt vor Ostapenkos Wohnung ihren Wagen parkte. Sie hatte sich vorgenommen, dass sie, sollte beim ersten Klingeln niemand aufmachen, sofort umkehren und heimfahren würde.
Leider schnappte die Haustür schon kurz nach dem ersten Läuten auf. Oben am Treppenabsatz stand Stefanie Vitzthum, einen bettfeinen Buben im Arm. Er trug einen hellblauen Schlafanzug, über und über mit kleinen Bären verziert, hatte blondes Haar und das kreisrunde Gesicht seines Vaters. Er strahlte sie an, mit nach vorn gestülpten Lippen und fest geschlossener Zahnreihe.
»Ich hab schon Zähne geputzt, schau!«, krähte er ihr stolz als Begrüßung entgegen.
»Toll, ganz toll! Ich noch nicht, Lukas«, erwiderte sie anerkennend. Was sonst hätte sie in dieser für sie ungewohnten Situation auch entgegnen sollen? Sie hatte wenig Umgang mit Vierjährigen.
Stefanie Vitzthum sah sie fragend an.
»Guten Abend. Ich muss mich entschuldigen, dass ich noch so spät bei Ihnen geklingelt habe. Aber ich muss mit Ihnen sprechen. Es wird nicht lange dauern.«
Stefanie Vitzthum, heute ungeschminkt und in einem erdbeerfarbenen Hausanzug aus Plüschcord, schien das als Erklärung für diesen späten unangemeldeten Besuch zu genügen. Sie trat bereitwillig in den Flur zurück und ließ die Kommissarin eintreten.
»Bitte, nehmen Sie doch inzwischen im Wohnzimmer Platz. Ich war gerade dabei, Lukas ins Bett zu bringen. Keine leichte Aufgabe, das kann ich Ihnen sagen, gell, mein Schatz.« Sie drückte ihrem Sohn einen dicken Schmatz auf die rechte Wange. »Wenn ich das erledigt habe, bin ich für Sie da. Lukas, sag der Frau Steiner Gute Nacht.«
Sie setzte sich auf das weiße Designersofa, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Aus dem hinteren Bereich der Wohnung drangen immer wieder Wortfetzen von Lukas’ fröhlichem Gequake zu ihr ins Wohnzimmer. Bald war nur mehr die helle, klare Stimme von Stefanie Vitzthum zu hören, die ihrem Sohn eine Gutenachtgeschichte vorzulesen schien. Eine heile Welt, deren Zauber auch sie bald erlag.
Als sie aufwachte, stand Stefanie Vitzthum lachend vor ihr, ein Tablett mit Gläsern und einer Wasserflasche in den Händen.
»Das ist mir jetzt aber unangenehm! Entschuldigen Sie. Wie lang habe ich denn geschlafen?«
»Nicht lange, höchstens eine Viertelstunde. Lukas hat sich heute ausnahmsweise ganz brav ins Bett bringen lassen. Sie sind sicher mit dem Auto da. Trinken Sie wenigstens ein Glas Wasser mit mir?«
»Ja, gern.« Während ihre Gastgeberin einschenkte und sich setzte, überlegte sie. Sie hatte sich doch auf der Herfahrt eine hochsensible Gesprächsstrategie zurechtgelegt …
»Sagt Ihnen der Name Karsten Kramer etwas?«
»Ich glaube, schon. Warum?«
Sie merkte, wie die helle, klare Stimme zunehmend kühler wurde.
»Weil er der Arbeitsvermittler Ihres Mannes war, ein privater Arbeitsvermittler, und weil Herr Kramer gestern Abend umgebracht wurde.«
»Und da denken Sie, mein Mann hat damit etwas zu tun?«, fragte Stefanie Vitzthum. Sie war empört und starrte sie fast feindselig an.
»Nein, das denke ich nicht. Bitte beruhigen Sie sich.« Eine hochsensible Gesprächsstrategie, die voll in die Hose gegangen war. »Also, noch mal von vorn. Dieser Karsten Kramer ist ermordet worden, und zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen müssen wir davon ausgehen, dass er derjenige war, der seinerseits Herrn Shengali umgebracht hat. Das, und nur das wollte ich Ihnen damit sagen. Ich dachte, die Information ist zumindest für Ihren Mann wichtig. Ich hatte den Eindruck, ihn interessiert das.«
Stefanie Vitzthum quittierte diese Zusatzinformation mit einem gleichgültigen Achselzucken. »Nicht nur meinen Mann, mich interessiert auch, wer Abdu auf dem Gewissen hat. Jetzt wissen wir’s. Und, weiter?« Sie war noch immer auf der Hut vor dieser Kommissarin mit ihren unvermittelten wie beleidigenden Anschuldigungen.
Es entstand eine lange Pause, dann endlich sagte Paula Steiner: »Als ich das letzte Mal bei Ihnen war, machten Sie eine Andeutung über Anzeigen und Gutscheine, die mit einer Benachteiligung Ihres Mannes sowie von Herrn Shengali zu tun hätten. Sie haben das dann leider nicht weiter ausgeführt, weil Ihr Mann das anscheinend nicht wollte. Darüber würde ich von Ihnen jetzt gern Näheres wissen.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.« Die Antwort kam zu schnell, um glaubwürdig zu sein.
»Können oder wollen Sie sich nicht erinnern?«
Wieder entstand eine lange Pause. Sie nippte an ihrem Wasserglas und wartete beharrlich ab. Schließlich wurde ihre Geduld belohnt.
»Ja, vielleicht habe ich so etwas gesagt. Aber was hat das mit dem Mord an diesem Kramer zu tun?«
»Sehr viel, Frau Vitzthum. Vor allem hat das, was hinter diesen Prämien und Gutscheinen steckt, sprich: die Arbeitsaufnahme über einen privaten Vermittler, auch eine ganze Menge mit dem Mord an Shengali zu tun. Schauen Sie, ich bin ganz offen zu Ihnen: Wir sind ziemlich sicher, dass Kramer ihn umgebracht hat, aber uns fehlt das Motiv dafür. Und wir vermuten, dass uns dieses Motiv, wenn wir es denn hätten, auf direktem Weg auch zu Kramers Mörder führen könnte.«
»Dazu kann ich nichts sagen.« Stefanie Vitzthum gab sich nicht einmal die Mühe, ihr Desinteresse zu verbergen.
Paula Steiner erkannte, dass sie hier mit einer sensiblen Strategie nicht weiterkam, hier half nur die Holzhammermethode. »Schade, sehr schade. Wir sind davon überzeugt, dass Herr Shengali sterben musste, weil er etwas wusste. Etwas, was er besser nicht hätte wissen sollen. Etwas, was auch Ihr Mann weiß.«
Sie ließ ihrem Gegenüber Zeit, um aus diesem Gespinst aus Spekulation und versteckter Warnung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dann setzte sie hinzu: »Insofern sind wir des Weiteren davon überzeugt, dass dieses Wissen auch für Ihren Mann lebensgefährlich, so tödlich wie für Herrn Shengali, werden könnte. Schneller, als er sich vorstellen kann.«
Das musste fürs Erste reichen, fand sie. Sie schätzte Stefanie Vitzthum als so intelligent ein, dass diese sich den Rest selbst ausmalen würde. Wenn es etwas auszumalen gab. Wovon sie mehr und mehr überzeugt war.
Stefanie Vitzthum stand abrupt auf und sagte: »Ich muss mal nach Lukas schauen. Manchmal liegt er nämlich wach in seinem Bettchen und weint.«
Sie glaubte ihr nicht. Aber sie sah darin eine Chance für sich: Ein Blick auf diese propere Miniaturausgabe des Chanim Ostapenko würde ihre Zeugin mehr als alles andere zum Reden bringen.
Nach einer Weile kehrte Stefanie Vitzthum zurück und eröffnete ihr noch im Stehen: »Es geht um Zigarettenschmuggel.«
Dann setzte sie sich und beugte sich zu ihr vor. »Chanim und Abdu sollten im großen Stil illegal hergestellte Zigaretten aus Albanien nach Tschechien einführen. Zu diesen Verkaufsbuden an der tschechisch-deutschen Grenze, also nicht zu den Duty-free-Shops, sondern dahinter zu den fliegenden Händlern. Ich glaube, das sind in der Mehrzahl Vietnamesen.«
»Von wem ging das aus?«
»Na, von diesem Kramer und dem Juniorchef von Frey-Trans.«
»Hm. Bitte erzählen Sie weiter. Alles, was Sie dazu wissen.«
»Vor einem Jahr hat Frey sowohl meinen Mann als auch Abdu das erste Mal darauf angesprochen. Das wäre eine ganz sichere Sache: Sie fahren mit legaler Ware nach Tirana, laden dort ab, laden dann die illegale Ware, also die unversteuerten Zigaretten auf, der Lkw wird verplombt, fährt angeblich leer nach Tschechien ein, wo es angeblich keinerlei Kontrollen gibt, wird dort entladen und fährt nun wirklich leer zurück nach Deutschland. Einmal im Vierteljahr. Abdu und mein Mann hätten abwechselnd fahren sollen, einmal Abdu, dann wieder Chanim. Bei der Sache wäre für sie finanziell natürlich etwas drin gewesen. Ein sogenannter Sonder-Bonus von ein paar hundert Euro pro Fuhre. Das war das Angebot von Frey, der wohl dachte, die beiden machen das, weil sie Geld brauchen und weil sie als Ausländer es mit dem Gesetz nicht so genau nehmen.«
Und sicher auch deswegen, weil Frey in Ostapenko mit seiner einschlägigen Vorstrafe einen passenden Kandidaten dafür gesehen hatte, ergänzte die Kommissarin in Gedanken.
Stefanie Vitzthum machte eine Pause. Sie schwieg so lange, dass Paula Steiner nachhelfen musste: »Aber Ihr Mann und Herr Shengali haben das Angebot abgelehnt?«
»Ja. Natürlich. Was glauben Sie denn? Die beiden waren doch froh, eine anständige Arbeit zu haben. Mit der sie auch ihre Familie halbwegs anständig ernähren können. Und Abdu ist gern nach Tirana gefahren, der hat sich über diese Langstrecke richtig gefreut. Auch Chanim ist mit Leib und Seele Berufskraftfahrer. Ihm gefällt das, immer unterwegs sein, in fremde Länder fahren, der Austausch, der Zusammenhalt mit den anderen Fahrern, die er auf den Rastplätzen trifft. Und dann: Keiner steht hinter ihm und redet ihm rein, wie er seine Arbeit zu machen hat. Das ist meinem Mann sehr wichtig.«
»Also ist Joachim Frey der Drahtzieher bei dieser Idee. Und was hat Kramer damit zu tun?«
»Nachdem Frey sein Angebot wiederholt hat und nochmals und nochmals und dabei immer drängender wurde, sich aber jedes Mal die gleiche Antwort – ein klares Nein von beiden Seiten – anhören musste, hat er Abdu mit der Kündigung gedroht. Wenn die anderthalb Jahre rum sind, sagte Frey, kündigt er ihm. Ein Grund dafür finde sich immer. Er hat wohl gedacht, Abdu ist von seinem Arbeitsplatz abhängiger als mein Mann. Auf jeden Fall hat Frey seine Drohung dann pünktlich wahrgemacht: Vor ein paar Wochen erschienen die ersten Anzeigen von ihm in der Job-Börse der Agentur für Arbeit: Frey-Trans sucht einen Fahrer.«
Hier machte Stefanie Vitzthum eine Pause, um zu sehen, wie die Kommissarin diese Demütigung Shengalis aufnehmen würde, dann fuhr sie fort: »Aber Abdu wollte seine Arbeit unbedingt behalten. Er ging daraufhin zu diesem privaten Arbeitsvermittler, zu Kramer, dem er wohl vertraute, und erzählte ihm alles. Die Sache mit dem Zigarettenschmuggel und die Drohung mit der Kündigung. Weil er hoffte, dass Kramer ihm irgendwie helfen könnte und würde. Da hatte er sich aber schwer getäuscht. Kramer klärte ihn nämlich auf, dass er ihn ausschließlich deswegen vermittelt habe, damit er diesen Zusatzjob macht. Er, Kramer, sei ihm ja schließlich auch entgegengekommen, habe ihn unter seine Fittiche genommen und ihm diesen Arbeitsplatz verschafft, trotz vieler Gründe, die dagegen sprachen. Ausländer, keine Fahrpraxis, von daher längere Einarbeitungszeit, Deutschkenntnisse nicht optimal. Da könnte man ja umgekehrt auch eine ›kleine Gefälligkeit‹, so hat es dieser Kramer wirklich genannt, von ihm erwarten.« Entrüstung und unverhüllte Verachtung für den Antiquitätenliebhaber sprachen aus ihrem letzten Satz.
»Für Abdu war das natürlich der reine Horror. Er hatte ja immer geglaubt, man schätze ihn wegen seiner Zuverlässigkeit, weil er keine Punkte in Flensburg hatte, worauf er immer stolz war, weil er unbezahlte Überstunden machte und so weiter. Und jetzt das. Und dann, denke ich, hat er einen ganz großen Fehler gemacht: Er sagte nämlich zu Kramer, er werde die Sache mit dem Zigarettenschmuggel in die Presse bringen, wenn Frey seine Kündigung nicht zurücknimmt.«
Lange saß Stefanie Vitzthum gedankenverloren nur so da, mit gebeugtem Rücken und im Schoß gekreuzten Armen, bis sie den Grund für Shengalis »ganz großen Fehler« hinzufügte: »Er wollte eben mit allen Mitteln weiter dort arbeiten.«
Abdulaziz Shengali, der Mann mit dem schönen Mund, musste sterben, weil er sich für eine »kleine Gefälligkeit« zu schade war und weil er seine Möglichkeiten überschätzte. Und weil er nicht damit rechnete, dass auch ein Mann mit angenehmen Manieren, einem verbindlichen Wesen und einem teuren Anzug ein skrupelloser Krimineller sein kann.
»Und das hat Herr Shengali Ihrem Mann erzählt?«
»Ja. Alles.«
»Wie hat Ihr Mann reagiert?«
»Er hat ihn darin bestärkt. Er fand, das sei eine gute Idee. Er hat sich wohl getäuscht. Aber konnte man das wissen, dass denen das so wichtig ist, dass sie sogar …«
»… über Leichen gehen?«, vollendete sie den Satz, den Stefanie Vitzthum nicht aussprechen wollte. »Nein. Das konnte weder Ihr Mann noch Herr Shengali wissen.«
Nach dieser trostspendenden Antwort wechselten die Kommissarin und ihre Zeugin kein Wort mehr. Saßen in beinahe einträchtigem Schweigen beisammen. Schließlich stand Paula Steiner auf und sagte: »Danke für Ihre Offenheit. Eine letzte Frage hätte ich noch: Seit wann wissen Sie davon?«
»Seit Ihrem Besuch am vergangenen Mittwoch. Seit einer Woche. Wir, Chanim und ich, haben noch lang geredet, nachdem Sie gegangen waren. Erst da hat er mir alles erzählt. Ich war dann auch ziemlich verletzt, dass er mir das nicht schon viel früher gesagt hatte. Sonst haben wir nämlich keine Geheimnisse voreinander. Aber wenn es um seine Arbeit geht, ist Chanim manchmal etwas drollig. Das ist wahrscheinlich so ein Männerthema, wo man sich keine Blöße vor seiner Frau geben darf.«
»Ja«, stimmte sie zu, »das ist ein weites Feld der Ehre. Da haben Sie vollkommen recht, Frau Vitzthum. Wird Ihr Mann denn bei Frey-Trans bleiben, wenn er seinen Arbeitsplatz dort behält?«
»Nein. Seit letzter Woche schreibt er Bewerbungen. Und heute ist schon die erste Einladung zu einem Bewerbungsgespräch gekommen. Chanim könnte als Catering-Fahrer für den Nürnberger Flughafen arbeiten. Ich glaube, darüber wird er sich sehr freuen. Allein schon über das Interesse an ihm. Auch wenn daraus nichts werden sollte.«
Der Abschied fiel kurz, aber herzlich aus. Sie war froh, dass Frau Vitzthum so viel Licht in das Dunkel dieses Doppelmordes gebracht hatte. Und auch diese schien erleichtert zu sein, ihr Wissen nun endlich der Person offenbart zu haben, die damit etwas Sinnvolles anfangen konnte.
Sie raste heim, in den Vestnertorgraben, eilte in den Keller, griff zielsicher in das unterste Fach ihres Weinregals und zog die einzige, verstaubte Flasche, die dort schon seit drei Jahren lagerte, hervor. Einen 2007er Vouvray Tête de Cuvée Brut aus dem Loire-Tal. Nur so etwas Extravagantes wie ein Schaumwein schien ihr passend, um diesen außergewöhnlichen Tag stilgerecht zu Ende zu bringen. Sie stürzte die Treppe hinauf, schüttelte die Flasche kurz, ließ den Korken mit einem lauten Knall an die Decke springen und nahm den ersten Schluck gleich aus der Flasche. Dann erst holte sie aus dem Wohnzimmer eine Sektschale und füllte sie mit dem süffigen Chenin blanc. Eine halbe Stunde später stand neben der Sektschale auf dem Küchentisch auch die passende Beilage – ein gebratenes Tomaten-Omelett mit Paprikastreifen. Sie verschlang die laut Rezeptangabe »vollwertige Mahlzeit für zwei Personen« innerhalb von drei Minuten, zündete sich eine Zigarette an und starrte auf die in düsterem Grau vor ihr liegende Kaiserstallung.
Sie dachte über das Gespräch mit Stefanie Vitzthum nach. So eine simple Erklärung für all die Ungereimtheiten, die scheinbaren und die realen, dieses Doppelmords. Warum war sie da nicht von selbst darauf gekommen? Sie wusste doch, wie dieses Geschäft ablief und welche Dimensionen es hatte und immer noch hat.
Schon bei dem Stichwort Albanien hätte sie hellhörig werden müssen. Der zerfallene Balkan als Brutstätte des organisierten Verbrechens und als Dauerparadies für den Zigarettenschmuggel. Wo Politik und Kriminalität so eng miteinander verknüpft waren, dass Regierungsbeamte auf allen Ebenen in den Schmuggel verwickelt waren und wo jede neue Regierung als Erstes immer den Zollchef auswechselte. Wo heute noch tagtäglich Unmengen von Zigaretten Montenegro, Bosnien oder Albanien durchquerten auf ihrem Weg in die EU. Ware, deren Herkunft oftmals nicht mehr zurückzuverfolgen war und die dann auf dem Schwarzmarkt landete. Oder eben in den Verkaufsständen an der tschechisch-deutschen Grenze. Ganz in ihrer Nähe.
Das war kein Schmuggel im herkömmlichen Sinn wie der heutzutage fast schon folkloristisch anmutende Schwarzhandel von Spielkarten, Salz und Kaffee im vergangenen Jahrhundert. Bei den Zigarettendeals ging es um astronomische, unvorstellbar hohe Summen. Sie erinnerte sich an die Presseberichte über die Montenegro-Connection, der vorgeworfen wurde, mehr als eine Milliarde Euro aus dem Tabakschmuggel gewaschen zu haben. Mit solchen Deals ließ sich mittlerweile mehr verdienen als mit dem Drogenhandel. Und natürlich hatte die Mafia dieses lukrative Geschäft schon seit Jahren unter sich aufgeteilt und fest in ihrer Hand. Politiker, die sich weigerten, dabei mitzuspielen, oder ehemalige Bandenmitglieder, die in Verdacht standen, die Seite zu wechseln, wurden liquidiert.
Hatte nicht auch Karsten Kramer wie ein Pate agiert und reagiert? Seine Antiquitäten aus der Kolonialzeit, die Kreuzigungsgruppe im Schlafzimmer – sprach nicht daraus eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten? Eine tiefe Verbundenheit zum mittelalterlichen Lehnswesen, das sich in Herrschende und Beherrschte aufteilte? Eine Gesellschaftsform, die den feudalen Gedanken von Gefälligkeit und Unterwerfung noch nicht in Frage stellte. Als man sich Macht, Reichtum und Straffreiheit noch beliebig nehmen durfte, wenn man auf der richtigen Seite stand. Und Kramer war sich sicher gewesen, auf der richtigen Seite zu stehen.
Daher auch das im Grunde triviale Arrangement der betenden Hände, mit dem er ein letztes Mal auf seine Herrscherrolle verwies. So hatte sich Kramer gesehen – als Gebieter über all die Stapler- und Berufskraftfahrer, mit denen er seine Agentur aufbaute und die er im Grunde verachtete. Shengalis Hände waren keine Ermahnung nach außen, sich an Vereinbarungen zu halten, sondern vielmehr eine Art beglaubigtes Dokument, das seine Macht unterstreichen sollte. Kramers Vergewisserung vor sich und aller Welt: Ich bin der Herr über Leben und Tod. Er spielte den Mafia-Boss, der von seinen Abhängigen unerschütterliche Treue verlangte und Verrat mit der Höchststrafe ahndete.
Doch halt! Mafia-Bosse lassen morden, morden nicht selbst. Also war Kramers Position im hierarchischen Gefüge nicht so unumschränkt, wie er sie gesehen hatte. Über ihm musste noch jemand sein. Jemand, dem Kramer seinerseits eine Gefälligkeit schuldete. Und dieser Jemand konnte nur einer sein – Heinrichs böser Onkel, Joachim Frey.
Erst spät nach Mitternacht wankte sie in ihr Bett. Die Flasche Schaumwein war leer und ihr Kopf frei. Morgen beziehungsweise heute würde sie das letzte Kapitel in dieser Arbeitsamt-und-Privatvermittler-Anzeigen-und-Gutschein-Kraftfahrer-und-Spedition-Gefälligkeiten-und-Mafia-Sache aufschlagen und zum Abschluss bringen. Diese Zuversicht bescherte ihr eine kurze, aber ruhige Nacht.