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Zwanzig Minuten später parkte sie den BMW auf dem Innenhof des Präsidiums. Wer sie die Treppe zur Teppichetage so blendend gelaunt hochsteigen sah, hätte vermuten können, hier sei eine erfolgreiche Kommissarin auf dem Weg zum Rapport, um ihrem Chef die Lösung eines komplizierten Falls zu melden. Doch bei Paula Steiner verhielt es sich eher umgekehrt: Die frohe Stimmung, die sich aus ihrer Neugier auf das vor ihr Liegende speiste – zum großen Teil auf das Kennenlernen fremder Menschen –, war nur am Anfang einer neuen Aufgabe ihr Begleiter; am Ende jedes Falls hatte bei ihr immer eine leise Melancholie die Oberhand.
Forsch betrat sie Fleischmanns Vorzimmer. »Guten Morgen. Ich muss zu Herrn Fleischmann.«
Sandra Reußinger, Fleischmanns Sekretärin und ihre Intimfeindin Nummer eins, erwiderte den Gruß auf ihre Weise. Sie runzelte die glatte Stirn und starrte Paula Steiner aus weit aufgerissenen Augen vorwurfsvoll an. Diese Blickstarre der Blondine galt hausintern als sicheres Zeichen für einen bald folgenden Rüffel.
»Haallooo, guten Morgen. Hat es Ihnen die Sprache verschlagen, oder haben Sie für heute ein Schweigegelübde abgelegt?«
»Jeder in diesem Haus klopft vorher an, bevor er mein Zimmer betritt. Jeder! Nur Sie nicht. Obwohl ich Sie schon oft genug dazu«, Sandra Reußinger suchte nach einem passenden Verb, das ihre Hoheit in dem Vorzimmer, die selbstverständlich auch die Tür innen wie außen einschloss, unterstreichen sollte, »ermahnt habe. Ist denn das zu viel verlangt, dass Sie sich das ein für alle Mal merken?«
Ach ja, das leidige Anklopfen. Sie hatte es vergessen. Jetzt war sie es, die sich in Schweigen hüllte.
»Nun, ich finde, das ist vor allem eine Frage des guten Benimms. Und den hat eben nicht jeder«, schob Sandra Reußinger nach.
»Und ich finde, das hier sind nicht Ihre Privatgemächer, sondern der Platz, wo Sie Ihrer Arbeit nachgehen sollten. Und diese beinhaltet unter anderem, nur zur Erinnerung, Frau Reußinger, mich möglichst zügig zu Ihrem Chef durchzulassen.«
In dem Moment öffnete Fleischmann die Tür und murmelte in beider Richtung: »Ach, das schon wieder.«
Nachdem er sie eingelassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte, sagte er: »Muss das jedes Mal sein? Geht es nicht einmal ohne diesen Firlefanz? Darüber sollten Sie doch wirklich stehen, das haben Sie doch gar nicht nötig. Frau Reußinger natürlich auch nicht, ich weiß.« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Also dann, Frau Steiner, erzählen Sie!«
Sie berichtete, was sie am Erlenstegener Wasserwerk gesehen hatte. Fleischmann hörte ihr konzentriert zu, ohne sie zu unterbrechen. Noch Wochen später würde er sich an jedes Detail dieses Rapports erinnern können. Paula Steiner hegte einen gewissen Respekt für ihren Vorgesetzten. Er mischte sich nie in ihre Arbeit ein und drängte sie auch bei den Fällen, in denen die Öffentlichkeit umgehend einen Schuldigen forderte, nicht zu raschen Ergebnissen; er ließ ihr Zeit bei den Ermittlungen.
»Sie sind ja in Ihrer Kommission jetzt ganz auf sich allein gestellt. Möchten Sie jemanden aus Trommens Gruppe zur Unterstützung?«
»Nein, danke, auf keinen Fall«, wehrte sie eine Spur zu heftig ab. »Herr Bartels wird wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen aus dem Krankenhaus entlassen.«
»Aber wenn Sie zu Shengalis Frau gehen und ihr die Nachricht überbringen, brauchen Sie jemanden an Ihrer Seite. Oder soll das unsere Schutzpolizei übernehmen?«
»Nein, das würde ich gern selbst machen. Vielleicht könnte mich Frau Brunner, eine junge Praktikantin von uns, begleiten? Die hatte mit dem Fall heute Morgen schon zu tun, sie war bei der Sicherung und Absperrung dabei. Derzeit ist sie im Dezernat 2, ich glaube, in der K20 bei der Zentralen Auswertung. Außerdem soll sie ja demnächst sowieso in unser Dezernat wechseln, hat sie mir erzählt. Und sie scheint mir für eine solche Aufgabe sehr gut geeignet.«
Der Gedanke, dass die Bilderbuchpolizistin neben ihr stand, während sie der Familie diese in der Regel schlimmste aller Nachrichten überbrachte, war ihr erst während des Gesprächs mit Fleischmann gekommen. Aber er gefiel ihr.
»Gut, dann nehmen Sie Frau Brunner mit dazu. Mein Einverständnis haben Sie.«
Sie verstand den abschließenden Ton – die Audienz war beendet. Dennoch blieb sie sitzen.
»Ist noch was?«
»Mir wäre es recht, wenn Sie das erledigen könnten. Ich glaube, so von Dezernatsleiter zu Dezernatsleiter geht das wesentlich schneller, als wenn ich da vorstellig werden würde.«
»Das glaube ich zwar nicht, aber bitte.«
Er griff zum Telefon. Zwei Minuten später hatte sie die Zusicherung, über Frau Brunner »verfügen« zu können, so lange sie die Praktikantin und Kommissaranwärterin für den Fall Shengali benötigte.
Während des Telefonats hatte sie sich vorgenommen, auf dem Weg zurück in Sandra Reußingers Büro die Friedensfahne zu hissen. Sie bereute ihr Verhalten der Sekretärin gegenüber, nicht zuinnerst, aber zumindest so, dass es für eine kleine Nettigkeit reichen würde. Doch das sollte heute ihr Tag der uneingelösten guten Vorsätze werden, denn das Sekretariatszimmer war verwaist.
Als sie ihr Büro betrat, wartete Eva Brunner bereits auf sie. Mit einem prall gefüllten Leitzordner unter dem linken Arm, die Mütze in der rechten Hand stand sie aufrecht vor dem Stahlschrank und strahlte.
»Ich hätte mich schon in den Fall eingearbeitet, wusste aber nicht, welcher Schreibtisch mir künftig zusteht.«
Ein Missverständnis, das sie behutsam aufklären musste.
»Also, der hier«, sie tippte auf den leer gefegten grauen Stahltisch, auf dem lediglich ein PC und ein Becher mit Schreibutensilien standen, »ist meiner. Und der rechte«, sie deutete auf den daran bündig anschließenden, mit Aktenstapeln zugehäuften Weichholzschreibtisch, »gehört Herrn Bartels. Den können Sie gerne benutzen, bis mein Kollege wiederkommt. Ich rechne spätestens am kommenden Donnerstag mit ihm. Spätestens.«
Als sie die nach unten gerutschten Mundwinkel Eva Brunners sah, fügte sie hinzu: »Wenn nicht, wäre es natürlich schön, wenn Sie mich auch darüber hinaus unterstützen könnten.«
Dieser Zusatz zauberte ein hoffnungsvolles Lächeln in das Gesicht der jungen Frau.
Paula schaltete ihren Computer ein. »Als Erstes fahren wir zur Familie des Ermordeten. Dazu brauchen wir die Adresse. Möchten Sie das machen?«
»Bitte«, Eva Brunner klappte ihren Ordner auf und überreichte ihrer Interimsvorgesetzten ein Blatt Papier, »das habe ich schon für Sie ausgedruckt.«
»Das ging aber fix. Sind Sie immer so schnell?«
»Aber Frau Steiner, das ist doch leicht, das lernt man gleich am Anfang seiner Polizeiausbildung.«
Sie besah sich das Blatt. Abdulaziz Shengali, geboren 1970 in Basra, dort aufgewachsen, gelernter Kfz-Meister, 1998 nach Deutschland geflohen, 2000 als politischer Flüchtling anerkannt, verheiratet mit Ghofram Shengali, dreifacher Familienvater, wohnhaft in der Pillenreuther Straße.
»Gut, dann fahren wir.«
»Soll ich mich um das Auto kümmern?«
Sie musste hin und wieder Praktikanten in ihrem Sachbereich durchlaufen lassen und hatte dabei die unterschiedlichsten Personen kennengelernt, aber keine, die mit einem derart ausgeprägten Diensteifer und offensichtlichem Vergnügen bei der Sache war. Aus dem ersten Impuls heraus hätte sie fast geantwortet: »Ja, bitte, machen Sie das.« Aber eben nur fast. Stattdessen sagte sie: »Das ist nett, aber nein danke. Sie sollen ja hier etwas lernen. Und dass man den Wagen vorfährt, solche Sachen gibt es im Polizeialltag nicht. Die passieren nur im Fernsehen, in alten Krimiserien.«
Auf dem Weg Richtung Aufseßplatz überlegte sie, ob sie die Kollegin darauf hinweisen sollte, ausschließlich ihr bei Familie Shengali das Wort zu überlassen. Sie entschied sich dagegen. Nein, dieser Hinweis war bei Frau Brunner sicher überflüssig.
Endlich hatten sie im Zentrum der Südstadt einen halbwegs legalen Parkplatz gefunden und standen nun vor einem abstoßenden Mietshaus aus den fünfziger Jahren. Isolierverglaste Fenster, schmucklose beigefarbige fleckige Fassade, unablässiger Verkehrslärm trotz Ferienzeit.
Sie las die Namen unter den Klingelknöpfen. Die meisten waren serbisch oder kroatisch, vier offenbar türkisch. In dem Augenblick, als sie auf den Klingelknopf der Shengalis drückte, wurde die Haustür im Glasbaustein-Look von innen aufgestoßen, und ein dürrer Teenager – ob Mädchen oder junge Frau konnte sie unter dem zentimeterdick aufgetragenen Make-up und Rouge nicht ausmachen – blickte sie aus kajalumrandeten Augen feindselig an. Sie erkannte in dem grellbunt geschminkten Gesicht den perfekt gezeichneten Mund des Abdulaziz Shengali wieder. Auch die Kleidung, bauchfreies lilafarbenes Top, blaue und teuer wirkende Jeans, rote Marken-Sneakers mit Strass-Sternchen, zeugte von dem Mut der Jugendlichen zu absonderlichen Farbenkombinationen, weniger von Geschmack.
Als der Teenager sich rüde an ihnen vorbeigedrückt hatte, rief sie ihm nach: »Wir möchten zu Ghofram Shengali.«
»Was wollen Sie von der?« Die Stimme einer Dreizehn-, höchstens Vierzehnjährigen.
»Mit ihr sprechen.«
»Ich bin Solin Shengali, die Tochter. Meine Mutter spricht kein Deutsch, die versteht Sie nicht. Sagen Sie mir, was Sie von ihr wollen.« Die Stimme einer Dreizehn-, höchstens Vierzehnjährigen, die das Befehlen gewohnt war.
»Am besten, du gehst mit und übersetzt deiner Mutter, was wir ihr zu sagen haben.« Die Stimme einer Achtundvierzigjährigen, die ebenfalls das Befehlen gewohnt war.
Man sah Shengalis Tochter an, wie hin- und hergerissen sie zwischen Aufbegehren und Fügen war. Dass sie sich schließlich für Letzteres entschied, war sicher ihrer Neugier geschuldet, vermutete Paula Steiner. Oder Eva Brunners Uniform.
Ein schmales Treppenhaus mit Kunststeinstufen und dünnem Metallgeländer, auf den Etagen ausgefranste Bastvorleger. Ein eigenartiger Geruch, süß und scharf zugleich, stieg ihr in die Nase. Als das ungleiche Trio in der dritten Etage angelangt war, klingelte Solin Sturm. Es dauerte eine Weile, bis ihnen eine große, gedrungene Frau öffnete. Auffallend heller Teint, riesige braune Reh-Augen, unförmige blaue Pluderhose, karierte Bluse, wattierte braune Weste, braunes Kopftuch. Kein Ehering. Sie blickte die Kommissarin fragend an. Als sie Eva Brunner sah, huschte ein Schleier über ihre großen ausdrucksvollen Augen. Sie sagte nichts, deutete lediglich auf die Schuhe vor der Wohnungstür.
Dann wurden sie eingelassen und durch die handtuchschmale Diele in ein vollgestelltes überheiztes Zimmer geführt. Paula zählte zwei Sofas, zwei Sessel, einen niedrigen Couchtisch, sechs Stühle um einen Esstisch, eine Schrankwand. Auf den Sofas lümmelten ein Junge im Vorschulalter und eine etwa zwei Jahre jüngere Ausgabe von Solin, offensichtlich ihre Schwester. Der Fernseher lief.
Stehend zwischen Tür und Schrankwand stellte sie sich vor. Ihren Vorschlag, die zwei jüngeren Kinder zumindest für die nächste Viertelstunde aus dem Zimmer zu schicken, lehnte Solin Shengali so brüsk wie selbstbewusst ab. Also überbrachte sie ihre Nachricht in Gegenwart aller, wobei sie Frau Shengali nicht aus den Augen ließ. Solin übersetzte. Der Nebelschleier über den schönen dunkelbraunen Augen wurde dichter. Als sie geendet hatte, war es in dem stickigen Zimmer still. Nur aus dem Fernseher drangen fröhliche Gesprächsfetzen einer Kindersendung, eine bizarre Geräuschkulisse für diese Art Nachricht.
»Es tut mir sehr leid, was mit Ihrem Mann passiert ist. Wir werden alles daran setzen, den oder die zu finden, der das getan hat.«
Ghofram Shengali nickte und murmelte etwas, das sie nicht verstand. Paula Steiner sah fragend zu Solin. Da wiederholte deren Mutter, die der Kommissarin wohl unbedingt auf Deutsch antworten wollte, ihr »Danke schön« laut und verständlich.
Paula registrierte erleichtert, dass die Witwe, vor wenigen Sekunden noch eine Ehefrau, gefasst war. Sie würde vor ihnen nicht in lautes Wehgeschrei oder haltloses Weinen ausbrechen, nur eine Träne löste sich langsam aus dem Nebelschleier und rollte die Wange herunter, bis sie von dem Kopftuch, das auch den Hals und die obere Brust verdeckte, aufgesaugt wurde. Frau Shengali machte eine einladende Bewegung zu all den im Raum verteilten Sitzmöbeln. Paula Steiner setzte sich an den offensichtlich neuen Esstisch aus Kiefernholz mit seinen unschön wirkenden Astlöchern, ihre Gastgeberin nahm ihr gegenüber Platz. Eva Brunner folgte der Einladung nicht, sie blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen.
»Meine Mutter fragt, ob Sie Tee möchten.«
»Das ist sehr freundlich. Aber danke, nein. Ich hätte noch ein paar Fragen. Aber wenn ihr jetzt allein sein wollt, kann ich auch später wiederkommen«, sagte sie an die Tochter gewandt.
»Das ist nicht nötig. Bitte fragen Sie.«
»Dein Vater trug eine Kette. Eine Goldkette?«
»Nein. Bei meinem Vater liegen die Organe seltenverkehrt. Deswegen trägt er immer eine ganz normale Metallkette mit einer Plakette daran. Damit die Ärzte, wenn er einen Unfall hat, sofort Bescheid wissen.«
»Er hatte, als wir ihn fanden, ein Käsebrot bei sich. Und kleingeschnittenen Kohlrabi. Hat deine Mutter ihm das hergerichtet? Und wann war das?«
»Ja, das war unsere Mama. Sie hat ihm immer, wenn er von hier aus zur Arbeit gefahren ist, ein belegtes Brot und Gemüse mitgegeben. Das Brot und der Kohlrabi waren von gestern früh.«
»Ist es manchmal vorgekommen, dass dein Vater über Nacht ausblieb?«
»Nicht nur manchmal, mein Papa war meistens die ganze Woche weg. Von Montag in der Früh bis Freitagabend, da kam er dann wieder zurück. Mein Papa ist doch Lastkraftwagenfahrer.« Man konnte hören, wie stolz die Tochter auf ihren Vater und dessen Beruf war.
»Darum habt ihr auch keinen Verdacht geschöpft, als er gestern Nacht ausblieb? Die Antwort hätte ich jetzt gerne von deiner Mutter.«
»Was ist Verdacht geschöpft?«
»Einen Verdacht haben, etwas Auffälliges bemerken.«
Nach Solins Übersetzungsdiensten redete Ghofram Shengali zum ersten Mal laut und erregt.
»Doch, sagt sie, ihr ist schon was aufgefallen. Sie hat Verdacht geschöpft. Etwas war anders als sonst. Unser Papa ruft uns nämlich abends immer um halb neun an, mit dem Handy. Er sagt uns dann, es geht ihm gut, wir sollen an ihn denken und dass er auch viel an uns denkt. Aber gestern Abend hat er nicht angerufen. Und Mama konnte ihn nicht erreichen. Sie hat sich dann gedacht, er hat den Anruf um halb neun vergessen. Später ist er ihm bestimmt wieder eingefallen, aber da wollte er uns halt nicht mehr stören. Weil wir doch eigentlich alle um neun Uhr im Bett liegen sollen. Aber als heute in der Früh unser Papa noch immer nicht angerufen hatte, hat sich meine Mutter schon Sorgen gemacht.«
Klaus hatte nichts von einem Handy, das man bei dem Toten gefunden hatte, erwähnt. Sie durfte nicht vergessen, ihn danach zu fragen, wenn sie wieder im Präsidium war. »Bei welcher Spedition hat dein Vater gearbeitet?«
»Bei Frey-Trans, beim Herrn Frey. Am Hafen.«
»Wie ist er da hingekommen? Hatte er ein Auto?«
»Nein, noch nicht. Aber er hat darauf gespart. Noch in diesem Jahr, hat er gesagt, können wir uns ein Auto leisten. Er wollte ein deutsches Auto, einen Opel. Bis dahin musste er noch mit der U-Bahn in die Frankenstraße fahren, dann in den Bus umsteigen und ab der Hafenstraße zu Fuß gehen. Manchmal hat ihn auch ein Freund mitgenommen.«
»Ein Freund?«
»Ja, ein Kollege, der schon ein Auto hat. Aber nicht oft.«
»Wie heißt dieser Freund?«
»Chanim Ostapenko.« Ghofram Shengali blickte auf, diesen Namen kannte sie. Paula Steiner machte sich die erste Notiz.
»Das ist ein Arbeitskollege deines Vaters?«
»Ja. Und ein Freund. Beides.«
»Auch aus dem Irak?«
»Nein. Aus Kasachstan.«
»Bei deinem Vater hat man einen Geldbeutel gefunden, hundertzwanzig Euro waren drin. Ist das normal, dass er mit so wenig Geld ins Ausland gefahren ist?«
»Ja, sagt Mama. Das war eigentlich schon viel Geld. Denn das meiste, was er für seine Fahrten brauchte, konnte er mit so einer Karte zahlen.«
Paula Steiner nickte ihrer Kollegin kurz zu und stand auf. »Das ist alles im Moment«, sagte sie und streckte Frau Shengali die Hand hin. Als sie bereits an der Wohnzimmertür angelangt war, drehte sie sich nochmals um. Sie wollte mit dieser Frau, die wie in einer Gefängniszelle, in einer unverständlichen Welt mit einer fremden Sprache, fremden Sitten, fremder Kleidung, fremden Menschen lebte, wenigstens zum Abschied in eine direkte Verbindung treten. Also sagte sie laut und deutlich: »Danke schön.«
Solin begleitete sie zur Wohnungstür. Ihr Blick hatte jetzt etwas Hilfesuchendes, fast Flehendes. »Wer hat das getan? Wer hat meinen Papa umgebracht?«
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Paula Steiner, »aber wir werden denjenigen finden.«
Vor dem Haus atmete sie tief durch und blickte gedankenverloren auf den Aufseßplatz.
»Das hatte ich mir schlimmer vorgestellt«, sagte Eva Brunner, während sie den korrekten Sitz ihrer Mütze überprüfte. »Von denen hat ja keiner geweint.« Es klang fast empört.
»Das kommt schon noch. Bald kommt das. Bis jetzt haben wir ihnen ja keine Chance gelassen, es zu verstehen. Zuletzt werden es die Kinder begreifen.«
Auf dem Weg zum Auto fragte sie: »Und sonst, was ist Ihnen sonst aufgefallen, Frau Brunner?«
»Dass die Tochter sauteure Markenklamotten trug, während sich ihr Vater einen popeligen Opel vom Mund abspart.«
»Ja. Noch was, was Ihrer Meinung nach aus dem Rahmen fällt?«
»Die Mutter trägt Kopftuch, langärmlige Kleider und gedeckte Farben, die Tochter dagegen ist aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr, fast schon ordinär. Das passt doch nicht zusammen!«
»Warum nicht? Dass die Mutter sich wie eine gläubige Muslimin kleidet, also was wir darunter so verstehen, ist ihre Entscheidung. Dass die Tochter sich so ganz anders, sehr westlich, kleidet, ist die Entscheidung ihres Vaters gewesen. Die kann jetzt nach seinem Tod schnell und grundlegend revidiert werden. Wenn nämlich der neue Familienvorstand, der neue Mann an der Spitze der Shengalis, der Meinung ist, das gehört sich nicht, hat sich’s für Solin ausgebrezelt. Er allein wird darüber befinden. Dem haben sich beide, Solin genau wie ihre Mutter, zu fügen.«
Als sie die Fahrertür öffnete, zitierte sie Mahmud Khavari, einen Bekannten ihres Freundes Gerhard Hohenstein, der in dessen Wirtshaus manchmal bediente und ihr gegenüber stets die Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit in Person war. »Frauen sollen sich bedecken wie die Raben. Andernfalls erwarten sie im Jenseits strenge Strafen.« Ob ihm damit ernst oder ob das ironisch gemeint war, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, so gut kannte sie ihn nicht. Aber es hatte sie seltsam berührt, wie ein leiser Vorwurf an alle Frauen, sie eingeschlossen, als er ihr das an den Kopf warf. Eine junge hübsche Frau in Hotpants und High Heels war der Auslöser gewesen.
»Wer sagt das?«
»Das steht im Koran.«
»Nach dem Islam darf eine Frau in Gegenwart eines fremden Mannes nicht einmal den Schleier abnehmen«, ergänzte Eva Brunner. Ihrem Ton war deutlich anzumerken, wie wenig sie das billigte. »Und genauso wenig hätte Ihnen Frau Shengali die Hand geben dürfen, wenn Sie jetzt ein Mann gewesen wären. Wenn Frau Shengali eine hundertprozentige Muslimin ist. Was sie offenbar ist.«
»Ja? Das wusste ich nicht.«
Es stimmt schon, dachte sie, was die Politiker sagen, die Integration funktioniert, wenn überhaupt, über die Kinder. Über Kinder wie Solin. Vielleicht hat das Mädchen Glück und bekommt einen männlichen Ersatz für ihren Vater, der seiner würdig ist. Und wenn nicht, dann hat die aufgebrezelte, mürrische, pubertierende Solin hoffentlich genügend Renitenz und Aufsässigkeit im Leib, um ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre Vorstellungen durchzusetzen. Die nach dieser wilden Phase der Auflehnung etwas dezenter ausfallen dürften. Das wäre eine ästhetische Wohltat für die Umwelt der Solin Shengali. Sie wandte sich ihrer Kollegin zu.
»Was halten Sie davon, wenn wir uns Shengalis Arbeitgeber anschauen?«
Statt einer Antwort ließ sich Eva Brunner die Adresse der Spedition über Funk mitteilen. Frey-Trans hatte seinen Sitz in der Donaustraße, im Süden Nürnbergs, direkt am Main-Donau-Kanal.
Das von Südwesttangente und Frankenschnellweg eingeschlossene Stadtviertel Maiach zählte für Paula Steiner zu den hässlichsten Gegenden Nürnbergs. Schon der Weg dahin war eine triste Angelegenheit. Sie fuhren die Katzwanger Straße stadtauswärts, Getränkeläden, Billig-Discounter und schmucklose, schäbige Siedlungshäuser bestimmten das Bild. Es roch nach Provinz, nach Vorstadt. Erst in der Hafenstraße, nach einem dürftig bewaldeten Niemandsland, verlor sich das Unansehnlich-Banale dieser Monotonie und bekam einen frischen Beigeschmack von Weite und Welt, was vom Kanal herrührte.
Sie parkte vor einem eingezäunten Grundstück, auf dem ein rostiger Wohnwagen seinen letzten Tagen entgegendämmerte.
»Die Spedition ist aber weiter hinten.«
»Ich weiß. Doch so können wir uns noch ein wenig die Füße vertreten. Außerdem möchte ich vorher noch eine Zigarette rauchen.«
Als sie vor dem Haupteingang der Spedition angekommen waren, blieb Paula Steiner stehen. Das Schiebetor stand weit offen, auf dem Hof war niemand zu sehen. Sie blickte sich um, wollte sich ein Bild machen von dem Arbeitsplatz des Abdulaziz Shengali. Da kam ihnen ein älterer Mann – gut über die sechzig, weißer Haarkranz, graue Strickjacke, ausgebeulte braune Stoffhose – entgegengeeilt.
»Na endlich, ich warte schon seit drei Stunden auf Sie.«
»Auf uns?«
»Sie sind doch vom Jakobsplatz«, sie nickte, »von der Fahndungsstelle?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind von der Mordkommission.«
»Aber ich habe doch … Mordkommission, sagen Sie?«
»Ja, Paula Steiner und Eva Brunner von der Mordkommission. Sie sind der Inhaber von Frey-Trans?«
Er nickte. »Ja, Siegfried Frey. Einer von zwei Inhabern. Ich habe die Firma gegründet, führe sie aber seit ein paar Jahren zusammen mit meinem Sohn Joachim.«
»Haben Sie ein Büro, wo wir uns setzen können?«
Frey führte sie um das schlichte, mit Wellblech verkleidete Gebäude auf die rückwärtige Seite. Hier konnte man auf den Kanal und seine Frachtschiffe sehen.
Freys Büro war vollgepackt mit schweren klobigen Nussbaummöbeln, die in seltsamem Kontrast zu den hellgrauen Wänden und Aluminiumfenstern standen. Schreibtisch, Regale, Besucherstühle, alles aus diesem schwarzbraunen Holz, ein typisches Chefzimmer der sechziger, siebziger Jahre. Sicher eine Reminiszenz an die Gründerzeit von Frey-Trans, als Siegfried Frey hier noch allein das Sagen hatte. Sie setzte sich auf einen der mit Leder gepolsterten Sessel und war überrascht, wie angenehm, ja gar behaglich es sich auf diesem hässlichen Trumm sitzen ließ.
»Warum haben Sie die Polizei angerufen, Herr Frey?«
»Einer unserer Fahrer hätte sich schon dreimal bei uns melden sollen, gestern zweimal, heute einmal. Das ist so Vorschrift bei uns. Hat er aber nicht. Und wir können ihn umgekehrt auch nicht erreichen. Der Lkw hat kein Transport-Infosystem, also kein integriertes Ortungssystem wie die meisten unserer Wagen. Mit dem Laster ist was passiert. Ich mache mir Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen.«
»Der Fahrer heißt Shengali, Abdulaziz Shengali?«
»Ja. Woher wissen Sie das, wenn Sie doch von der Mordkommission …«
»Shengali ist heute Morgen ermordet aufgefunden worden. Deswegen sind Frau Brunner und ich hier.«
»Abdu ermordet?« Frey starrte sie ungläubig an. »Wirklich, unser Abdu?« Sie nickte. »Das ist ja entsetzlich. Furchtbar. Aber warum denn? Wer tut denn so was?«
»Warum und wer, das wissen wir nicht. Noch nicht. Wann ist Shengali gestern weggefahren? Ich nehme an, er ist von hier aus, von der Spedition, gestartet. Oder?«
»Ja, er war hier, hat den Lkw geholt und ist noch vor sieben Uhr weg.«
»Ach, Sie haben ihn gesehen?«
»Nein, ich nicht. Das ist der Vorteil als Seniorchef, dass man länger schlafen kann. Bis vor fünf Jahren war ich in der Früh der Erste, der da war, und abends der Letzte, der ging. Diesen Part hat jetzt mein Sohn. Joachim hat Abdu gesehen, wie er den Hof verließ.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch nicht, was er geladen hatte?«
»Natürlich weiß ich das. Ich verbringe zwar nicht mehr den ganzen Tag in meiner Firma, aber immer noch lang genug, um den Überblick nicht zu verlieren. Ich habe mein Geschäft noch voll im Griff, das können Sie mir glauben. Ich gehöre nicht zum alten Eisen.«
Sie hatte ihn mit ihrer Frage in seinem Stolz verletzt, das war wohl die empfindliche Seite des Seniorchefs.
»Aber um Ihre Frage zu beantworten: Abdu hatte Zigaretten und Parfüm geladen. Er hatte schon seit Monaten die Albanientour. Wo hat man Herrn Shengali denn gefunden? In Deutschland oder schon im Ausland?«
»In Deutschland. Ganz in der Nähe. Vor dem Wasserwerk in Erlenstegen.«
»Erlenstegen? Warum Erlenstegen? Das liegt doch gar nicht auf seiner Route.« Frey hielt inne; man sah ihm an, dass ihm das, was er nun sagen wollte, schwerfiel. »Halten Sie mich bitte nicht für pietätlos, wenn ich das jetzt frage, aber das war ja unter anderem der eigentliche Grund, mich an die Polizei zu wenden. Dann haben Sie den Laster auch gefunden, vor dem Wasserwerk in Erlenstegen?«
»Nein, Herr Frey. Bis jetzt nicht. Aber Sie haben die Fahndungsstelle ja schon informiert, mehr können Sie im Moment nicht machen. War das eine wertvolle Fracht, die Shengali hatte?«
»Was heißt wertvoll? Für uns nicht. Für uns war das Durchschnitt. Eben Parfüm und Zigaretten. Circa dreihundertfünfzigtausend Euro, jede unserer Albanienfuhren hat ungefähr diesen Frachtwert. Plus/minus zehn Prozent. Wenn Sie den genauen Betrag brauchen, rufe ich im Büro an und lass ihn mir sagen.«
»Ja, bitte.«
Während Siegfried Frey das Telefonat führte, stand Paula Steiner auf und betrachtete das einzige gerahmte Bild, das diesen Raum schmücken sollte, aus der Nähe. Es hing hinter Freys Schreibtisch. Ein Schwarz-Weiß-Foto aus den späten vierziger Jahren von zwei Mercedes-Lastwagen, dazwischen zwei ernste schmale Männer in Arbeitskleidung – einer davon mit Cordhut –, die sich gegenseitig die Arme um die Schultern legten, auf der Fahrertür der Schriftzug »Gebrüder Frey. Nürnberg«.
»Wie ich vermutet hatte, es waren knapp dreihundertfünfzigtausend Euro Frachtwert, auf den Cent genau 347.400,50 Euro.«
Er drehte sich nach ihr um. »Ah, da sind Sie. So hat es bei uns angefangen, 1948. Mein Vater und mein Onkel haben das Unternehmen gegründet. Die haben das nach dem Krieg quasi aus dem Nichts aufgebaut. Mein Onkel hatte keine Kinder, so habe ich die Firma bekommen, 1978 war das. Und wieder dreißig Jahre später, nämlich 2008, hat sie mein Sohn Joachim übernommen.« Er musste über diese Laune des Zufalls lächeln. »2038 wird dessen Sohn Frey-Trans bekommen. Das ist beschlossene Sache. Sie sehen, pünktlich alle dreißig Jahre geben wir die Firma an die nächste Generation weiter.«
Sie setzte sich wieder. »Dann ist also schon ein Nachfolger da?«
Augenblicklich erstarb das Lächeln. »Nein. Eben nicht. Noch nicht einmal eine Frau ist da, ich meine: eine Ehefrau. Joachim lässt sich auf diesem Gebiet viel Zeit. Bei allem anderen pressiert es ihm, nur da nicht. Leider.«
»Wie war denn Herr Shengali so?«
»Als Mensch oder als Fahrer?«
»Als Mensch und als Fahrer.«
»Abdu ist immer freundlich, höflich. Entgegenkommend und zuverlässig. Beziehungsweise, er ist es gewesen. Ein richtiger Pfundskerl. Ich mag es gar nicht glauben …« Plötzlich hellte sich Freys Miene hoffnungsvoll auf. »Woher wissen Sie überhaupt, dass der tote Mann unser Abdu ist? Den Lkw haben Sie ja auch nicht. Da könnte es doch gut möglich sein, dass es sich um eine Verwechslung handelt?«
»Nein, das ist ausgeschlossen. Er trug seine Papiere bei sich. Und demnach ist er es. Eindeutig.«
»Ach so. Schade. Wirklich schade. Ja, auch als Fahrer hat man sich auf ihn hundertprozentig verlassen können. Wissen Sie, wir haben nur erstklassige Mitarbeiter. Anders geht es nicht als kleiner Mittelständler in einem Gewerbe, in dem der absolute Konkurrenzkampf tobt. Ich kann mir Mittelmaß einfach nicht leisten. Am wenigsten beim Personal. Also haben wir nur sehr gute Fahrer. Und von denen war Abdu der beste. Da gab es nie irgendein Geschiss wegen Lenkzeitenüberschreitung, zu vielen Punkten oder Beschwerden von unseren Kunden. Nie.«
»Wie viel hat er bei Ihnen verdient?«
»Gut neunzehnhundert, das ist der Tariflohn für einen Berufskraftfahrer, plus Spesen für Übernachtung und Verpflegung. Macht noch mal vierundzwanzig Euro steuerfrei pro Tag.«
Sie klappte ihren Notizblock auf. »Chanim Ostapenko fährt auch für Sie?« Er nickte. »Shengalis Tochter sagte, Ostapenko ist ein Freund ihres Vaters gewesen. Würden Sie das auch so sehen?«
»Ja. Unsere Fahrer verstehen sich alle untereinander. Aber zwischen Chanim und Abdu ist oder jetzt, ja nun: war das Verhältnis schon ein besonderes, das über das rein Kollegiale weit hinausging. Ich würde das auch so ausdrücken: Die beiden waren gute Freunde. Das mag daran liegen, dass die zwei die einzigen Ausländer unter unseren Mitarbeitern sind.«
»Jetzt würden wir gern noch Ihren Sohn sprechen. Nur ganz kurz.«
»Das geht leider nicht. Joachim ist unterwegs. Manchmal springt er bei dem Express-Service hier in der Region ein, so wie heute. Er muss aber jeden Augenblick zurückkommen. Wenn Sie warten wollen? Lange kann es nicht mehr dauern.«
»Nein. Ich werde später mit ihm reden. Dann danke ich Ihnen also, Herr Frey, für die Zeit, die Sie sich für uns genommen haben. Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Laster bald wieder auftaucht. Wenn Sie schon Ihren besten Fahrer verloren haben.«
»Ach, umgekehrt wäre es mir lieber. Es gibt zwar eine Menge Lauferei und Papierkram, aber gegen Diebstahl sind wir versichert.«
Als sie den Hof verlassen hatten, fragte sie Eva Brunner: »Was ist bei Ihnen von dieser Vernehmung hängen geblieben? Und – was würden Sie an meiner Stelle jetzt machen?«
»Erstens ist mir aufgefallen, wie begeistert der Frey von Shengali gesprochen hat. Der muss ihn richtig gern gemocht haben. Seinen Sohn hat er nicht so gelobt wie seinen Fahrer. Oder ist das jetzt vorschnell gedacht?«
»Nein. Den Eindruck hatte ich auch. Und zweitens?«
»Die Freundschaft zwischen den beiden Männern, zwischen Shengali und Ostapenko. Ich würde auf jeden Fall mit Ostapenko sprechen.«
»Richtig, das werde ich. Beziehungsweise das werden wir, wenn Sie dann noch Lust und Zeit haben, in unserer Mini-Kommission mitzuarbeiten. Noch was?«
Die Anwärterin dachte einen Moment nach. »Ja, ich bin mir aber nicht sicher. Ich finde es komisch, dass der Juniorchef heute, an einem solchen Tag, unterwegs ist. Warum kümmert er sich nicht selber um den Laster und überlässt das seinem Vater? Er ist doch jetzt der Chef. Seltsam ist das auch deswegen, weil es nur eine regionale, also eine kleine Tour zu sein scheint. Die hätte man sicher ohne große Verluste canceln können, meine ich.«
»Das weiß ich nicht, ob solche Fahrten bei einem mittelständischen Transportunternehmen so ohne Weiteres zu streichen sind. Das finde ich nicht seltsam. Und vielleicht teilen sich die Freys ja untereinander die Arbeit auf, und so etwas wie die Suche nach einem verschwundenen Lkw fällt in das Ressort von Herrn Frey senior. Manchmal ist eine strikte Arbeitsteilung ganz hilfreich, gerade unter Familienangehörigen, um Streit zu vermeiden. Noch etwas, Frau Brunner?«
»Im Moment eigentlich nicht.«
»Wir, und nicht länger die Fahndungsstelle, müssen uns jetzt auch um Shengalis Laster kümmern. Die Suche danach läuft ab sofort über unsere Kommission. Ich habe das dem Frey gegenüber erst mal nicht gesagt. Denn für uns ist die Suche nach dem Lkw zweitrangig, für ihn sicher nicht.«
Eva Brunner schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Ja, natürlich. Den hab ich ja ganz vergessen. Die Mörder haben den Laster geklaut, einschließlich der Zigaretten und des Parfüms. So was kriegt man an jeder Straßenecke leicht los. Im Gegensatz zu Herrn Frey finde ich nämlich dreihundertfünfzigtausend Euro sehr viel Geld. Da sind andere schon für wesentlich weniger umgebracht worden. Genau, das war Raubmord.«
»Das weiß ich nicht. Kann sein, glaube ich aber eher nicht. Dagegen spricht, dass Shengalis Geldbeutel samt komplettem Inhalt noch an Ort und Stelle war, in der Innentasche seines Sakkos. Gegen Raubmord spricht auch, wie man den Leichnam dort hingelegt hat. Haben Sie ihn sich überhaupt angesehen?« Eva Brunner nickte. »Auch die Hände?«
»Ja, ich hab mich schon gewundert, wie …«
»Shengali lag doch da wie hindrapiert, wie …«, Paula suchte nach einem passenden Vergleich, »… auf einer Bahre oder in einem Sarg. Wie zur letzten Ruhe gebettet. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben. Diese Mühe machen sich Raubmörder in der Regel nicht.«
Eine halbe Stunde später hatten sie den Hof des Präsidiums erreicht und stiegen nun die Treppe in den ersten Stock hoch. Bevor sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, blieb sie gedankenverloren stehen. »Ein toter Moslem mit einem christlichen Symbol. Das war eine Botschaft. Aber an wen und warum?«
Rhetorische Fragen, die in diesem Moment keinen Sinn ergaben außer dem, einen ersten Hinweis auf ein Tatmotiv aus einer Gedankenkette herauszuschälen und vorerst daran festzuhalten. Bis andere Hinweise diese Gedankenkette als falsch erweisen würden.
»Als Abschreckung. Oder als Drohung an andere aus Shengalis Umfeld. Vielleicht wollte der Mörder damit sagen: Wenn ihr macht, was Shengali getan hat, ergeht es euch genauso.« Die Kommissaranwärterin sah die Kommissarin erwartungsvoll an.
»Das ist gut möglich, sehr gut möglich sogar. Trotzdem brauchen wir den Laster. Sobald er auftaucht, muss die Spurensicherung ihn auseinandernehmen.«
»Sie glauben, Shengali wurde im Wagen, im Führerhaus ermordet?«
»Nein. Die Tatwaffe war, sagt Dr. Müdsam, eine längere Eisenstange. Um damit jemandem den Schädel zu spalten, so wie es bei dem Toten der Fall ist, muss man ausholen. Das geht in diesen engen Kabinen schlecht. Trotzdem brauchen wir den Lkw. Und wenn er nur dafür gut ist, um genau das auszuschließen.«
Sie betrat das Büro, das ihr wie immer, wenn sie auf Heinrich verzichten musste, abweisend und unbehaglich vorkam. Als sie die beiden Fensterflügel weit öffnete, entlud sich hinter ihr ein Schwall der Begeisterung.
»Also, ich finde das alles wahnsinnig interessant. So spannend. Mittendrin in einem Mordfall sein. Dem Mörder sozusagen auf der Spur. Das ist das Tollste, was ich bisher im Präsidium erlebt habe. Richtig aufregend, einfach geil. Finden Sie nicht auch?«
Nein, das fand sie nicht. Aber sie schwieg.
»Frau Brunner, Sie sind doch derzeit bei der Zentralen Auswertung. Wenn Sie den Ostapenko mal gründlich durchchecken würden, wäre mir sehr geholfen. Ach, und noch eins: Bleiben Sie an dem verschwundenen Laster dran. Die Spedition kriegt den erst dann zurück, wenn unsere Kriminaltechniker mit ihm fertig sind. Auch wenn die Freys jammern von wegen Verdienstausfall und so. Das geht eben im Moment nicht anders. Bleiben Sie hart.«
»Jawohl, das mache ich. Sie können sich auf mich verlassen, Frau Steiner. Hundertprozentig. Ich bin ja so froh, dass ich bei Ihnen, in Ihrem Sachbereich bin. Und nicht in dem vom Trommen. Der Herr Bartels soll sich mal richtig auskurieren. Oft ist es gar nicht gut, wenn man vorschnell das Krankenhaus verlässt, bloß weil man meint, man ist unersetzlich. Da kann sich leicht was festsetzen, was man dann zeit seines Lebens nicht mehr loswird. Aber jetzt mache ich mich sofort an die Arbeit. Und wenn Sie mich hier brauchen, ein Anruf genügt, ich komme sofort.«
Sie sah voller Staunen auf die junge rotblonde Frau, die da stramm, wie beim Morgenappell, vor ihr stand, die Mütze wieder unter den linken Oberarm geklemmt, die Wangen leicht gerötet. Erst die Euphorie, nun dieser einzigartige Diensteifer. Und das alles galt nicht nur der Arbeit in ihrer Kommission, sondern auch ihr, der Person Paula Steiner, derentwegen sich andere lieber ins Krankenhaus zurückzogen. Im Augenblick tat ihrer gekränkten Seele Eva Brunners Überschwang sehr gut. Sie erwischte sich gerade noch rechtzeitig dabei, wie dieser überbordende Elan dabei war, auch sie mitzureißen.
»Prima. Danke. Dann müssen wir noch wissen: Wann genau ist Shengali von der Spedition weggefahren, das werden wir von dem Junior erfahren, wann war die Tatzeit, wo, an welcher Raststätte beispielsweise, kann er sich da aufgehalten haben? Darum werde ich mich kümmern. Aber vorher muss ich Fleischmann noch Bericht erstatten.«
Eva Brunner verließ den Raum, aber erst nachdem sie ihre Mütze abgelegt, Heinrichs diverse Aktenstapel zu einem einzigen zusammengeklopft, diesen an den äußersten Rand seines Schreibtischs geschoben und dann ihren Ordner mitten auf dem Tisch platziert hatte. Auch darin erkannte die Kommissarin eine Botschaft. Und sie gefiel ihr.
Einem ersten Impuls folgend, wollte sie umgehend zu ihrem Vorgesetzten marschieren, um ihn persönlich über den Ermittlungsstand zu informieren. Doch dazu hätte sie durch das Vorzimmer der Reußinger gehen müssen. Und nach der vor noch gar nicht so langer Zeit geplanten Nettigkeit an deren Adresse stand ihr derzeit nicht der Sinn. Jetzt, nachdem ihr Eva Brunner den Rücken so nachhaltig gestärkt hatte, erschien ihr eine solche wohlwollende Geste nur mehr als Einknicken vor der Gegnerin. Als Schnapsidee, aus der Not des Allein- und Abgewiesenseins geboren. Als überflüssig und geradezu fatal für ihr künftiges Verhältnis zur Reußinger. Sie schaltete ihren Computer an.
Sie wusste, welche Art Bericht Fleischmann schätzte. Knapp sollte er sein und doch detailreich. Faktenbezogen am Anfang, trotzdem war ihm das »Rumspintisieren bei der Spurenanalyse«, wie er es einmal genannt hatte, wichtig. Derlei Ausflüge in die irrationale Vorstellungswelt waren bislang in Heinrichs Ressort gefallen. Doch heute hatte auch sie einige Spintisierereien anzubieten.
Da waren zum einen Shengalis Frau und seine Tochter, ein sehr »heterogener innerfamiliärer Hintergrund«, der wohl für die sicher zahlreichen strenggläubigen Moslems in Shengalis naher und entfernter Verwandtschaft schwer zu akzeptieren gewesen sein dürfte. Aber vor allem war da die Botschaft in Form der zum Gebet arrangierten Hände. Insofern sei von der Theorie eines puren Raubmords vorerst abzusehen, schrieb sie, auch wenn diese Möglichkeit weiterhin in Betracht gezogen würde; darum kümmere sich vorrangig, selbstredend unter ihrer Aufsicht, Frau Brunner, die im Übrigen recht anstellig sei und ihr bereits einiges an Routinearbeit abgenommen habe.
Sie schloss den Bericht mit der Hoffnung, die kluge und engagierte Anwärterin auch weiterhin in ihrer Kommission ausbilden zu dürfen. Sie sei davon überzeugt, dass die Praktikantin Brunner damit die Chance habe, die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit beispielhaft kennenzulernen, da sie von Anfang an – sozusagen mit der Einbestellung der internen Kräfte durch den KDD an den Fundort – in diese involviert sei. In anderen Kommissionen des KU würde der Fokus innerhalb der Praktikantenanleitung ja eher auf der segmentierten, dem ganzheitlichen Prinzip widersprechenden Aufgabenbearbeitung liegen. Während sie, Paula Steiner, sich als Polizeihauptsachbearbeiterin auch aufgrund ihrer Kommissionsgröße noch intensiv-begleitend der durchlaufenden Praktikanten annehmen könne. Sie las sich den letzten Absatz nochmals aufmerksam durch und erschrak über ihr geschraubtes, aufgeblähtes Deutsch. Strich das »involviert« und den »Fokus«, ersetzte es durch »eingeschlossen« und »Hauptaugenmerk« und schickte die Mail ab.
Dann wählte sie die Nummer der Gerichtsmedizin und verlangte Dr. Frieder Müdsam. Als Erstes erkundigte sich Müdsam nach Heinrichs Befinden. Sie antwortete ausweichend, sie als Nicht-Medizinerin könne das nicht richtig einschätzen. Seine zweite Frage konnte sie offener beantworten.
»Ja, natürlich, jeden Tag besuche ich ihn.«
»Dann ruht dieser Fall ja jetzt allein auf deinen Schultern.«
»Nicht ganz. Man hat mir eine Anwärterin zugeteilt, die wirklich zu gebrauchen ist.«
»Trotzdem, ich wundere mich jedes Mal, mit wie wenig Personal du auskommst beziehungsweise auskommen musst. Wenn ich da an den Trommen denke, sechs Leute hat der – und eigentlich auch keine speziellen, diffizileren Fälle als du.«
»Ach, Frieder, mir ist das recht. Ich wüsste gar nicht, wie ich sechs Leute sinnvoll einsetzen soll.«
»Das weiß der Trommen auch nicht, glaube mir. In seinem Sachbereich ist viel Leerlauf. Aber er kann eben etwas, was du nicht kannst.«
»Und das wäre?«
»Besitzstandswahrung. Darin ist er wirklich ein Meister. Genau wie in der Außendarstellung.«
Sie wunderte sich über den sonst so zurückhaltenden, friedlichen Gerichtsmediziner, der seinem Vornamen bisher alle Ehre gemacht hatte. Das war eigentlich gar nicht seine Art, über Kollegen herzuziehen.
»Das stimmt schon, da hast du recht. Du hast wohl in jüngster Zeit mit ihm zu tun gehabt?«
»Ha«, stieß Müdsam bitter aus, »schon seit Monaten nicht! Seine Majestät schickt ausschließlich die Adjutanten zu uns. Und wehe uns, wenn wir dann nicht alles stehen und liegen lassen und euren Trommen vorrangig bedienen. Dann gibt es aber sofort eine Dienstaufsichtsbeschwerde.«
»Das glaube ich nicht. Trommen ist zwar ein Arschloch, und was für eins, aber kein Denunziant.«
Sie hörte Papierrascheln. »… hat es Dr. Müdsam wieder einmal an der gebotenen Eile mangeln lassen, sodass wir uns leider gezwungen sehen … blabla blabla … zumal die Zusammenarbeit mit dem Gerichtsmedizinischen Institut Nürnberg schon seit Längerem von unserer Seite als höchst unzufriedenstellend bezeichnet … das können wir uns nicht leisten, zumal in den Augen der Öffentlichkeit … werden wir also unsere Fälle künftig nach Erlangen zum dortigen universitären Gerichtsmedizinischen Institut … und dies auch den Kollegen/innen des K11 anempfehlen. Na, glaubst du es jetzt?«
Sie war sprachlos. Demnach hatte sie Trommen bislang unterschätzt. Sie hatte in ihm nur einen eitlen Wichtigtuer gesehen, dabei war er ein gefährlicher eitler Wichtigtuer.
»Da staunst du, Paula, gell?«
»Ja. Dabei waren es Trommen und seine unfähige Gurkentruppe«, redete sie sich in Rage, »denen ich es zu verdanken habe, dass Heinrich im Krankenhaus liegt und ich nun ohne ihn auskommen muss. Sechs Leute plus zehn von der Schutzpolizei sind doch, sollte man meinen, genug, um eine 08/15-Razzia zu stemmen. Nicht aber für unseren Herrn Trommen. Er hat Heinrich und mich zusätzlich angefordert, und Fleischmann hat ihm diesen Antrag auch noch bewilligt. Was dabei herausgekommen ist, weißt du ja.«
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Keine Sorge, Frieder. Der Trommen hat bei mir sowieso noch eine größere Rechnung offen. Das mit der Dienstaufsichtsbeschwerde kommt gleich mit drauf. Irgendwann wird er für alles zahlen. Ich muss nur eine passende Gelegenheit abwarten.«
Müdsam lachte. »Das mag ich unter anderem so an dir: deinen Witz und deinen Kampfgeist. Du gibst nicht klein bei. Du lässt solche Nebensächlichkeiten, und darum handelt es sich ja im Prinzip, nicht an dich rankommen. Mich zieht so was runter, raubt mir viel Freude an der Arbeit.«
»Das wäre bei mir auch der Fall, glaub mir, Frieder, wenn ich davon betroffen wäre.«
Sie dachte über ihre schnelle Replik nach. Ja, doch, die hatte durchaus ihre Richtigkeit. Falls sie von solcher Art Ränkespiel und Heimtücke betroffen wäre, wäre sie sicher viel weniger ausgeglichen und zufrieden, im Beruf wie privat. Frieder über- oder unterschätzte sie, je nachdem. Sie war von einem grundlegenden Wohlwollen ihrer Person gegenüber außerordentlich abhängig. Sie überspielte das zwar mehr oder weniger glaubhaft, wenn es daran mangelte. Aber es verletzte sie jedes Mal aufs Neue.
Schließlich sagte er ihr, wie immer exakt und auch für Halblaien wie sie aufschlussreich, was er herausgefunden hatte. Gegen acht Uhr hatte Shengali den tödlichen Schlag erhalten, mit einer Eisenstange, vier bis fünf Zentimeter Durchmesser, an der noch Spuren von Flugrost hafteten. Exitus circa zehn Uhr dreißig. »Er ist langsam und qualvoll verblutet.«
»Kampfspuren?«
»Keine. Geht auch nicht, wenn dir jemand von vorne mit einer Metallstange eins überzieht, bist du fertig. Aber wir haben auf der Rückseite seines Jacketts Sand und minimale Reste eines Lederreinigungsmittels gefunden.«
»Wie geht das deiner Meinung nach zusammen?«
»Ich vermute, aber es ist lediglich eine Möglichkeit, er ist nach dem Schlag auf sandigen Boden gefallen, irgendwann später auf ein Ledermöbel oder auf ein Kleidungsstück aus Leder gelegt worden, das mit diesem Reiniger behaftet war. Und auf diesem Möbel- oder Kleidungsstück ist er dann auch gestorben, also verblutet.«
»Und dann gibt es noch den Besuchereingang zum Wasserwerk, wo ihn der Hundebesitzer gefunden hat. Also summa summarum die drei letzten Stationen des Abdulaziz Shengali. Tatort, Sterbeort, Fundort.«
»Ja. Noch eins: Der Tote hatte einen Situs inversus. Eine Organanomalie. Bei ihm lagen Leber und Milz seltenverkehrt. Das wäre auch eine Erklärung für die Rissspuren im Nackenbereich. Menschen mit einer solchen Anomalie tragen in der Regel stets eine Marke am Körper, meist um den Hals an einer Kette. Das kann im Fall eines Unfalls wichtig werden für die medizinische Erstversorgung. Der Täter hatte von dieser Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach Kenntnis. Darum hat er Shengali die Kette abgerissen. Um hundertprozentig auszuschließen, dass dem Opfer geholfen werden kann, wenn der Schlag doch nicht tödlich gewesen sein sollte. Wenn es so ist, wie ich vermute, sagt uns das auch: Der Mörder ist kein Berufskiller. Profis wissen, dass man mit einer derartigen Kopfverletzung keine Chance hat zu überleben.«
Nachdem sie sich von Müdsam verabschiedet und ihm, heute herzlicher als sonst, für seine Informationen gedankt hatte, wählte sie die Nummer der Spedition. Als dort beim dritten Versuch immer noch belegt war, rief sie das Dezernat 2, K20 an. Augenblicklich meldete sich Eva Brunner.
»Über den Laster gibt es nichts Neues, Frau Steiner. Aber über den Ostapenko habe ich Etliches herausgefunden. Interessante Sachen.«
Sie sagte ihr, das würden sie morgen in der Früh innerhalb einer kleinen informellen Dienstbesprechung in aller Ausführlichkeit, ja, so drückte sie sich aus, bereden. Jetzt jedoch gehe sie heim, sie müsse sich noch um eine dringende private Angelegenheit kümmern. Paula Steiner war nämlich in der Zwischenzeit ihr eigenes kleines Ränkespiel eingefallen. Und wie abhängig sie von dessen Gelingen doch war. Von Heinrichs Rückkehr an seinen angestammten Platz an ihrer Seite hing mehr ab als die Freude an ihrer Arbeit – nämlich die Lust am Leben generell.