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Nach einem friedlichen Wochenende voll ausreichend Schlaf machte sie sich am Montag bereits um halb acht Uhr auf den Weg. Beim Überqueren der Fleischbrücke sah sie hinunter auf die träge dahinfließende grau-mehlige Pegnitz und war begeistert. Selbst das große Café in der alten Fleischbank – einer der zahlreichen Ableger einer US-amerikanischen Kette, über die sie sich sonst aufregte – störte sie heute nicht. Heute registrierte sie nur das Schöne an ihrer Heimatstadt, das, wovor auch die Tagestouristen in der Regel staunend standen. Und da es auf der regulären Route zu ihrem Arbeitsplatz davon nichts Bemerkenswertes mehr gab, wählte sie den Schlenker über den Schleifersteg und Trödelmarkt, der sich in den letzten Jahren zu einem hübschen autofreien Platz mit Bänken, Bäumen und edlen Geschäften gemausert hatte.

Zu ihrer Überraschung war sie nicht die Erste im Büro – ihre beiden Mitarbeiter saßen bereits stumm und einträchtig an ihren Schreibtischen.

»Wir haben gedacht, wir warten«, sagte Heinrich mit einem ironischen Lächeln, »bis du da bist. Damit wir nicht alles doppelt erzählen müssen.«

»Okay«, antwortete sie, »dann bringen wir es hinter uns. Frau Brunner, was hat die Vernehmung von Herrn Eshaya ergeben? Aber bitte, halten Sie sich kurz. Nur die wichtigsten Fakten.«

Die Kommissaranwärterin sah auf ihren vollgeschriebenen Block. »Gut. Es ist wirklich so, wie Sie vermutet hatten, Frau Steiner. Der Neffe ist jetzt der Familienvorstand der Shengalis. Er hat diese Aufgabe übernommen, weil er der einzige männliche Verwandte der Familie ist, der in Deutschland lebt. Wollen Sie wissen, was da alles auf ihn zukommt, wofür er zuständig ist?«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Das spielt keine Rolle. Nur eins interessiert mich: Ist bei Ihrer Vernehmung irgendwann die Rede auf Solins Kleidung und Schminkerei gekommen?«

»Ja. Ich habe ihn danach gefragt, indirekt und ganz vorsichtig, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, denn ich glaube, Herr Eshaya ist da sehr empfindsam. Aber er scheint kein Problem damit zu haben. Womit er allerdings ein Problem hat, ist, dass sein Onkel noch immer nicht von der Rechtsmedizin freigegeben wurde. Denn Muslime, und Shengali war ja gläubiger Muslim, wenn auch nicht ein ganz strenger, haben andere Beerdigungsvorschriften als wir. Das ist im Übrigen sehr interessant«, Eva Brunner sah kurz von ihrem Block auf, »wie das im Islam alles zusammenhängt und welche Gründe es wofür gibt. Also, ein Muslim muss, wenn er gestorben ist, egal ob an einem natürlichen oder an einem gewaltsamen Tod, innerhalb einer sehr kurzen Zeit beerdigt werden. Das kommt historisch daher, weil …«

»Das weiß ich alles«, unterbrach Paula Steiner. »Aber das geht in diesem Fall eben nicht. Rufen Sie doch später Dr. Müdsam von der Gerichtsmedizin an und fragen Sie ihn, wann er die Leiche freigibt. Dann haben Herr Eshaya und Frau Shengali wenigstens einen Anhaltspunkt, wann sie das Begräbnis organisieren können. Und weiter, was hat das Gespräch noch erbracht? Was wusste Eshaya zum Beispiel über Feinde oder Freunde seines Onkels? Wo war er selbst zur Tatzeit?«

Eva Brunner sah sie enttäuscht an. Damit hatte die Hauptkommissarin sie um ihr sorgfältig vorbereitetes detailreiches Referat zu den Beerdigungsritualen des Islam in Vergangenheit und Gegenwart gebracht. Sie überflog ihre Notizen und blätterte bedauernd eine Blockseite nach der anderen um.

»Feinde hatte sein Onkel seines Wissens keine. Darüber haben sie nie gesprochen. Über Freundschaften auch nicht. Wenn sich die Familie getroffen hat, dann ging es ausschließlich um familiäre Dinge.«

Erneutes Blättern. Und bei jeder Seite, die nach hinten umgeschlagen wurde, fühlte Paula Steiner, wie eine kleine Last von ihr genommen wurde. Sie sah zu Heinrich, dem es ähnlich zu gehen schien. Er starrte auf Brunners Block und begleitete das langsame Blättern mit einem auffordernden Nicken: Weiter, weiter!

»Ach ja, das ist vielleicht noch wichtig: Worüber Eshaya oft mit seinem Onkel gesprochen hat, war die Arbeit bei der Spedition. Shengali war anfangs so froh, diesen Arbeitsplatz bekommen zu haben. Weil die relativ gut zahlten und er seine Familie jetzt endlich auf anständige Art und Weise ernähren konnte. So hat er sich ausgedrückt. Mit richtiger Arbeit, also nicht mehr mit staatlicher Hilfe über das Arbeits- oder Sozialamt. Das war ihm wohl sehr wichtig. Froh war er auch deswegen, weil ihm das Fahren selbst Spaß machte. Er hat sich da richtig engagiert und teilweise Überstunden angehängt, ohne sie sich auszahlen zu lassen, da musste alles andere zurückstehen. Auch die Familie. Doch als sie, also Shengali und Herr Eshaya, das letzte Mal miteinander telefoniert haben, hatte Shengali erzählt, dass er gekündigt werden sollte. Er hätte zwar in der Spedition weiterarbeiten können, aber erst nach einer sehr langen Pause. So richtig hat Herr Eshaya das am Telefon damals nicht verstanden. Und auch nicht nachgefragt.«

Paula Steiner griff zu dem Zettelkasten auf Heinrichs Schreibtisch und notierte sich »Shengali/Arbeit – lange Pause?«.

»Und wo war Eshaya zur Tatzeit?«

»Er sagt, in seinem Bett. Er ist Mathelehrer in München und verdient sich sein Geld, indem er Hauptschüler auf den Quali-Abschluss vorbereitet. Eine anstrengende Arbeit, weil er bei seinen Schülern als Ausländer nicht immer vorbehaltlos akzeptiert wird; das muss mitunter richtig schlimm sein. Zeugen dafür, also für sein Alibi, die das bestätigen könnten, hat er allerdings keine. Er ist ledig, und er hat auch keine Freundin.« Bei diesem Unterpunkt des Referats strich ein warmes Lächeln über das runde Gesicht mit dem makellosen Teint. »Und wie ich Herrn Eshaya kennengelernt habe, stimmt diese Aussage. Denn ich hatte den Eindruck, Herr Eshaya ist ein aufrichtiger, hochanständiger …«

»Gut, danke, Frau Brunner. Ihre erste Befragung haben Sie nun hinter sich. Sie haben das ganz ausgezeichnet gemacht. Nur ein kleiner Tipp von mir: Warten Sie mit Ihren persönlichen Einschätzungen so lange, bis der Fall abgeschlossen ist. Nicht immer stimmt unser erster Eindruck. Das trifft sowohl im Guten wie im Schlechten zu.«

Sie wusste, wovon sie sprach. Oft genug hatte sie sich bei den Menschen, mit denen sie beruflich zu tun gehabt hatte, grundlegend getäuscht. »Was hat die Befragung der Anwohner erbracht?«

»Die hat leider nichts ergeben, fast nichts. Nur ein Rentner, aber der war schon weit über die siebzig, sagte aus, am Montagabend einen silbergrauen Wagen gesehen zu haben, wusste aber weder die Automarke noch das Kennzeichen. Er meinte, das Ding – so hat er sich ausgedrückt – war flach wie eine Flunder, leuchtend grau wie auf Hochglanz polierter Edelstahl und sicher einer dieser Schlitten, die genauso unzuverlässig wie sündhaft teuer sind. Etwas zum Angeben bei den Frauen, meinte der Mann. Der wohnt direkt neben dem Wasserwerk und hat einen sehr schlechten Schlaf. Außerdem regt ihn das auf, wenn die Leute einfach auf der Wasserwerkausfahrt halten oder wenden, weil dann die ganzen Abgase in sein Schlafzimmer ziehen würden. Aber richtig vertrauenswürdig hat der nicht ausgesehen. Der hatte zum Zeitpunkt meiner Befragung schon eine Bierfahne. Und da war es erst halb vier Uhr nachmittags!«

»Auch das gehört zum Thema unbedingte Neutralität bei der persönlichen Beurteilung. So, Frau Brunner, dann nochmals: Danke für Ihren Einsatz. Sie haben alles richtig gemacht. Und dieses Lob zählt doppelt, weil Sie ja bei all dem auf sich allein gestellt waren. Wenn ich Sie noch um etwas bitten darf: Suchen Sie sich doch ein paar Automodelle zusammen, die auf diese Beschreibung passen könnten, und legen diese dem Zeugen vor. Vielleicht erkennt er den Wagen wieder.«

Sie wandte sich an Heinrich. »Hast du dir schon Gedanken gemacht zu den betenden Händen, die uns irgendwie weiterbringen?«

»Hmhm«, nickte dieser und deutete auf einen Stapel von Computerausdrucken auf seinem Schreibtisch.

»Aber du wirst uns jetzt keinen stundenlangen kunsthistorischen Vortrag halten, oder?«

»Ich mach es ganz kurz, Paula, versprochen. Also, im Prinzip deutet bei dem Toten alles auf die betenden Hände von Dürer hin, wie du schon vermutest hast; ich hab mir die Fotos von Schuster speziell unter diesem Aspekt angesehen. Da muss es einen wie auch immer gearteten Zusammenhang geben. Insofern habe ich mich erst mal da ausgiebig kundig gemacht. Dürer kommt, das ist überall zu lesen, eine Sonderrolle zu: als Mittler zwischen Spätgotik und Renaissance. Und er entwarf als erster deutscher Künstler eine Theorie der bildenden Kunst. Er malte außerdem – auch das war in der damaligen Zeit neu – eine Reihe von Selbstbildnissen und entdeckte schon auf seiner ersten Italienreise, wiederum als erster deutscher Künstler, das Landschaftsthema. Ich könnte bei allen diesen Punkten auch mehr in die Tiefe gehen, wenn daran Bedarf besteht.« Heinrich sah hoffnungsvoll und fragend von seinen Unterlagen auf.

»Daran besteht kein Bedarf, nicht der geringste«, konterte sie blitzschnell, bevor Heinrich seine Drohung wahrmachen konnte. »Aber woran Bedarf besteht, ist eine Erklärung, wie all die von dir genannten Punkte zusammenhängen und vor allem: wie uns das bei der Suche nach dem Mörder weiterbringt.«

»Na, aber Paula, das liegt doch auf der Hand! Nimm doch nur mal das Landschaftsthema. Shengali wurde auf einem Parkplatz weitab jeder Zivilisation ermordet und dann anschließend vor das Wasserwerk gelegt. Also inmitten von Wiesen, kleinen Wäldern und dem Flusslauf der Pegnitz – Natur pur sozusagen. Und in Nürnberg muss man lange suchen, bevor man ein so idyllisches Plätzchen findet, das noch frei von irgendwelchen städtischen Merkmalen der Zivilisation ist. Hier also, an diesem handverlesenen Ort, ist man der Natur ganz nah, näher auf jeden Fall als den Menschen und vor allem ihren Konventionen, wozu auch die bürgerlichen Gesetze zählen. Das wollte der Mörder damit zum Ausdruck bringen; das war eine ganz bewusste Wahl, die er da getroffen hat.«

Sie zwang sich zu Geduld und Verständnis für diesen kruden Theorieansatz. Vielleicht war es doch ein Fehler, ihm dieses Symbol zur uneingeschränkten Deutung zu überlassen? »Gut, nehmen wir mal an, du hast recht. Was ist dann mit Dürers Selbstbildnissen und seiner Mittlerrolle, wie lassen sich die auf unseren Fall übertragen?«

»Auch das liegt eigentlich auf der Hand. Ebenso wie Dürer ein Mittler zwischen zwei Epochen der Kunstgeschichte ist, so sieht sich der Mörder als Mittler, und zwar als einer zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde. Der Täter nimmt für sich mit dieser Geste das Recht in Anspruch, auf die bürgerlichen Gesetze zu pfeifen und an Gottes statt über Leben und Tod zu entscheiden. Und dazu passt wiederum sehr gut Dürers Vorreiterrolle in punkto Selbstbildnis: Hat nicht auch der Mörder seine persönliche Note dem Opfer aufgenötigt? Voller Selbstgefälligkeit eine Art Signatur mit diesen betenden Händen hinterlassen und sich damit auf eine Stufe gesetzt mit Dürer, der, als er sein erstes Selbstbildnis malte, ebenfalls von sich sehr überzeugt gewesen sein muss?«, fragte Heinrich rhetorisch, um dann mit professoralem Pathos fortzufahren: »Denn was ist eine Signatur anderes als die abschließende Kenntlichmachung des Werkes, das kürzeste und doch bekennendste Zeichen des Künstlers? Was das AD für Albrecht Dürer war, sind die betenden Hände für unseren Täter. Er hat in diesem Schlussbild des Toten auch viel von sich selbst preisgegeben, damit so etwas wie ein auf das Wesentliche reduziertes Selbstbildnis gezeichnet.«

Nachdem er geendet hatte, sah Heinrich sie selbstzufrieden an. Er war sichtlich stolz auf dieses gewagte Potpourri aus Kunsthistorie, geistlicher Gerichtsbarkeit und der Symbolkraft von Signaturen, bei dem die spirituellen und weltlichen Dinge ein wenig sehr durcheinandergeraten waren. Fast hätte sie laut hinausgelacht, da sie aber immer noch froh über seine Rückkehr war, zwang sie sich zu einem: »Das ist ja hochinteressant, was du alles herausgefunden hast. Und das in so kurzer Zeit.«

Sie blickte auf Eva Brunner, die ihren Kollegen bewundernd und mit offenem Mund anstarrte. Erst da, bei diesem fassungslosen Blick voller Hochachtung, gewann ihre Spottlust die Oberhand und machte sich sogleich in zwei, zugegeben, gehässigen, aber letztendlich aus pädagogischen Gründen gestellten Fragen Luft: »Aber hast du bei all deinen geheimnisvollen historischen Verbindungen nicht eine entscheidende vergessen? Und zwar die zwischen Theologie und Kunstgeschichte?«

»Hä? Wieso?«

»Aber Heinrich, das liegt doch nun wirklich auf der Hand. Stehen die zum Gebet gefalteten Hände«, sie gab sich Mühe, nicht allzu ironisch zu klingen, »denn nicht auch für den ersten Teil der klerikalen Aufforderung ›Ora et labora‹? Das würde doch sehr gut in deine Mittlertheorie passen; der Mörder als Herr über Leben und Tod sorgt für das Seelenheil des Toten, indem er ihn mit betenden Händen dem Himmel übergibt.« Um Heinrich dabei nicht anschauen zu müssen, kritzelte sie auf den vor ihr liegenden Zettel »Bete und arbeite!«.

Zu ihrem Erstaunen applaudierte Heinrich ihrer Spinnerei. »Ganz genau, so ist es.« Er klang ernst. »Diesen Aspekt hätte ich schon noch erwähnt, aber ich sollte mich ja kurz halten.«

Auch bei Eva Brunner lief ihr gut gemeinter pädagogischer Ansatz ins Leere. Die Anwärterin rief begeistert aus: »Toll, worauf Sie alles kommen! Mir wäre das nicht eingefallen. Ein Ritualmord! Eine Tat voller Mythen und geheimnisvoller Andeutungen. Und wenn wir diese richtig deuten, dann haben wir den Code des Mörders geknackt. Also brauchen wir erst gar nicht nach einem Motiv zu suchen, weil diese Psychopathen ja ohne Motiv morden, nur aus der blanken Mordlust heraus.«

Jetzt musste sie augenblicklich die Handbremse ziehen, bevor Heinrichs plus ihre eigenen Hirngespinste neue, noch absurdere und peinlichere zu gebären drohten. »Quatsch. Das war kein Ritualmord.«

Jedes Verbrechen folgte einem Schema, einer Art Planmäßigkeit oder Vernunft, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Diese Planmäßigkeit galt es zu finden. Nicht irgendwelche Mythen zu ergründen oder an Signaturen herumzudeuteln.

»Das war nicht die Tat eines Wahnsinnigen. Auf der anderen Seite haben Sie schon recht, Frau Brunner: Wir müssen den Code des Mörders knacken. Aber nicht über Mythen, Andeutungen oder Symbole, die nichts oder nur am Rande mit dem Fall zu tun haben. Sondern mit der Motivsuche. Und zwar der Suche nach einem ganz handfesten Motiv. Das fehlt uns nach wie vor. Außerdem fehlt es uns nach wie vor an einer Spur, die wir verfolgen könnten. Oder haben der Herr Professor Kunsthistoriker beziehungsweise die Frau Doktor der Psychiatrie dazu schon eine Idee?«

Heinrich und Eva Brunner schüttelten beleidigt den Kopf.

»Gut, dann fasse ich mal zusammen, was Herr Bartels und ich gestern bei der Arbeitsagentur erfahren haben.«

Es folgte der erste kurze Bericht dieses frühen Vormittags. Und darin war ausschließlich die Rede von greifbaren, plumpen, ja fast schon ordinären Dingen. Dingen wie dem aus eigener Tasche bezahlten Kraftfahrerführerschein und dem vielen Geld, das es heute mitunter kosten konnte, um jemanden in Arbeit zu bringen. Als sie geendet hatte, sahen ihre beiden Mitarbeiter sie ein wenig vorwurfsvoll an. Doch das ließ sie kalt. Denn sie hatte mittlerweile eine Entdeckung gemacht. Auf ihrem kleinen gelben Zettel standen nun drei Punkte: »1. Shengali/Arbeit – lange Pause? 2. Bete und arbeite! 3. 28.000 Euro für zwei Arbeitslose«.

Dreimal dasselbe Wort – noch war die Ermittlung keinen Zentimeter vorangekommen, der Code noch nicht geknackt, ein Motiv oder eine Spur nicht greifbar, doch der schwache Abglanz eines Musters wurde langsam erkennbar.

Auf diesem winzigen gelben Notizzettel mit den handschriftlichen Kritzeleien steckte, dessen war sie sicher, die entscheidende Erkenntnis zum Fall Shengali. Das Motiv, die erste Spur und damit auch die Wahrheit. Nun war es an der Zeit, die Sensoren auszufahren und zu handeln.

»Herr Eshaya hat Ihnen doch erzählt, dass seinem Onkel gekündigt werden sollte, wenn auch nur vorübergehend. Ein Kraftfahrer, der von seinem Chef über den grünen Klee gelobt wird, der unbezahlte Überstunden macht, der offensichtlich Spaß an der Arbeit hat, der wird entlassen? Wir müssen herauskriegen, warum. Wir versuchen es als Erstes bei der Spedition. Als Zweites werden wir diesem privaten Vermittler einen Besuch abstatten. Und dann drittens noch mal Herrn Ostapenko befragen. Das genau ist unser Plan für die nächsten Tage. Und nichts anderes.«

Heinrich kommentierte seine Zwangsemeritierung aus dem kunsthistorischen Lehrfach mit dem etwas verkniffenen Satz: »Wie sieht denn unser Plan für die Montagskonferenz aus, die in drei Minuten beginnt?«

»Der sieht so aus, dass wir zwei da hingehen. Wie wir das schon seit Jahren machen, Herr Oberkommissar.«

Sie bedeutete ihm aufzustehen und sagte an der Tür noch zu Eva Brunner: »Und Sie sehen in der Zwischenzeit zu, dass Sie Herrn Ostapenko zu einem Termin hier ins Präsidium kriegen.«

»Aber den erreiche ich doch daheim jetzt sicher nicht.«

»Wenn nicht da«, erwiderte sie, »dann auf dem Handy. Die Nummer haben Sie ja noch. Am liebsten wäre mir ein Abendtermin. Wir werden nämlich zeitgleich seine Frau aufsuchen und uns anhören, was die uns zu dieser Anzeigen-und-Gutschein-Geschichte zu sagen hat. Getrennt von ihm. Das kann sehr aufschlussreich sein. Vor allem kann dann Herr Ostapenko seiner Frau nicht wieder das Wort verbieten.«

»Und was ist mit den Automodellen, die ich zusammensuchen und dann dem Anwohner vom Wasserwerk vorlegen sollte, und dem Anruf bei Dr. Müdsam?«

»Das machen Sie anschließend. Immer eins nach dem anderen. Die Vorladung Ostapenkos hat Priorität.«

Als sie die Treppe hinuntergingen, sah Heinrich sie spöttisch von der Seite an. »Habe ich in den drei Tagen, in denen ich krank war, was verpasst? Deine Beförderung von der Kriminalhauptkommissarin zum ersten weiblichen Feldwebel bei der Kripo Nürnberg? Oder die Umformung unserer Kommission zum militärischen Stützpunkt im Kampf gegen das weltweite Verbrechen?«

Sie blieb abrupt stehen. »Erstens warst du eine ganze Woche krank und nicht nur drei Tage. Und zweitens: Red nicht so saudumm daher! Hast du schon vergessen, was Fleischmann gesagt hat? Dass unsere Kommission aufgelöst werden soll. Möchtest du unter Trommen arbeiten? Ich nicht. Deshalb brauchen wir einen vorzeigbaren Ermittlungserfolg, und das nicht erst in ein paar Wochen, sondern ziemlich zackig.«

Schweigend betraten sie das Besprechungszimmer. Es waren wegen ihres späten Eintreffens nur mehr zwei Stühle frei – einer neben der Reußinger, der andere neben Trommen. Sie hatte also die Wahl zwischen Szylla und Charybdis. Sie entschied sich für Charybdis. So musste sie dem Feind wenigstens nicht in die Augen sehen. Dieser jedoch deutete ihre Wahl falsch. In einer beiläufigen Geste, die vertraut wirken sollte, legte er den Arm auf ihre Stuhllehne. Sie sah ihn lächelnd an und kippte den Stuhl dann im Nu nach hinten auf den Mauervorsprung der Fensterbank. Trommen, der seinen Arm nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Gut so, dachte sie befriedigt, die erste Rate hat er schon bezahlt.

»So«, eröffnete Fleischmann die Konferenz, »nachdem jetzt alle da sind, können wir anfangen. Erster Tagungsordnungspunkt: die Unzufriedenheit einiger Kollegen mit der hiesigen Gerichtsmedizin. Herr Trommen, Sie haben das Wort.«

Seine darauf folgende Suada war reich an Wörtern und arm an Erklärungen. Da aber der Hauptkommissar – leider – über die Gabe der geschliffenen Rede verfügte, schien dieser Umstand niemandem aufzufallen außer seiner Kollegin Steiner. Zu ihrer wachsenden Verärgerung nahm sie während des Vortrags hin und wieder ein bestätigendes Nicken bei ihren männlichen Kollegen wahr. Sie sah zu Heinrich, der aus dem Fenster starrte. Endlich war Trommen fertig.

In dem Moment, als sie sich zu Wort melden wollte, sagte Fleischmann: »Ich vermisse bei Ihrem Vorschlag, Herr Trommen, ein wenig die zwingenden Gründe, die uns eine derartige Konzentration auf das Erlanger Institut anempfehlen sollen. Außerdem würde diese einseitige Verlagerung in eine immerhin mehr als zwanzig Kilometer entfernte Stadt sich finanziell nicht rechnen. Was meinen Sie, was da an Mehrkosten auf uns zukäme, wenn allein Ihre Mitarbeiter gezwungen wären, jedes Mal diesen Weg hin und zurück auf sich zu nehmen?«

Doch Trommen gab sich nicht so leicht geschlagen. »Meine Kommission erledigt so etwas meist telefonisch. Wir haben nicht die Zeit, stundenlang in irgendwelchen gerichtsmedizinischen Instituten herumzustehen. Wir nicht.«

Damit widersprach er offen und, soweit sie wusste, das erste Mal seinem direkten Vorgesetzten. Trommen musste sich sehr sicher fühlen, dass er glaubte, sich diesen Affront leisten zu können. Diese Sicherheit bezog er, dachte sie wehmütig, aus seinem hervorragenden Draht zum Leitenden Kriminaldirektor. Anders war der offene Widerspruch nicht zu erklären. Dann, so ihre bittere Schlussfolgerung, waren gewiss auch die »Bestrebungen« so weit fortgeschritten, dass es daran nichts mehr zu drehen und zu wenden gab.

Sie sah Heinrich und sich bereits unter der Fuchtel des missliebigen Kollegen, als Fleischmann sagte: »Aha. Das ist ja interessant. Ich fürchte, wenn Sie bei einer Kommissionsstärke von immerhin sieben Leuten keine Zeit für eine der grundlegenden Pflichten eines Kommissars haben, dann sollten Sie einmal über Ihr Zeitmanagement nachdenken. Ich erwarte Sie zu diesem Thema im Anschluss der Konferenz in meinem Büro. Ich bin mir sicher, wir kommen gemeinsam auf eine tragfähige Lösung.«

»Da bin ich, bei allem Respekt, Herr Fleischmann, anderer Mei …«

»Außerdem sieht der Leiter der Kriminaldirektion«, unterbrach ihn Fleischmann ungerührt, »dem ich diesen Ihren Vorschlag natürlich unterbreitet habe, das ähnlich wie ich. Herrn Kriminaldirektor Bauerreiß ist wichtig, dass wir auch in Zukunft mit zwei Instituten zusammenarbeiten. Und uns nicht ohne Not auf eines festlegen.«

Trommen war zwar schlau und kalkuliert, zugegeben. Aber nicht schlau genug, um zu wissen, dass man eine mittlere Leitungsebene nicht von einem Tag auf den anderen übergehen sollte. Oder gar in aller Öffentlichkeit brüskieren. Trommen hatte einen großen Fehler gemacht. Und als sie ihn von der Seite musterte, sah sie, dass auch er das erkannt hatte. Zu spät erkannt hatte. Er würde in den folgenden Tagen versuchen, diese Scharte wieder auszuwetzen. Einen für ihn angenehmen Nebeneffekt hatte dieser Lapsus allerdings, ohne dass er davon wusste: Seine offene Rechnung Paula Steiner gegenüber hatte sich mit einem Schlag um ein gehöriges Maß verringert. Jetzt standen auf dem Schuldschein nur mehr die unsäglichen »Bestrebungen«. Um die aber würde sie, befürchtete sie, sich selbst kümmern müssen.

»So, nachdem das geklärt ist«, beendete Fleischmann ihre Überlegungen, »können wir mit unserer eigentlichen Arbeit weitermachen, denke ich. Frau Steiner, wie weit sind Ihre Ermittlungen im Fall dieses ermordeten Kraftfahrers vom Wasserwerk gediehen?«

Sie ließ sich Zeit für ihren Bericht. Sprach von der ergiebigen, jedoch zeitraubenden Suche nach den Spuren, denen jetzt Schritt für Schritt nachgegangen werde, erwähnte die Analyse der komplexen Motivstruktur, die so gut wie abgeschlossen sei, betonte die zahlreichen Zeugenbefragungen, die interessante neue Aspekte aufgeworfen hätten, welche nun in die Gesamtbetrachtung eingeschlossen würden. Von Gutscheinen oder Anzeigen, der Arbeitsagentur oder einem privaten Arbeitsvermittler sagte sie nichts. Zu guter Letzt erwähnte sie noch die neue Kommissionsmitarbeiterin, Anwärterin Eva Brunner, die so anstellig und hilfreich für ihre leider immer noch unterbesetzte Kommission sei, dass sie, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung verkünden, diese in Zukunft gerne behalten würde. Auch Heinrich, der bei ihrem letzten Nebensatz kurz aufgeblickt hatte, schien von diesem Vorhaben erstaunt zu sein. Fast so wie Trommen, der sofort Einspruch erhob.

»Die Brunner ist aber mir versprochen worden, Paula, du kannst …«

Wieder unterbrach ihn Fleischmann. »Darüber wird gesondert zu sprechen sein, Herr Trommen, Frau Steiner.«

Als die Konferenz vorbei war, erhob sich Trommen als Erster. Er eilte zur Sekretärin des Kriminaloberrats, um mit ihr das Zimmer zu verlassen. Paula Steiner sah ihm amüsiert hinterher. Mit Antichambrieren allein wirst du deinen Fehler nicht wiedergutmachen können. Da kommt schon wesentlich mehr Arbeit auf dich zu. Eine Vorstellung, die ihr gefiel.

Fleischmann bedeutete ihr zu warten, bis alle gegangen waren. Dann schloss er die Tür und sagte, den Türgriff noch in der Hand: »Das war jetzt überflüssig. Ich weiß, dass und wie wichtig Sie sind, Frau Steiner, das müssen Sie mir nicht bei der Montagskonferenz coram publico aufs Butterbrot schmieren.«

»Ja, ich weiß, dass Sie es wissen, Herr Fleischmann. Aber ich weiß auch, dass es vereinzelt Personen gibt, die das nicht wissen. Ich dachte, es ist an der Zeit, diese Wissenslücke ein für alle Mal zu schließen.«

»So. Aha«, brummte der Kriminaloberrat. »Auf jeden Fall mailen Sie mir Ihre vorläufigen Ermittlungsergebnisse zum Fall Shengali innerhalb der nächsten Stunde zu. Aber nicht dieses Wischiwaschi, das Sie vorhin abgesondert haben.«

Froh gelaunt kehrte sie in ihr Büro zurück. Eva Brunner sprach soeben von ihrem Telefon aus mit Dr. Müdsam. Sie griff zum Hörer, fragte zuvor noch »Darf ich?« und flüsterte in die Sprechmuschel: »Frieder, eine gute Nachricht. Du und dein Institut, ihr seid aus dem Schneider. Endgültig.«

»Habe ich das etwa dir zu verdanken?«

»Nein«, lachte sie, »dafür stehe ich in der Hierarchie zu weit unten. Bedank dich, wenn überhaupt, bei Fleischmann. Das hat er großartig gemacht. Der hat unseren lieben Kollegen soeben sauber ausgebremst, eine taktische Meisterleistung.« Dann gab sie den Hörer mit einer entschuldigenden Geste an die Anwärterin zurück.

Die folgende Stunde verbrachte sie mit dem Abarbeiten ihres vorrangigen Auftrags – mit dem Formulieren des Berichts an Fleischmann. Darin war nun nicht mehr die Rede von ergiebigen Spuren, zahlreichen Zeugenbefragungen oder komplexen Motivstrukturen, sondern lediglich von ihren Vermutungen und den Ungereimtheiten dieses Falls. Es wurde ein kurzer Bericht, aber sie war sicher, dass ihr Chef damit zufrieden war. Vorläufig zufrieden war.

Nachdem sie auf die Senden-Taste gedrückt hatte, sagte Eva Brunner: »Also, Herr Ostapenko ist bis einschließlich Donnerstag auf Tour. In Frankreich. Am Freitag könnte er um die Mittagszeit zu uns kommen. Soll ich diesen Termin bestätigen?«

»Ja, das ist uns sehr recht. Da werden wir Frau Vitzthum an einem der nächsten Abende, an denen ihr Mann auswärts ist, besuchen. Haben Sie noch etwas erreichen können?«

»Der Leichnam von Shengali wird Mitte dieser Woche freigegeben. Ich habe Herrn Eshaya davon bereits in Kenntnis gesetzt, er wird sich dann um die Beerdigung kümmern. Außerdem hat er mir versprochen, diese Information auch an seine Tante weiterzugeben. Und an die Automodelle mach ich mich jetzt dran.«

»Sehr gut. Wenn Sie damit fertig sind, fahren Sie zu Ihrem Zeugen und legen ihm Ihre Liste vor. Wenn das heute noch ginge, wäre mir das sehr lieb. Wir, Herr Bartels und ich, machen uns jetzt auf den Weg zur Spedition, dann zu dieser privaten Arbeitsvermittlung. Sie haben also viel Zeit.«

»Ohne Anmeldung?«, fragte Heinrich. »Und wenn keiner von denen da ist, den wir sprechen wollen? Da fahren wir ja ins Ungewisse. Soll ich uns nicht besser vorher telefonisch anmelden?«

»Nein, sollst du nicht. Ich liebe Überraschungsbesuche. Vor allem dann, wenn ich der Überraschungsgast bin. Oft genug ist man der Wahrheit da viel dichter auf den Fersen als bei Vernehmungen, auf die sich die andere Seite vorbereiten kann.«

Während der Fahrt zum Hafen gingen sie noch einmal die Abfuhr, die Trommen auf der Konferenz hatte einstecken müssen, detailreich durch. Es herrschte also blendende Laune, als sie um kurz vor dreizehn Uhr in die Donaustraße einbogen.

Paula Steiner hatte erwartet, auf Frey senior zu treffen, doch diesmal zeigte er sich nicht. Der Hof war wie leergefegt, und auch das Gebäude selbst wirkte verlassen. Heinrich hielt vor dem Areal und stellte den Motor ab. Als sie aus dem Wagen stiegen, erkannte sie, wie sich hinter dem äußersten linken Fenster zwei Schatten bewegten. Es musste also jemand da sein. Langsam marschierten sie auf den Haupteingang zu. Zwei Minuten nachdem sie den Klingelknopf betätigt hatte, öffnete ihnen endlich ein großer, ziemlich dicker Mann die Tür. Rundes Gesicht, dunkelbraunes lockiges, fast schon krauses Haar, das ihm fettig bis auf die Schultern herabhing, schwarze Jeans und ein ehemals schwarzes, jetzt vom vielen Waschen ausgebleichtes T-Shirt mit dem sicher auch ehemals weißen, jetzt schmutziggrauen Aufdruck »Böhse Onkelz« auf Brusthöhe. Er war ihr vom ersten Augenblick an unsympathisch.

»Ja? Was ist denn?«, fragte er unfreundlich.

Sie erkannte seine Stimme. »Herr Frey, mein Name ist Steiner, Kripo Nürnberg. Wir haben schon zweimal miteinander telefoniert. Ich hätte heute noch ein paar Fragen an Sie. Das ist im Übrigen mein Kollege, Herr Bartels.«

Wortlos ließ er sie ein und führte sie nach links in einen langen schnurgeraden Flur. An dessen Ende eine offene Tür, daneben ein Schild mit dem Aufdruck »Joachim Frey – Geschäftsführer«. Frey betrat sein Zimmer als Erster, sie und Heinrich folgten ihm. Ein riesiger, durch eine offen stehende Schiebetür zweigeteilter Raum mit zwei lang gestreckten Fensterfronten, eine zeigte auf die Donaustraße, die andere auf das rückwärtige Areal des Frey’schen Anwesens. Dieser hintere Bereich des Raums schien das Wohnzimmer des Juniorchefs zu sein. Parkettboden, schwarzes Ledersofa, davor ein Glastisch mit halb gefüllten Wassergläsern, ein silbrig glänzender Hi-Fi-Turm plus Heimkinoanlage mit acht ebenfalls in Silber schimmernden Lautsprechern, an der Wand ein ausladender Flachbildschirm auf Stand-by-Betrieb. Ganz anders der vordere Teil, in dem eine unterkühlte, kahle Zweckmäßigkeit vorherrschte. Grauer Stahlschreibtisch, darauf ein aufgeklappter schwarzer Laptop, eine graue Schrankwand, die zur Hälfte leer stand und an deren Ende zwei Klappstühle lehnten. Das war alles. Joachim Frey schloss die Tür zu seinen Privatgemächern und setzte sich hinter den Schreibtisch.

»Dürfen auch wir Platz nehmen?«, fragte Paula Steiner betont freundlich.

»Nö. Es wird ja nicht lange dauern. Außerdem weiß ich gar nicht, was es da noch zu fragen gibt. Ich hab schon alles gesagt, was zu sagen ist. Mehr ist nicht drin. Da können Sie fragen, bis Sie schwarz werden.«

Seltsamerweise amüsierte sie das flegelhafte Benehmen des Juniorchefs. So sehr, dass sie kurz auflachen musste. Was für ein widerwärtiger Kotzbrocken! Erstaunlich, wie jemand mit solchen Manieren heutzutage Geschäftsführer einer mittelständischen Firma sein konnte. Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster und bemerkte, wie soeben ein silbergrauer Flitzer mit Karacho die menschenverlassene Donaustraße entlangschoss.

»Ich darf doch?«, fragte sie. Sie ging hinter seinen Drehstuhl, der so weit nach oben geschraubt war, dass Frey wie auf einem Thron saß, griff nach den beiden Klappstühlen, reichte einen an Heinrich weiter und stellte ihren direkt vor den Schreibtisch. Dann musterte sie Joachim Frey lang und lächelnd. Er erwiderte ihr breites Lächeln stoisch mit abweisendem Blick.

»So, Herr Frey, das ist ja jetzt richtig gemütlich bei Ihnen. Fehlen eigentlich bloß noch eine gute Tasse Kaffee und ein paar Kekse. Am liebsten wäre mir persönlich ein Cappuccino, aber heiß muss er sein, und ein paar von diesen wunderbaren Mini-Florentinern, die es mittlerweile in jeder Gebäckmischung gibt. Damit können Sie wohl nicht dienen? Nicht? Na ja, das wäre ja auch zu viel verlangt. Haben Sie denn Ihren Lastwagen wieder?«

Keine Reaktion.

»Aber ich gehe davon aus, dass ja. Denn sonst hätten Sie sich doch schon bei mir gemeldet und beschwert, gell? Und wie sieht es mit einem Nachfolger für Herrn Shengali aus?«

Wieder keine Reaktion.

»Ach, jetzt hatte ich doch tatsächlich vergessen, Sie als Mann von Welt, der weiß, was sich gehört, warten natürlich die entsprechende Trauerzeit um Ihren Mitarbeiter ab, der noch nicht einmal unter der Erde ist. Sie schalten nicht einfach pietätlos eine Woche später eine Anzeige. Mein Fehler, Sie derart falsch einzuschätzen. Verzeihen Sie mir.«

Sie hörte den leisen Klingelton eines Handys, das weit weg zu liegen schien.

»Möchten Sie den Anruf nicht entgegennehmen?«

Als Antwort erhielt sie nur diesen völlig ausdruckslosen Blick.

»Nicht? Gut. Dann können wir unsere reizende Plauderei ja fortsetzen. Wo war ich stehen geblieben? Ah ja, bei den Eingliederungszuschüssen, die Sie für Shengali und Ostapenko von der Agentur für Arbeit kassiert haben.«

Befriedigt registrierte sie, wie Freys Augenlider erstaunt in Richtung Stirn schnellten. Er verschränkte die Arme vor der schwarzgrauen T-Shirt-Brust.

»Vierundzwanzigtausend Euro auf einen Schlag. Ein hübsches Geschenk von Vater Staat, oder?«

Da sie von ihrem Gegenüber keine Antwort, weder eine verbale noch eine nonverbale, erhielt, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. »Das finden Sie nicht? Ich finde, schon. Und das Allerbeste dabei ist, dass dieses Geschenk demnächst wieder fällig wird. Wenn Sie nämlich einen Nachfolger für Shengali gefunden haben. Nur entsprechend langzeitarbeitslos muss er sein oder schwer vermittelbar. Aber wem sage ich das? Das wissen Sie als ausgebuffter erfolgreicher Geschäftsführer sicher besser als ich.«

Sie setzte ihr reizendstes Lächeln auf, zu dem sie in diesem Moment fähig war, und fuhr fort: »Jetzt zu einem anderen Thema. Uns liegen Zeugenaussagen vor, wonach Sie Herrn Shengali kündigen und ihn erst nach einer langen Weile wieder weiterbeschäftigen wollten. Warum? Mangelte es an der Zuverlässigkeit, der Motivation, hat er Überstunden verweigert, was war der Grund? Wenn Sie dazu bitte ebenso wortreich und eloquent Stellung nehmen könnten, wie Sie das bisher getan haben. Andernfalls würden wir, lieber Herr Frey, den hässlichen und sicher unrichtigen Eindruck gewinnen, Sie hätten mit diesem Fall irgendetwas zu tun, was nicht hundertprozentig in Ordnung ist. Und das wollen wir beide doch nicht, oder?«

Jetzt zeigte Frey eine erste Reaktion. Eine nonverbale und eine verbale. Er befreite seine Arme ruckartig aus der Verschränkung, legte die Hände mit einem lauten Klatschen auf die Schreibtischplatte und sagte knurrend: »Ich rufe jetzt meinen Anwalt an.« Mit diesem Satz gewann der Dialog erstmals an Schwung, um umgehend und endgültig wieder in der Trübe dieses frühen Nürnberger Nachmittags zu verschwinden.

»Was, ein Anwalt?«, rief sie entgeistert, mit einem beleidigten Unterton, aus. »Genügen wir Ihnen nicht mehr als Gesprächspartner? Finden Sie unsere Konversation etwa langweilig? Also, ich nicht. Ich fand alles, was Sie sagten, sehr aufschlussreich, ungemein unterhaltsam, ja mitunter sogar spannend. Schade, dass Sie das anders sehen. Aber natürlich, Herr Frey, wenn Sie sich andernorts weiter mit uns unterhalten möchten, gerne und jederzeit. Dann aber möchten wir uns für Ihre großherzige Gastfreundschaft revanchieren und laden Sie hiermit ganz offiziell und sehr herzlich zu uns ins Präsidium ein. Sagen wir, übermorgen um fünfzehn Uhr? Kommt Ihnen das gelegen? Ja? Schön, dann freuen wir uns auf Sie und auf Ihren Rechtsanwalt. Vielleicht können Sie sich bis übermorgen auch an Ihre Gründe erinnern, die eine Entlassung Shengalis nahelegten. Ich fürchte nämlich, so einen netten Plausch wie heute werden wir dann nicht mehr haben.«

Sie erhob sich, Heinrich tat es ihr gleich. An der Tür drehte sie sich noch einmal zu Frey, der immer noch regungslos auf seinem Drehstuhl thronte. »Und es versteht sich natürlich von selbst, dass Sie auch denjenigen, der vor uns in den Genuss Ihrer überbordenden Gastfreundschaft kam, gerne mitbringen dürfen. Sie wissen schon, den mit dem silbergrauen Crossfire, der es leider so eilig hatte, dass Sie uns einander nicht vorstellen konnten.«

Sie sah den Widerspruch und dessen Falschheit, oder zumindest die Ahnung dieses Widerspruchs in seinen Augen aufblitzen und ebenso schnell wieder verlöschen. Da sie wusste, dass weitere Sticheleien sinnlos waren, ließ sie es dabei bewenden und wünschte ihm noch »einen schönen Tag«.

Als sie über den Hof zu ihrem Wagen gingen, sagte Heinrich: »Schade, dass die Eva nicht dabei war. Heute hätte sie was lernen können. Manchmal bist du richtig göttlich, Paula. Einfach einmalig.« Er zeigte anerkennend mit beiden Daumen nach oben. »Glaubst du, der Frey war es?«

»Nein, das glaube ich nicht. Aber irgendwie hängt er in der Sache mit drin, und wenn es nur ganz am Rand ist.«

»Also, ich glaube auch, er hängt mit drin, aber nicht am Rand, sondern mitten im Zentrum. Mensch, war das ein Arschloch! Und ich sage dir: Wer ein Böhse-Onkelz-T-Shirt trägt, macht auch vor anderen Sachen nicht Halt. Wann hast du denn den Crossfire gesehen?«

»Gleich am Anfang. Noch bevor ich die Stühle geholt habe. Aber Heinrich, das war nur ein Schuss ins Blaue. Das muss gar nichts zu bedeuten haben. Frey hat ja auch kaum darauf reagiert.«

»Doch, ich glaube schon, das hat was zu bedeuten«, widersprach er. »Ich ruf jetzt die Eva an und sag ihr, sie kann sich das mit der Modellliste sparen. Sie soll dem Rentner gleich ein Bild mit so einem Crossfire zeigen. Du wirst sehen, der erkennt den wieder.«

»Und selbst wenn? Ohne Kennzeichen? Ohne jeden weiteren Anhaltspunkt? Das bringt uns nicht weiter. Der Wagen kann ja auch aus dem Umland sein.«

»Rede doch nicht immer alles klein, was du herausgefunden hast! Jetzt haben wir schon mal den ersten Ermittlungserfolg. Und darauf kannst du stolz sein.«

Zu Heinrichs Bedauern war Eva Brunner bereits außer Haus, wie die Zentrale ihm mitteilte.

»Ihr habt sicher schon Freys Alibi überprüft. Oder?«, fragte er seine Vorgesetzte, nachdem er aufgelegt hatte.

»Puh, das kann ich dir im Augenblick nicht mit Bestimmtheit sagen. Er hat angegeben, daran kann ich mich noch erinnern, zur Tatzeit in Ansbach gewesen zu sein. Ich glaube, auf Kundenakquise«, antwortete sie ausweichend.

»Dann mach ich das, sobald wir wieder im Präsidium sind.«

Schließlich hatten sie ihr nächstes Ziel erreicht und stellten den Wagen auf dem kostenpflichtigen Parkplatz am Südausgang des Hauptbahnhofs ab. Kramers Agentur im Frauentorgraben lag nur einen Steinwurf davon entfernt. Sie mussten nicht klingeln, die Haustür stand offen. Das Firmenschild neben dem Lift informierte sie, dass die private Arbeitsvermittlung im obersten Stockwerk des Gebäudes logierte.

Hier nun drückte sie auf den Klingelknopf, ein-, zweimal – nichts. Ein drittes Mal, nun wesentlich beherzter und kraftvoller – wieder nichts. Schließlich hämmerte sie mit Vehemenz auf die Metalltür. Da endlich wurde sie geöffnet, und eine junge Frau von höchstens zwanzig, zweiundzwanzig mit leuchtend orangerot gefärbtem Haar fragte sie vorwurfsvoll: »Was ist denn?«

»Es ist, dass wir Herrn Kramer sprechen wollen.« Sie zog ihren Ausweis aus der Handtasche und hielt ihn der Türöffnerin entgegen.

»Herr Kramer ist beschäftigt. Den können Sie jetzt nicht sprechen. Kommen Sie rein, ich geb Ihnen einen Termin.«

Sie folgten der jungen Frau an den Tresen. Als die Kommissarin eine Sitzgruppe sah, ging sie darauf zu und nahm auf einem der weichen braunen Ledersessel Platz. Sie winkte Heinrich zu sich und rief laut Richtung Tresen: »Bemühen Sie sich nicht, wir warten gerne hier, bis Herr Kramer Zeit hat für die Kriminalpolizei von der Mordkommission.«

Daraufhin verschwand Mademoiselle Orange in einem der hinteren Räume. Als sie wiederkam, wurde sie von einem mittelgroßen Mann in einem gut sitzenden und sicher teuren Anzug begleitet.

»Karsten Kramer«, sagte der Mann und lächelte.

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. »Paula Steiner. Und das ist Heinrich Bartels, mein Kollege. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie ein wenig Zeit für uns erübrigen können.«

»Wir müssen alle helfen, wenn die Polizei ruft.«

Eine Plattitüde, für die er eigentlich zu jung war. Aber er hat, dachte sie, eine angenehme Stimme. Kramer trug schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe, ein anthrazitfarbenes T-Shirt von ausgesuchter Qualität unter dem hellgrauen Sakko und hatte hellblondes, glattes, kinnlanges Haar, das auf der Seite gescheitelt war und das er jetzt mit einer weichen Kopfbewegung nach hinten schüttelte. Blaue Augen, dezente Bräune, schmales Gesicht. Ihr erster Eindruck war, dass dieser Mann mit allem Perfektion ausstrahlte, durch seine Kleidung ebenso wie durch seine Art sich zu bewegen und zu sprechen.

»Gehen wir doch in mein Büro, da können wir ungestört reden. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Frau Steiner, Herr Bartels?«

Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, war ihr, als würde sie schlagartig in eine andere Welt und eine andere Zeit versetzt werden. In die Zeit des britischen Kolonialismus. Ein weinroter Laptop und die hellgrauen Fensterrahmen aus Metall waren die einzigen Hinweise darauf, dass sie sich in der Neuzeit befanden. Alles andere in diesem Raum war aus altem Teakholz oder Mahagoni vor vielen, vielen Jahren von Hand gefertigt – der breite Schreibtisch mit seinen Messingknöpfen und der ahornbraunen Filzeinlage, die rotbraun glänzenden Stühle, die zwei niedrigen Regale und der zwölffächrige Locker. Damit harmonierten die in Wischtechnik taubenblau gestrichenen Wände und die Decke in Königsblau, von der ein riesengroßer Ventilator hing – ebenfalls eine Antiquität aus goldgelb schimmerndem Messing.

Es war vor allem diese Farbenkombination aus sattem Blau und warmem Rotbraun, die sie einlullte und beruhigte. Ihr die Kampfeslust und Forschheit nahm, die sie bisher an den Tag gelegt hatte. Heinrich dagegen schien immun gegen die besänftigende Wirkung dieses kalkulierten Farbenarrangements zu sein. Er fragte: »Herr Kramer, wissen Sie schon, dass Abdulaziz Shengali ermordet wurde?«

»Ja. Herr Frey hat es mir gesagt. Eine furchtbare Geschichte. Ich hatte einen besonderen Konnex zu ihm. Wie ich hörte, hat oder hatte Herr Shengali auch Familie. Schlimm ist das. Für uns alle.«

»Ist Ihr Kontakt zu Herrn Frey so eng oder gar persönlicher Natur, dass er Sie auch über solche Sachen, die ja außerhalb der rein geschäftlichen Seite liegen, informiert?«, fragte Heinrich weiter.

»Als eng oder gar persönlich würde ich das Verhältnis zu Herrn Frey nicht bezeichnen. Schon eher als sehr gut. Aber in dem Fall hat das rein Geschäftliche den Ausschlag für diese Information gegeben – Herr Frey sucht Ersatz für seinen auf diese schreckliche Weise ums Leben gekommenen Fahrer. Da hat er sich an mich beziehungsweise an unsere Agentur gewandt.«

Kramer beugte sich zu Paula Steiner und sagte höflich: »Ich habe Tee bestellt. Ich hoffe, Sie trinken Tee?« Er schloss seine Frage mit dieser ihr schon bekannten eleganten Kopfbewegung ab, die das blonde Haar in einem weichen Bogen nach hinten beförderte. Wie ein Popper aus den achtziger Jahren, dachte sie, die mussten sich auch immer eine Strähne aus der Stirn blasen.

»Gerne«, antwortete sie und sah auf ihre Uhr, die vierzehn Uhr dreißig anzeigte. »Auch deswegen, weil ich seit fast acht Stunden nichts mehr zu mir genommen habe.« Mit dieser zusätzlichen Information hoffte sie, in den Genuss einer so exquisiten Auswahl an Keksen zu kommen, wie sie Frau Vitzthum ihr angeboten hatte. Vor allem hoffte sie auf diese delikaten Mini-Florentiner.

»Können Sie sich noch an Herrn Shengali erinnern? Daran, warum er zu Ihnen gekommen ist?«, machte Heinrich weiter, kaum dass sie zu Ende gesprochen hatte.

»Ja, natürlich. Herr Shengali kam zu mir, weil er über die Agentur für Arbeit nicht fündig wurde und ich zeitgleich auf der Suche nach einem Fahrer für Frey-Trans war. Außerdem war Herr Shengali für diese Position bestens geeignet. Er hatte ein gewinnendes Wesen, ausgezeichnete Manieren, die heutzutage selbst bei einem Lkw-Fahrer als Primärtugend von großer Bedeutung sind. Wenn Sie mir eine private Bemerkung erlauben – er war mir außerordentlich sympathisch, von Anfang an. Ich hatte das Gefühl, er und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Wenn nicht seine doch recht primitive Herkunft dagegen gesprochen hätte, denke ich, hätten wir sogar Freunde werden können.«

Nachdem zu diesem Exkurs in die intimen Befindlichkeiten des Vermittlers keine Nachfrage erfolgte, kehrte er zum eigentlichen Thema zurück. »Dann war er hochmotiviert und bereits in Besitz des Kraftfahrerführerscheins, auch das keine Selbstverständlichkeit in diesem Gewerbe. Die meisten, die Lkw-Fahrer werden möchten, lassen sich den Führerschein von der Agentur bezahlen.«

»Diese aber«, hakte Heinrich nach, »würden dann keine weitere Förderung erhalten, wie Eingliederungszuschüsse oder Vermittlungsprämien?«

Sie starrte auf die Tür. Wo blieb der versprochene Tee? Wo die ersehnten Kekse?

»Ja«, bestätigte Kramer mit einem energischen Haarschütteln, »da haben Sie im Großen und Ganzen recht. Es gibt zwar Ausnahmen, die jedoch sind dünn gesät.«

»Betreuen Sie jeden, der zu Ihnen kommt, oder haben Sie sich auf bestimmte Gebiete konzentriert?«

Bevor Kramer zur Antwort ansetzen konnte, wurde endlich die Tür geöffnet und seine orangehaarige Assistentin kam mit einem Tablett herein. Jetzt war es an Paula Steiner, zu lächeln, denn darauf befand sich auch eine dreistufige Etagere mit in blauem Stanniolpapier verpacktem Konfekt, Pfefferminzschokoladentalern und – klitzekleinen Florentinern, Konditor-Florentinern. Sie schwiegen, während serviert wurde.

»Danke, Frau Bernreuther. Ich möchte bitte nicht gestört werden, solange unsere Gäste da sind. – Jetzt zu Ihrer Frage, Herr Bartels: Betreuen ist möglicherweise nicht ganz das passende Wort. Die Agentur für Arbeit betreut ihre Kunden, ich vermittle sie. Aber ja, um auf Ihre zweite Frage zu antworten, wir vermitteln in erster Linie Berufskraftfahrer, Lagerarbeiter, Staplerfahrer und Automechaniker. Die sind besonders lecker«, sagte er zu Paula und deutete dabei auf die Florentiner, »die müssen Sie probieren, Frau Steiner.«

Sie stellte die Teetasse ab und kam seiner Aufforderung umgehend nach. Hm, stellte sie erfreut fest, diese Konditorware schmeckte ja noch besser als die aus der Gebäckmischung von Ostapenkos Ehefrau.

Während ein Florentiner nach dem anderen auf ihrem Dessertteller mit dem hübschen weiß-blauen Muster landete, fragte Heinrich den Agenturleiter nach einer Erklärung, warum der hochmotivierte, mit allen Primär- und Sekundärtugenden ausgestattete Shengali um seinen Arbeitsplatz fürchten musste, zumindest vorübergehend.

»Davon weiß ich nichts. Das ist mir unbegreiflich. Haben Sie denn dazu gesicherte Aussagen, Herr Bartels?«

»Ja, haben wir. Aber vielleicht kann uns Herr Frey junior da die nächsten Tage weiterhelfen. Heute Mittag war er uns gegenüber bedauerlicherweise nicht so gesprächsbereit und offen, wie Sie es sind.«

»Haben Sie dazu eine Theorie? Also eine Idee oder Vorstellung, in welchem Zusammenhang diese Aussagen mit dem Mord an Herrn Shengali stehen?«

Die kaum merkliche Veränderung in Kramers lächelndem Gesicht war Paula Steiner trotz der Florentiner nicht entgangen.

»Ja. Aber die können wir Ihnen gegenüber leider nicht darlegen, wofür Sie bitte Verständnis haben wollen.«

Sie horchte auf. Heinrich hatte inzwischen die betont weltmännischen Umgangsformen Kramers und dessen ein wenig altklugen Habitus adaptiert. Es war sonst nicht seine Art, solche Floskeln abzusondern.

»Seit wann gibt es Ihre Agentur?«

»Seit acht Jahren.« Auf Heinrichs fragenden Blick fügte Kramer hinzu: »Ich war bis dahin selbst Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt, damals hieß es ja noch so. Aber dann sah ich dort keine Entwicklungschancen mehr für mich und habe mich selbstständig gemacht. Man kann also sagen, ich habe den Beruf von der Pike auf gelernt.«

Da von Heinrich die nächste naheliegende Frage ausblieb und sämtliche Florentiner der Porzellan-Etagere aufgegessen waren, stellte sie diese Frage: »Sind die Bezüge als Arbeitsvermittler so üppig, dass man sich dies alles hier«, sie deutete in einer ausladenden Geste auf die Antiquitätensammlung, »so ohne Weiteres leisten kann?«

»Nein«, lächelte Kramer, »das nicht. Aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt etwas geerbt. Zudem erleichterte mir mein früherer Arbeitgeber den Weg in die Selbstständigkeit. Das Arbeitsamt bewilligte mir einen Gründungszuschuss für die ersten sechs Monate. Trotzdem war es ein Wagnis mit offenem Ausgang. Vor allem die beiden Anfangsjahre waren finanziell gesehen nicht leicht. Letztendlich gaben meine profunden Kenntnisse und auch meine persönlichen Beziehungen zu den Klienten den Ausschlag dafür, dass ich schon nach kurzer Zeit schwarze Zahlen schreiben konnte.«

Da sich mit dem letzten Mini-Florentiner auch die besänftigende Wirkung des Farbenarrangements verflüchtigt hatte, wechselte sie übergangslos, ja, fast schon unhöflich das Thema. »Nur eine letzte Frage noch, Herr Kramer. Sie haben doch bestimmt ein Auto. Wenn Sie uns sagen würden, welches Fabrikat, welches Baujahr und die Farbe, bitte.«

»Ich fahre einen Audi A4. Schwarz, vom letzten Jahr. Geleast.«

Sie bekam den Eindruck, dass er wachsam wurde, was wiederum dazu führte, dass sie ihre Aufmerksamkeit schärfte. Sie sah kurz zu Heinrich, der sich Notizen machte. Er würde diese Aussage als Erstes überprüfen.

Kramer stand auf. »Ich wünschte, ich hätte Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen können.«

Sie merkte, dass der Agenturleiter die Teestunde gerne als beendet betrachten wollte. Sie jedoch wollte ihn noch ein wenig zappeln lassen. Also blieb sie sitzen. »Aber das haben Sie doch, Herr Kramer. Sie haben uns sogar sehr geholfen, mehr als Ihnen vielleicht bewusst ist«, plapperte sie drauflos und ließ den Blick nicht von Kramers Gesicht, auf dem sich nun Ungeduld und eine leichte Nervosität ausbreiteten. »Dürfte ich Ihnen noch eine Frage stellen? Das wäre dann aber wirklich meine allerletzte.«

Wieder diese elegante Kopfbewegung, die sie als Erlaubnis deutete.

»Sie als jemand, der mit dieser Thematik seit Jahren beruflich zu tun hat, sie sozusagen aus dem Effeff beherrscht, können uns doch sicher eine Ahnung vermitteln, welchen Stellenwert die Arbeit für Menschen wie Shengali oder Ostapenko hat.«

Kramer gab vor, nachzudenken. Schließlich sagte er: »Einen hohen, vielleicht sogar den höchsten. Neben der Familie, versteht sich. Jeder Mensch ohne Arbeit fühlt sich ausgeschlossen, überflüssig, nicht zur Gesellschaft gehörig, in seiner Ehre verletzt. Aber bei Ausländern wie Herrn Shengali kommt die – natürlich unrichtige – Überzeugung hinzu, sie seien unwillkommen. Und dieses Gefühl birgt meines Erachtens ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial in sich. Denn wie reagiert jemand, der sich von seiner Umwelt abgelehnt sieht, dessen Ehrbegriff auf das Gröbste verletzt wird? Mit Aggression, mit Gewalt. Wir sehen es ja vor allem bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund allenthalben.«

Sie kommentierte diesen Kurzvortrag inklusive der überraschenden Schlusswendung mit einem »Aha. Interessant« und erhob sich. Kramer verabschiedete seine Gäste an der Tür. Draußen stand bereits Frau Bernreuther bereit, um sie hinauszubegleiten.

»Dieser Mensch hat ja seltsame Ansichten«, murmelte Heinrich, als sie wieder draußen standen. Auf ihren fragenden Blick fügte er hinzu: »Du fragst ihn nach der Bedeutung, die die Arbeit für Migranten oder Ausländer generell hat. Und er antwortet: Eine so große, dass jeder, der sie verliert oder erst gar nicht bekommt, gewalttätig wird. Das heißt doch in der Verlängerung, wir sollen bei den aggressiven Arbeitslosen unseren Mörder suchen. Das ist doch Quatsch hoch drei!«

»Natürlich ist das Quatsch. Aber Kramer hat auch ein paar richtige Sachen gesagt. Wie die über die verletzte Ehre, über den Ehrbegriff.« Ihr fiel der Gedanke ein, den sie erst auf der Kindinger Parkbucht, dann vor dem Wasserwerk hatte: Hagen von Tronje bringt den Helden Siegfried um, der Auftragsmörder als kaltblütiger Verräter einer ehemals tiefen Männerfreundschaft.

»Ich glaube jetzt, dass die betenden Hände keine Warnung oder Botschaft des Mörders waren, sondern eine Finte. Auf die wir reinfallen sollen, auf die wir aber nicht reinfallen. Weil wir wissen, worum es letztendlich geht.«

»So, um was geht es denn letztendlich?«

»Um das weite Feld der Ehre, Heinrich.«

»Oh, toll, eine klasse Erklärung. Und so konkret. Das erleichtert uns die Arbeit ja ungemein.«

Als sie die Eilgutstraße erreicht hatten, setzte er unerwartet ernst hinzu: »Darf ich dir mal was sagen, ohne dass du mich gleich wieder runterbügelst wie heute Vormittag?«

»Ich habe dich nicht runtergebügelt, ich wollte nur …«

»Doch, das hast du«, unterbrach er sie. »Und meinst du, ich merke nicht, wenn du dich über mich lustig machst? So wie heute früh. Die Eva kennt dich erst ein paar Tage. Die kriegt so was natürlich nicht mit. Ich schon!«

Jetzt waren Diplomatie und Feingefühl gefragt. Und auch eine kleine Portion Wahrheit. Sie erwiderte: »Also, der Anfang deiner Ausführungen hat mich wirklich überzeugt. Da könnte was dran sein. Ja. Mag sein, dass ich am Schluss deines Vortrags ein wenig, sagen wir: überrascht war. Das aber wiederum dürfte dich nicht wundern. Du weißt doch, ich habe es mehr mit den konkreten, handfesten Dingen. Mir fehlt da eben deine unbändige Phantasie.«

Heinrich, der sie während ihrer Rede aufmerksam beobachtet hatte, schien das als Erklärung zu genügen, denn er nickte und sagte dann: »Ich glaube nicht, dass die Hände eine Finte waren. Auch keine Warnung oder Drohung. Ebenso wenig ist der Täter ein Psychopath, wovon die Eva überzeugt ist. Ich glaube, der Mörder hat Shengali aus zwei Gründen vor das Wasserwerk so hindrapiert: zum einen aus Lust am Spiel. Und zum anderen um sich in diesem Detail als kundigen Ästheten, als kunstsinnigen Experten zu verewigen, vor sich selbst, aber auch vor der Öffentlichkeit. Dem war das zu platt, den Leichnam einfach so abzulegen und dann wegzufahren. Er wollte ihm zum Schluss noch eine eigene, seine persönliche Note verpassen, seinen Stempel aufdrücken. Eine Duftmarke setzen. Dass er dafür ausgerechnet dieses volkstümliche Symbol der Religiosität, das Synonym des Betens und Trauerns gewählt hat, spielt bei der Sache eine untergeordnete Rolle. Da habe ich anfangs zu viel hineininterpretiert, da hast du schon recht. Auf jeden Fall ist das jemand, der mit seiner Stellung in der Gesellschaft nicht zufrieden ist. Der von sich ein anderes Bild hat als seine Umwelt. Und diese unterschiedlichen Sichtweisen korrigiert er mit diesem Arrangement zu seinen Gunsten, nimmt sich dafür die nötige Zeit und vergrößert damit sogar das Risiko, dabei gesehen, entdeckt zu werden.«

»Ein Wichtigtuer, ja, das klingt glaubhaft und logisch. Da stimme ich dir voll und ganz zu, Heinrich. Schade nur, dass uns dein Profiling ermittlungstechnisch so gar keinen Schritt voranbringt.«

»Momentan noch nicht. Aber manchmal hilft einem ja der Zufall. Sagt zumindest meine Chefin immer, und die muss es wissen, die hat nämlich bis jetzt jeden Fall gelöst.« Er lächelte sie an.

Es war dieses zufriedene und verschmitzte Lächeln, das sie Heinrichs Vorlage aufgreifen und weiterspinnen ließ. »Ein Gernegroß, der eine Leiche als Deko-Material benutzt und der sich sehr sicher fühlt. Weil niemand ihm die Tat zutrauen würde. Und es ist jemand, der sich eingehend mit Kunst beschäftigt. Wobei, dafür reichen Grundkenntnisse. Dürers Hände kennt jeder. Zumindest in Nürnberg. Oder?«

»Exakt. Ein hochgradiges Arschloch aus dem mittelfränkischen Raum mit kunstgeschichtlichem Allerweltswissen«, setzte Bartels den Schlusspunkt unter dieses fein ziselierte Profiling.

Auf dem Parkplatz des Hauptbahnhofs trennten sich ihre Wege. Heinrich wollte heim, sie musste den Wagen ins Präsidium zurückbringen.

Dort wartete eine aufgeregte Eva Brunner auf sie.

»Stellen Sie sich vor, der Rentner hat den Wagen erkannt. Es war ein …«

»Crossfire«, vollendete sie den Satz.

»Ja, genau. Woher wissen Sie das?«

»Als wir bei der Spedition waren, fuhr dort ein silbergrauer Crossfire vom Hof. Ziemlich flott, der Fahrer hatte es anscheinend eilig. Leider habe ich das Nummernschild nicht erkennen können.«

»Schade. Das würde uns die Suche sehr erleichtern.«

»Das heißt: Sie wollen alle Autos dieser Marke überprüfen?«

»Ja, das hatte ich mir als Nächstes vorgenommen. Wenn Sie damit einverstanden sind.«

»Aber Frau Brunner, nach welchen Kriterien wollen Sie dies überprüfen? Der Wagen kann von überallher sein. Aus Nürnberg, aber auch aus dem Umland. Aus Franken oder aus Bayern, aus Deutschland oder auch aus dem Ausland. Das dauert, dafür würden Sie uns viel zu lang für andere Arbeiten ausfallen. Nein, damit bin ich im Moment nicht einverstanden. Das können Sie morgen immer noch machen. Im Augenblick habe ich zwei andere wichtigere Aufträge für Sie. Wir haben, und das ist mein Fehler, Joachim Freys Alibi noch immer nicht überprüft. Er war zur Tatzeit, sagt er, in Ansbach.« Sie reichte ihr die handschriftliche Notiz. »Ich will wissen, ob das stimmt. Rufen Sie dort gleich an. Meine zweite Bitte: Wir waren soeben bei diesem privaten Arbeitsvermittler, bei Karsten Kramer; er gibt an, er habe einen schwarzen geleasten Audi A4. Das überprüfen Sie anschließend.«

Wortlos machte sich Eva Brunner an die Arbeit. Man muss sie nur beschäftigen, dachte Paula Steiner, dann ist ihre Redseligkeit gut zu ertragen. Aus diesen infamen Überlegungen schreckte sie ein Anruf. Es war Hermann Tischler, ihr Kollege aus Beilngries.

»Grüß Gott, Frau Steiner. Ich weiß, ich hätte mich schon längst bei Ihnen melden sollen. Aber bis heute kam keine Rückmeldung aus der Bevölkerung. Jetzt erst, vor einer halben Stunde, hatte ich einen Anrufer, der glaubt, zur fraglichen Zeit einen silbergrauen …«

»Crossfire gesehen zu haben«, fiel sie ihm ins Wort.

»Exakt. Das wollte ich sagen. Woher wissen Sie das?«

»Auch wir haben einen Zeugen, der so ein Auto gesehen hat. Allerdings vor dem Nürnberger Wasserwerk, wo der Tote gefunden wurde. Da liegt dieser Gedanke nahe.«

»Schade. Jetzt dachte ich, wir Beilngrieser könnten auch etwas zur Aufklärung dieses Mordes beitragen. Aber wenn ihr in Nürnberg schon alles wisst …« Der Hauptwachtmeister klang enttäuscht.

»Natürlich haben Sie uns damit geholfen. Denn jetzt erst, mit Ihrer Bestätigung, können wir uns bei der Suche auf diesen sehr seltenen Autotyp konzentrieren. Das ist doch schon mal was.« Das war gelogen. Sie hatte sich ja bereits nach Eva Brunners Vorschlag entschieden, die Anwärterin morgen mit der Überprüfung zu beauftragen. Doch sie wollte Tischler nicht noch mehr enttäuschen.

Eine halbe Stunde später legte Eva Brunner los.

»Also erstens, dieser Kramer hat tatsächlich so einen Audi geleast. Und zweitens, das Alibi von dem Juniorchef scheint auch zu stimmen. Das ist eine Großgärtnerei, die wollen ihre Blumen in Zukunft über eine andere Spedition versenden und haben deshalb, unter anderem, bei Frey-Trans um ein Angebot nachgefragt. Frey war bei denen an dem besagten Montag über zwei Stunden, von acht bis zehn.«

Sie sah auf die Uhr. Schon halb sechs. »Gut. Danke. Wir machen morgen weiter. Jetzt ist Feierabend.«

Auf dem Heimweg verbot sie sich, weiter über diesen Fall nachzudenken, bei dem sich so viele lose Fäden, aber einfach kein roter Faden finden ließ. Bei dem zu viel Unvereinbares aufeinanderprallte, als dass sie es in eine ordnende Struktur bringen konnte. Bei dem es, da war sie sich sicher, um viel Geld ging, aber nichts von der 350.000-Euro-Fracht fehlte. Der mit einer Symbolik aufgeladen war, die an das große Thema der Nibelungen – Treue und Verrat – erinnerte oder erinnern sollte, in dem aber gleichzeitig solche banalen, höchst realen Dinge wie Arbeit, Gutscheine, Zuschüsse eine Rolle spielten. Was verbarg sich hinter der rituell-religiösen Duftmarke, von der Heinrich gesprochen hatte? Warum redete Kramer, der Arbeitsvermittler über Ehrverletzung? Und warum weigerte sich Frey, der Arbeitgeber, überhaupt ein Wort zu reden? Sie erinnerte sich an ihr Verbot. Schluss, aus, basta. Heute wird nicht mehr gedacht.

Erst als sie die Wohnungstür aufsperrte, fiel ihr ein, dass ihr Kühlschrank wahrscheinlich leer war. Sie verwünschte sich und ihre Sorglosigkeit. Die umgehend folgende Kontrolle bestätigte ihre Vermutung: Der Kühlschrank war leer.

Sie saß gerade am Küchentisch, mit einem Glas Leitungswasser, einer Scheibe Brot und einer aufgerissenen Dose Ölsardinen vor sich, als es Sturm klingelte. Sie öffnete fluchend. Kurze Zeit später stand Paul vor ihr, mit zwei flachen Pappkartons in der rechten und drei Bierflaschen in der linken Hand.

»Heute bleibt die Küche kalt, heute essen wir was Feines aus dem Wald«, sagte er statt einer Begrüßung und überreichte ihr die Kartons. »Zwei Pizzas al funghi, eine für mich, eine für meine angebetete Paula.«

Sie strahlte. »Oh ja, meine Lieblingspizza. Komm rein, bevor sie kalt wird.«

Sie aßen in der Küche, direkt aus dem Karton. Paul überließ ihr sogar eine Flasche seines Franziskaner-Weißbiers. »Ungern, Paula, ungern. Und nur, weil du es bist.«

Sie fand, es schmeckte alles einfach köstlich, vor allem die Pizza. Eine Einschätzung, die Paul nicht teilte.

»Du brauchst doch nicht glauben, dass da irgendwas drin ist an Vitaminen, Mineralstoffen oder Ähnlichem. Das ist Chemie pur. Das ist nur ungesund. Aber zwischendurch können wir uns das schon mal leisten.«

Nach einer Pause setzte er mit einem breiten Grinsen hinzu: »Vor allem dann, wenn Manchester gegen Bayern spielt und wir keine Zeit zum Kochen haben. Weil wir ja das Spiel im Fernsehen anschauen müssen. Gell?«

»Auf jeden Fall. Das machen wir. Ich geh schon mal rüber. Bring halt deine Pizza mit. Und dein Bier.«

Sie schaltete den Fernseher ein, setzte sich aufs Sofa und nahm sich vor, die Zweisamkeit und auch das Fußballspiel kommentarlos zu genießen. Als die Farbe Grün ihr Wohnzimmer beherrschte, hatte Paul Zankl mit seinem zweiten Weißbierglas endlich neben ihr Platz genommen.

Auch dem Altbayern war das Vergnügen anzumerken, dieses Spiel der Münchner mit einem Münchner Getränk zu verfolgen, trotz fränkischer Eskorte auf dem Sofa. Für einen Oberpfälzer war er nämlich erstaunlich gesprächig und im Gegensatz zu ihr durchaus kommentarbereit. Das gefiel ihr an diesem Abend am besten – seine so fachmännischen wie gefühlsbetonten Meinungsbeiträge zu dem Spielverlauf, die, je aussichtsloser diese Begegnung für Bayern München schien, umso erregter und rätselhafter wurden.

Das erste Tor schoss Fletcher. Ein Tatbestand, der Paul zu seiner ersten Stellungnahme inspirierte.

»Einbrechen werden die Engländer net. Die spuiln in ihrem Stadion. Die kennen hier jeden Grashalm.«

Dann das 2:0. Die Hoffnung blieb. »Bayern kommt scho noch, bei denen geht’s ja um was.«

Eine Zuversicht, die sich im folgenden Spielverlauf als verfrüht herausstellen sollte. Aber einen triftigen, geradezu heimtückischen Grund hatte. »Der Rooney is verletzt, hams gsagt. Gar nix is der, pumperlgsund is der.« Danach hüllte sich der Moderator auf ihrem Sofa in Schweigen, sie spürte seine Resignation und auch den vorwurfsvollen Groll.

Viel später, fast schon zu spät erhielt der pumperlgsunde Wayne Rooney endlich eine rote Karte und verließ das Spielfeld. Freude und Zuversicht machten sich wieder auf dem Sofa breit. Und als sie kurz vor Mitternacht den Fernseher ausschaltete, nach einem überraschenden und für jeden Bayern-Fan erfreulichen Ergebnis, hatte sie zwei entscheidende Leitsätze dazugelernt. Erstens: »Pomadig brauchst bei den Engländern riet spuiln. Weil die wie die Blöden kämpfen.« Und zweitens: »Die Hintispielerei bringt gar nix. Vieriwärts musst spuiln, dann klappt’s auch.« Maximen, die sicher nicht nur auf dem Fußballfeld erfreuliche Ergebnisse hervorbringen würden.

Sie setzte sich noch mal neben Paul Zankl, der soeben zufrieden den letzten Schluck aus ihrem Weißbierglas nahm, und fragte ihn: »Welchen Stellenwert hat für dich eigentlich die Arbeit?«

»Ha? Was für Arbeit denn?« Er blickte sie erstaunt an.

»Na, Arbeit ganz allgemein. Der Beruf.«

»Arbeit hat keinen Stellenwert«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Damit verdient man Geld. Und Geld braucht man, um die Miete zu zahlen.«

»Das meine ich nicht. Das ist eh klar. Aber darüber hinaus, was bedeutet es dir, eine feste Arbeit zu haben?«

»Viel, denn sonst könnte ich meine Miete nicht bezahlen. Und was noch schlimmer wäre, auch kein Bier.«

Sie erkannte die Sinnlosigkeit, mit diesem pragmatischen, verstockten, für jedes feinsinnigere Thema unzugänglichen Menschen ein Gespräch führen zu wollen, und ließ es dabei bewenden. Paul mochte sich zwar auf dem heimischen Biermarkt auskennen wie kein Zweiter, aber von einer solchen Problematik wie dem weiten Feld der Ehre hatte er schlichtweg keine Ahnung.