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Es war halb sechs, als sie die Wohnungstür im Vestnertorgraben aufsperrte. Da sie ohne Schirm zu Fuß heimgegangen war und es noch immer – oder schon wieder? – regnete, hatte sie klitschnasse Haare. Sie holte sich ein frisches Frotteetuch aus dem Bad und trocknete sie im Stehen, während sie auf die Kaiserburg sah. Selbst bei diesem abscheulichen Wetter, unter diesem grau-langweiligen Himmel, der alle architektonischen Sünden ihrer Heimatstadt – wovon es ihrer Meinung nach viel zu viele gab – schonungslos bloßlegte, strahlte die Kaiserstallung Gelassenheit und Würde aus. Diese Zuverlässigkeit des Bauwerks gab ihr ein beruhigendes Gefühl für das, was nun vor ihr lag.

Was, wenn Heinrich ihr auf die Schliche gekommen war? Wenn er erfahren hatte, mit welchem Trick sie die Ärztin gegen ihn aufgehetzt hatte? Enttäuscht wäre er auf jeden Fall von ihr. Vielleicht derart enttäuscht, dass er sich in eine andere Abteilung versetzen lassen würde? Denn dass sie mehr auf ihn angewiesen war als umgekehrt, das stand für sie jetzt außer Frage. Sie setzte sich. Erinnerte sich an die vergangenen Tage ohne Heinrich. Sie hatte nicht wie sonst Freude an ihrer Arbeit oder Lust auf ihr Daheim empfunden. Die Tage waren wie unter Narkose verlaufen, leer, gefühllos, wie gelähmt. War das die Reue über ihr Versagen in diesem schrecklichen Hinterhof oder nur eine depressive Verstimmtheit, wie sie das Alter wohl zwangsläufig mit sich brachte? Egal. Es war auf jeden Fall eine Zeit der schwermütigen Sinnlosigkeit, die sich nicht wiederholen durfte.

Sie zwang sich zum Optimismus. Ihre Zweifel waren sicher grundlos, ihre Verbündete, die Ärztin, hatte auf sie einen energischen, ja kämpferischen Eindruck gemacht. Die würde sie nicht im Stich lassen. Oder? Einer alten Gewohnheit folgend, die sie in schwierigen privaten Situationen zur nächstbesten Weinflasche greifen ließ, zog sie mit Schwung die Kühlschranktür auf. Schenkte den Rest des fränkischen Grauburgunders in ein Wasserglas und leerte es noch im Stehen. Anschließend applaudierte sie sich zu dieser Meisterleistung: Bravo, Frau Steiner, damit ist das Thema Auto auch abgehakt. Nun war sie auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, wollte sie im Krankenhaus nach dem Rechten, das heißt nach Heinrichs Rückkehrabsichten schauen. Und das wollte sie nach wie vor unbedingt.

Eine gute Stunde später stand sie vor dem Theresien-Krankenhaus. Hungrig und hoffungsvoll, der Wein hatte in der Zwischenzeit all ihre Bedenken ausgelöscht. Auf dem Weg zu Heinrichs Zimmer kam ihr Dr. Leipold mit ernster Miene entgegen.

»Leider habe ich nichts ausrichten können. Herr Bartels sträubt sich nach wie vor standhaft dagegen, unser Haus zu verlassen, weil er sich noch immer zu krank fühle. Ich hatte ihm vorgeschlagen, ihn an seinen Hausarzt zur weiteren ambulanten Behandlung zu überweisen. Auch das will er nicht.« Die Ärztin zog bedauernd die Schultern hoch. »Reden Sie doch noch mal mit ihm. Vielleicht hilft es was. Wobei ich da skeptisch bin.«

Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Dann allerdings wäre die Fahrt mit der Straßenbahn ganz und gar vergebens gewesen, nicht zu sprechen von der leidigen Warterei an der Bus- und Bahnstation. Nein, wenn sie schon mal hier war, sollte es sich auch lohnen. Es musste doch einen Grund dafür geben, dass Heinrich ihr die Mitarbeit aufgesagt hatte. Und diesen Grund wollte sie wissen. Sie klopfte an der Tür. Ein doppeltes »Herein!« erklang.

»Guten Abend, die Herren«, sagte sie etwas zu förmlich zu dem ungleichen, satt und zufrieden wirkenden Patientenpaar. Die Essenstabletts standen leer und abholbereit auf den Beistelltischen. »Und wie geht’s dir heute, Heinrich?« Sie gab sich Mühe, offen und freundlich zu wirken.

»Nicht besonders.«

»Hat man denn jetzt was Konkretes bei dir gefunden?«

»Nein.«

»Dann hat die Kernspin-Untersuchung also nichts Neues gebracht?«

Er winkte sie zu sich heran. »Die haben mich gar nicht nach Erlangen gelassen«, sagte er leise. »Die sind der Meinung, mir fehlt nichts. Also nichts Organisches.«

»Das ist doch eine gute Nachricht. Das freut mich wirklich.«

»Aber Paula, das hat doch nichts zu bedeuten, du hast es hier nur mit Schulmedizinern zu tun. Die haben einen unheimlich begrenzten Horizont. Was über die rein körperlichen Symptome hinausgeht, existiert für die nicht.«

Ah, eine neue Strategie. »Was meinst du denn, was du hast?«

»Meiner Meinung nach spricht eigentlich alles für ein Burnout-Syndrom. Und zwar eines von der schlimmen Sorte.«

Fast hätte sie laut hinausgelacht. Heinrich und ausgebrannt? Heinrich, der in manchen Jahren mehr Fehltage zusammenbrachte, als anderen Kollegen an Urlaubstagen zustand? Der abends immer vor ihr das Büro verließ? Dessen Standardsatz, wenn er gerade mal keine Lust auf einen Außentermin hatte, lautete: »Ach, die Arbeit läuft uns schon nicht davon. Morgen ist auch noch ein Tag.« Sie erkannte, dass sie mit ihrer Mission gescheitert war, ihn wieder dahinzubringen, wo er ihrer Ansicht nach hingehörte: in ihr gemeinsames Büro, an ihre Seite. Er hatte sich in dieser knappen Woche zu weit von ihr entfernt. Oder lag das schon länger zurück, und sie hatte es nur nicht bemerkt? Am liebsten wäre sie wortlos aufgestanden und gegangen. Doch dann erinnerte sie sich an die Szene in dem Gostenhofer Hinterhof, an ihr Versagen und an ihre Schuld. Sie erzählte von dem Fall Shengali. Heinrich hörte ihr gelangweilt zu.

»… Frau Brunner ist mir dabei, obwohl jung und noch in der Ausbildung, eine große Hilfe. Die hat so viel Elan, Begeisterung. Das ist richtig ansteckend.«

»Das rotblonde Pummelchen aus dem Dezernat 2? Die ist doch höchstens dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Womit soll die dir schon eine große Hilfe sein?«

Sie horchte auf. Gehässigkeit zählte sonst nicht zu Heinrichs Charaktereigenschaften. Vielleicht war da etwas zu holen?

»Doch, das ist sie. Von allen Praktikanten, die bei uns waren, ist sie die mit Abstand Interessierteste. Der muss man nicht alles haarklein vorbeten, die sucht sich ihre Arbeit sogar selbst. Ich bin auf jeden Fall froh – gerade in der jetzigen Situation –, dass ich sie habe.«

Nach einer kurzen Pause legte sie noch ein Scheit Holz ins Feuer, eines von der Sorte, die besonders gut brennt. »Da hat mir der Fleischmann wirklich einen würdigen Ersatz für dich genehmigt.«

Eine Zeit lang war es still in dem kleinen Krankenzimmer.

»Ersatz?«, fragte Heinrich ungläubig.

»Na, mit dir können wir ja auf längere Sicht nicht rechnen. Also habe ich jemanden gebraucht.«

»Aber ich komme doch wieder.«

»Ja schon, aber wann? Und wer weiß, in welchem Zustand du dann bist? Vielleicht bist du, wenn du diese« – sie sprach nun mit der stilsicheren Mischung aus mitfühlender Wärme und professioneller Härte einer Vorgesetzten, die auch sehen musste, wo sie blieb – »schlimme Sache einigermaßen auskuriert hast, gar nicht mehr für den aktiven Dienst geeignet? Da muss ich schon Vorsorgemaßnahmen treffen.«

»Wo soll ich denn dann deiner Meinung nach arbeiten?«

»Meiner Meinung nach sollst du immer bei mir arbeiten. Das weißt du doch, Heinrich. Da brauchst du gar nicht zu fragen.« Das war bis hierher wahrheitsgemäß. Jetzt aber verließ Paula Steiner den Pfad der Aufrichtigkeit, abrupt und unwiderruflich. »Fleischmann sieht das allerdings anders. Er würde dich gern versetzen. In eine Abteilung, in der du nicht diesem Stress und der tagtäglichen Belastung ausgesetzt bist.«

»Und das wäre wo?«

Sie ließ sich Zeit für die so wichtige Antwort.

»Er hat da an die Pressestelle gedacht. Die brauchen doch immer Leute.« Sie wusste, dass keine Abteilung bei Heinrich derart in Misskredit stand wie die Pressestelle. Den ganzen Tag nur dieser Papierkram, jeden Scheißdreck muss man sich genehmigen lassen, das hat doch mit Polizeiarbeit nichts zu tun, war seine Meinung. Außerdem war da das Großraumbüro, das den Nägelbeißer und Liebhaber von Computerspielen unter ständige Beobachtung stellen würde.

Nun hatte sie es eilig. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln, einem aufgesetzten Lächeln, so falsch wie die Lüge, so widerlich süß wie ein Kilo Kunsthonig. Als sie im strömenden Regen zur Busstation lief, war sie beschwingt und heiter. Und voller Hoffnung, dass die Saat aus Verrat und Berechnung, die sie in dem kleinen Krankenzimmer ausgestreut hatte, bald aufgehen würde.

Es war kurz vor einundzwanzig Uhr, als sie den Vestnertorgraben erreichte. Sie ging auf direktem Weg in den Keller und holte sich das Beste und Teuerste, was ihr Weinvorrat derzeit zu bieten hatte: die letzte Flasche Le Vele Verdicchio dei Castelli di Jesi aus dem Jahr 2009. Mit ihr und drei köstlichen, fruchtigen, zarten Brombeeromeletts feierte sie diesen Tag, der doch noch eine so überraschend glückliche Wendung genommen hatte.

Als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, trampelte eine Kamelkarawane quer über ihre linke Stirnhälfte. Sie schloss die Augen. Das Trampeln wurde stärker. Sie hatte Kopfweh. Oder eine Migräneattacke im Ansatz. Zu viel Wein, zu viele Zigaretten gestern Abend. Heute Abend, nahm sie sich vor, wird nur Wasser getrunken. Gesundes, harmloses, fades Mineralwasser ohne Nebenwirkungen.

Sie stand auf, ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Bedächtig aß sie drei Knäckebrote mit Butter und Honig, trank Kaffee und spürte, wie der Schmerz im Kopf langsam nachließ.

Eine halbe Stunde später betrat sie ihr Büro und war überrascht, dass auf Heinrichs Stuhl bereits eine ausgeschlafene, fröhliche und erwartungsvolle Eva Brunner saß. Heute ohne die obligate Mütze und gewohnte grüne Jacke, dafür in Blue Jeans und dunkelblauer Bluse, die frisch gebügelt aussah.

»Guten Morgen, Frau Steiner. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich heute den ganzen Tag bei Ihnen verbringe?«

Sie nickte, während sie den Schirm zum Trocknen aufspannte und die Jacke auf den Bügel hängte.

»Also erstens, der Laster ist bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Aber ich habe mich in die Sache schon eingeschaltet. Das war zwar nicht einfach, weil die Kollegen von der Fahndungsstelle dafür unbedingt Ihr Einverständnis haben wollten. Ich habe mich dann an Herrn Fleischmann gewandt, und der hat das für uns beide geregelt. Ich hoffe, das war in Ordnung so?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelte der Redefluss weiter und weiter, wie ein Gebirgsbach nach der Schneeschmelze im Frühjahr. »Auf jeden Fall werden Sie sofort benachrichtigt, sobald der Lkw gefunden wird. Auch die Sicherstellung habe ich schon veranlasst. Die bringen den umgehend zur Spurensicherung, der kommt gar nicht mehr in die Spedition. Da können sich die Freys aufführen, wie sie wollen. Die haben keine Chance. Das wusste ich im Übrigen auch nicht, dass das so streng gehandhabt wird. Jetzt zum Zweiten: Chanim Ostapenko. 1976 in Alma Ata geboren, dort eine Lehre zum Automechaniker abgeschlossen. 1998 nach Deutschland gekommen, seit 2003 mit einer Deutschen verheiratet, Stefanie Vitzthum, die ihren Namen behalten hat, genau wie ihr Mann, seit vier Jahren Vater eines Sohnes, Lukas Vitzthum. Ich denke, die haben sich gedacht, ein Lukas Vitzthum hat es in Deutschland einfacher als ein Lukas Ostapenko. Sowohl in der Schule als auch bei der Berufsbildung. Und dann erst bei der Arbeitssuche. Damit haben sie ja auch sicher recht, oder?«

Aus dem sprudelnden Gebirgsbächlein war nun ein reißender Strom geworden, der in rasantem Tempo ins Tal stürzte. Und es gab nichts, was ihn auf seinem noch langen Weg dorthin hätte aufhalten können, musste Paula Steiner erkennen.

»Das hört sich alles noch sehr harmlos an, aber jetzt kommt es: Ostapenko ist«, Eva Brunner machte eine kurze Pause, um der Information, die nun folgen sollte, die entsprechende Aufmerksamkeit ihrer Interimsvorgesetzten zu sichern, »vorbestraft. Wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. 2001 hat man bei einer Kontrolle an der deutsch-holländischen Grenze 45,5 Gramm Haschisch bei ihm gefunden. Er wurde dann noch im selben Jahr ›wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge‹ zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Dass er dabei so verhältnismäßig glimpflich davongekommen ist, lag nur daran, dass das Gericht keine Gewerbsmäßigkeit in Ostapenkos Handeln erkennen konnte. Sonst wäre es wesentlich mehr gewesen. Die haben ihm das abgenommen, dass er das Haschisch nur für den Eigenverbrauch gekauft hatte. Fast sechsundvierzig Gramm für den Eigenverbrauch! Das ist doch zumindest fraglich. In Maastricht war das im Übrigen, nicht in Amsterdam. Wobei ich immer geglaubt habe, man kriegt solches Zeug nur in …«

Die Kamelkarawane setzte sich wieder in Gang. So viele Worte zu so früher Stunde war Paula Steiner einfach nicht gewohnt.

»… Amsterdam. Ich habe da auch schon eine Theorie. Wollen Sie sie hören?«

Nein, wollte sie nicht. Weder eine Theorie noch ein einziges weiteres Wort aus dieser unverschämt munteren und fröhlichen Sprechmaschine, die ihr da gegenübersaß.

»Ja, natürlich, gerne«, antwortete sie. »Vorher muss ich aber erstens bei der Spedition Frey anrufen. Und zweitens bei Frau Shengali.« Und drittens, fügte sie in Gedanken hinzu, brauche ich jetzt unbedingt fünf Minuten lang absolute Ruhe.

Sie stand auf, ging in die winzige Teeküche des Kommissariats, schloss die Tür hinter sich, entnahm dem Gemüsefach des Kühlschranks ihr Deponat für den Notfall – eine Schachtel HB –, öffnete das Fenster weit und zündete sich gierig eine Zigarette an. Den Rauch blies sie in großen Schwaden aus dem Fenster. Sie genoss die Stille und das Nikotin.

Zehn Minuten später saß sie wieder auf ihrem Bürostuhl und wählte die Nummer der Spedition. Sie hatte Glück. Joachim Frey meldete sich nach dem ersten Klingelton. Sie stellte sich vor, langsam, Wort für Wort, mit Namen, Rang und Dezernat. Sie wollte ihm Zeit geben zu verstehen, welche Richtung das Gespräch nehmen würde. Zeit, die er nicht nutzte.

»Polizei? Na endlich. Sie haben meinen Lkw.«

»Nein, Herr Frey. Ich bin, wie schon gesagt, von der Mordkommission«, sie betonte die erste Silbe, »ich untersuche in erster Linie den Mord an Ihrem Mitarbeiter. Und dazu habe ich eine Frage: Ihr Vater sagte uns gestern, Sie wissen, wann Herr Shengali vorgestern frühmorgens die Spedition verlassen hat. Sie haben ihn gesehen?«

»Ach so, das. Eine schreckliche Sache. Ja, ich habe ihn am Montag noch gesehen. Kurz nach halb sieben war das. Da ist er vom Hof. Und in punkto Lkw, da hat sich wohl noch nichts getan?«

Sie überhörte seine Frage. »Gegen sechs Uhr dreißig, aha. Herr Shengali hatte eine Tour nach Albanien. Wie fährt man denn dahin für gewöhnlich, welche Route ist die gängigste?«

»Sinnvoll ist nur eine. Erst die A 9 bis München, dann die A 8 nach Salzburg, dort über die Grenze, Villach, Ljubljana …«

»Danke, das genügt schon.« Gegen acht Uhr erhielt der Fahrer den Schlag mit der Stange, da war er neunzig Minuten unterwegs. »Wann legen Ihre Fahrer in der Regel die erste Pause ein?«

»Nach viereinhalb Stunden. Das ist Vorschrift.« Also hatte Shengali vorher gehalten, aus welchen Gründen auch immer.

»Aber sie müssen diese viereinhalb Stunden nicht bis zur letzten Minute ausnutzen, sie könnten schon vorher halten. Oder?«

»Können schon. Doch wozu? Unsere Fahrer stehen unter enormem Zeitdruck, bei großen genauso wie bei kleinen Touren. Die müssen zusehen, dass sie pünktlich zum Kunden kommen.«

»Und wenn jemand auf die Toilette muss?«

»Hören Sie, wir haben hier nur Berufskraftfahrer«, blaffte er sie an. »Profis. Keine Jüngelchen mit Konfirmandenblase, die sich nicht im Griff haben. Das läuft so nicht, zumindest nicht in meinem Unternehmen. Wissen Sie überhaupt, wie viele Kilometer das bis Tirana sind und was das für eine stauanfällige Strecke ist? Teilweise nur einspurig. Da ist keine Zeit für …«

»Okay«, schnitt sie ihm das Wort ab, »das wäre geklärt. Eine andere Frage: Wie würden Sie sich denn das Verschwinden des Lasters erklären plus den Mord an Ihrem Fahrer?«

»Na, das ist doch sonnenklar. Das war Diebstahl. Da war jemand scharf auf die Ladung und/oder auf das Fahrzeug. Was denn sonst?« Sein Ton hatte eine Schärfe und Lautstärke erreicht, die ihr zunehmend missfielen.

»Wenn es Raubmord war, so wie Sie vermuten, dann hat Shengali auf der Strecke Nürnberg-München aber doch eine Pause gemacht oder zumindest kurz angehalten. Sein Mörder hat ihm nämlich gegen acht Uhr einen Schlag verpasst, an dem er letztendlich auch gestorben ist. Und dass Waren aus einem fahrenden Lkw gestohlen werden, ist eher unwahrscheinlich«, schoss sie zurück. »Oder würden Sie mir da nicht zustimmen, Herr Frey?«

»Dann hat er halt gestoppt. Na und? Was weiß ich. Überhaupt ist das doch Ihre Aufgabe, herauszufinden, wer Shengali umgebracht hat und wo mein Lastzug abgeblieben ist. Ich habe jetzt auch keine Zeit mehr, mit Ihnen so sinnfrei herumzuquatschen. Ich muss nämlich Geld verdienen, ich sitze in keiner Behörde, wo das automatisch zum Fenster reinfließt.«

»Ja, da haben Sie recht, es ist meine Aufgabe, Shengalis Mörder zu finden. Dagegen ist es nicht meine vorrangige Aufgabe, Ihren Lkw zu suchen. Das nur zur Klarstellung. Des Weiteren irren Sie, wenn Sie glauben, dass ich mit Ihnen herumquatsche. Ich führe im Augenblick eine telefonische Vernehmung mit Ihnen. Sollten Sie dazu außerstande oder nicht gewillt sein, dann sagen Sie es mir lieber gleich. Dann lade ich Sie nämlich ins Präsidium vor, zu einem Zeitpunkt, der«, sie machte eine kleine Pause, um dem Personalpronomen, das nun folgen sollte, die entsprechende Aufmerksamkeit ihres Gesprächspartners zu sichern, »mir angemessen erscheint. Und der kann in einer Viertelstunde sein.«

Frey junior lenkte sofort ein. »Ja, entschuldigen Sie. Ich bin derzeit ein wenig neben der Spur. Es war nicht so gemeint. Erst der Lastzug weg, dann einer meiner Fahrer tot, da liegen die Nerven eben blank.«

»Gut, dann können wir ja weiterreden. Also, bleiben wir bei Ihrer Theorie. Shengali hat angehalten aus Gründen, die wir noch nicht kennen. Der oder die Täter haben ihn überwältigt. Wie aber erhalten sie Zugriff auf die Ladung und das Fahrzeug? Lastwagenfahrer sind doch angehalten, bei jeder Rast, und sei sie noch so kurz, die elektronische Diebstahlsicherung einzuschalten.«

»Vielleicht hat er es vergessen. Kann doch mal passieren. Passiert mir auch, nicht oft, aber hin und wieder. Oder er hat kurz angehalten, um hinterm Steuer ein wenig zu dösen oder mit dem Handy seine Frau anzurufen. Und da hat man ihn dann mit Narkosegas außer Gefecht gesetzt. Das kommt oft vor. Gas ist die häufigste Methode, sich Zugang zum Fahrerhaus zu verschaffen beziehungsweise den Fahrer schachmatt zu setzen.«

Siegfried Freys bester Fahrer, der die Regel Nummer eins beim Rastvorgang vergisst? Die Zuverlässigkeit in Person, der nach eineinhalb Stunden Fahrt mal eben so ein Schläfchen hält? Das konnte sie sich nicht vorstellen.

»Wie kommt das Narkosegas ins Fahrerhaus? Die Türen kann man doch von innen verriegeln.«

»Schon, das hilft in diesem Fall aber nichts. Es gibt richtige Banden, die spritzen das Gas durch die Lüftungsschlitze der Türen in die Fahrerkabine. Das geht ratzfatz, schon ist man hinüber. Dann ein Brecheisen an der richtigen Stelle angesetzt, und die Tür ist auf.«

»Hm. Dann wäre es das vorerst. Ach ja, noch eine letzte Frage, Herr Frey: Wo waren Sie eigentlich zur Tatzeit, also am Montag um acht Uhr?«

Die Antwort kam umgehend, was sie überraschte. Sie hätte nicht aus dem Stegreif sagen können, wo sie vorgestern zu einem bestimmten Zeitpunkt war.

»Am Montagvormittag war ich in Ansbach. Auf Kundenakquise.«

Sie notierte sich den Namen des Kunden und legte auf.

»Dem haben Sie es aber gegeben!«, kommentierte Eva Brunner, die sie aufmerksam beobachtet hatte, den Gesprächsverlauf. »Der hat sich wohl am Telefon recht aufgemandelt?«

»Ich mache so was nicht gerne, Frau Brunner. Die Leute werden dadurch noch vorsichtiger, zurückhaltender, als sie im Umgang mit der Polizei eh schon sind. Aufgemandelt? Nein. Eher unwillig. So, jetzt noch Frau Shengali, und dann möchte ich aber unbedingt Ihre Theorie hören.«

Sie schenkte der Anwärterin dafür, dass sie sie ein weiteres Mal auf später vertröstet hatte, ein kurzes Lächeln.

Bei Familie Shengali hatte sie kein Glück. Es war belegt. Da aber Geduld nicht zu den Stärken Paula Steiners gehörte, versuchte sie es wieder und wieder. Nach zwanzig Minuten endlich das Freizeichen. Eine männliche Stimme meldete sich. Sie verlangte Solin Shengali. Oder deren Schwester.

»Solin und ihre Schwester sind nicht da. Aber ich kann Ihnen sicher weiterhelfen, Frau … Steiner war Ihr Name, ja?«

»Ja, Steiner. Mordkommission. Und Sie sind?«

»Bassim Eshaya. Ich bin der Neffe, Frau Shengali ist meine Tante. Was kann ich für Sie tun?« Da hatte aber jemand gute Manieren! Ganz im Gegensatz zu seiner Cousine Solin. Und dann dieser flötende Singsang, der wie ein Gedicht aus Tausendundeine Nacht klang – unendlich weich, einladend nachgiebig – und der ihr so bekannt vorkam. Gerhards Bekannter redete genauso. Wenn er sich nicht gerade über Frauen, die es den Raben gleichtun sollten, ausließ. Dann dröhnte dieser Akzent mit seinen kurz intonierten Silben und den grollenden Rs eher wie ein Maschinengewehr. Trotzdem, sie hörte diese Sprachmelodie gern, diese eigentümliche Symbiose aus seelenvollem Säuseln und herbem Rumoren.

»Bitte fragen Sie Frau Shengali, ob sie am Freitagvormittag ins Polizeipräsidium kommen kann. Es gibt noch einiges zu klären.«

Sie hörte, wie er die Frage weitergab. Und sie hörte die Antwort, eine lange und stellenweise aufgeregt klingende Antwort. Dazwischen immer wieder der beruhigende Singsang Eshayas.

»Natürlich, Frau Steiner, wir werden kommen. Wann ist es Ihnen recht?«

»Wer ist wir?«

»Meine Tante und ich, ich werde sie begleiten. Wie Sie wissen, spricht Tante Ghofram kein Wort Deutsch. Ich werde für sie übersetzen. Das ist doch auch in Ihrem Sinn.« Das war keine Frage, das war eine Feststellung.

Nein, das war nicht in ihrem Sinn. Dennoch widersprach sie nicht. Sie war neugierig geworden. Sie wollte das neue Familienoberhaupt selbst in Augenschein nehmen. Außerdem wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, sein Angebot und damit vor allem ihn selbst jetzt am Telefon abzuweisen – denn dann würde auch Tante Ghofram nicht erscheinen.

»Wenn Sie es einrichten könnten, wäre mir neun Uhr dreißig sehr angenehm.«

»Natürlich, gerne, wir werden pünktlich da sein. Noch einen schönen Tag für Sie.«

Sie würde die Übersetzungsdienste des Herrn Eshaya nicht in Anspruch nehmen. Also bestellte sie eine Dolmetscherin, die ihr schon ein paarmal bei Vernehmungen mit Arabern assistiert hatte, für Freitagmorgen ins Präsidium ein. Eine ältere Frau, gut über die sechzig, warmherzig und, wenn es darauf ankam, mit Witz und Charme.

»Wie stellen Sie sich meinen Auftritt vor? Als voll integrierte Deutschmuslimin mit kniekurzem Rock oder als teilintegrierte Kopftuchmuslimin in den neuesten Schlammfarben?«

Sie lachte. »Wie Sie möchten. Das überlasse ich Ihnen. Mir ist nur wichtig, dass sich Frau Shengali bei dem Gespräch sicher und wohlfühlt.«

Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und nickte Eva Brunner auffordernd zu. Die schien darauf nur gewartet zu haben.

»Nach allem, was ich … äh, wir über Shengalis Freund Ostapenko herausgefunden haben, glaube ich, dass der Mord was mit Drogenschmuggel zu tun hat. Der Ostapenko ist ja deswegen vorbestraft. Also wegen Drogenbesitz. Wobei mich wundert, dass die Spedition ihn eingestellt hat. Trotz seiner Vorstrafe! Die müssen das doch gewusst haben. Na egal. Ich glaube auch, der Ostapenko hat damals vor Gericht gelogen. Das war kein Haschisch für den Eigenbedarf, der hat damit gehandelt. Über fünfundvierzig Gramm für den Eigenbedarf! Das ist doch viel zu viel. Oder was denken Sie?«

Paula Steiner zuckte lächelnd mit den Schultern und legte die Hände ganz langsam auf den Schreibtisch. Sie ahnte, worauf Eva Brunners Theorie hinauslaufen würde, zwang sich aber zu Geduld und Freundlichkeit. Eine angestrengte Freundlichkeit, die noch eine Weile vorhalten würde, aber nicht über Gebühr zu strapazieren war.

»Also, ich nehme ihm das nicht ab. Der hat damals illegal mit Drogen gehandelt, und der handelt heute noch damit. Wahrscheinlich sogar mit härteren Sachen wie Kokain oder Heroin. Das ist doch für einen Lkw-Fahrer ziemlich einfach, Drogen über die Grenze zu schmuggeln. Die Sattelzüge sind, wie ich gelesen habe, alle verplombt und werden so gut wie nie kontrolliert. Und genau das wird er seinem Freund erzählt haben: Schau, das ist viel und leicht verdientes Geld, fast ohne Risiko. Mach doch mit, ich führe dich auch in die Szene ein. Vielleicht hat Shengali erst mal gezögert, sich dann aber doch überreden lassen. Der brauchte doch auch Geld. Dann aber gab es Zoff zwischen den beiden. Vielleicht haben die Aufträge nicht mehr für beide gereicht, und Shengali bestand weiterhin auf seinem Anteil. Oder er, also Shengali, hat kalte Füße bekommen. Das Ganze ist ihm dann mit der Zeit zu riskant geworden.«

Jetzt endlich legte Eva Brunner eine Pause ein. Eine zu kurze allerdings, um ihr ins Wort fallen zu können. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann nahm der Gebirgsbach wieder Fahrt auf.

»Er hat Ostapenko entweder gedroht, er würde damit zur Polizei gehen und alles gestehen. Oder Shengali hat seinen Freund erpresst, wollte nur noch das Geld von ihm haben und sich nicht mehr die Hände schmutzig machen. Da ist alles möglich. Genau weiß ich es natürlich nicht. Auf jeden Fall war Ostapenko dann dermaßen in der Klemme, dass er sich keinen anderen Ausweg mehr wusste und – Shengali erschlagen hat. Und auch die Botschaft, von der Sie gesprochen haben, passt dazu wie die Faust aufs Auge. Die betenden Hände sind eine Warnung: Schau, wir machen sogar einen Moslem katholisch, wenn er nicht spurt. Das passiert jedem, soll das heißen, der aus diesem Drogenring auszusteigen versucht.«

Nachdem sie ihre Theorie, die sich aus einem großen Fundus an Phantasie speiste, vorgetragen hatte, blickte Eva Brunner sie an.

Paula Steiner wusste, was ihr Gegenüber jetzt von ihr erwartete: einen kleinen verbalen Applaus, der zudem glaubhaft sein musste. Sie war bereit, ihr diese Art Beifall zu zollen. Aber sie würde ihm ein paar Bedenken beimischen. Vor allem den Gedanken, dass noch andere Theorien neben der Brunner’schen existierten.

»Das wäre möglich, natürlich, mit Abstrichen. Mit Ihrer Theorie haben Sie Phantasie bewiesen, Frau Brunner. Und Phantasie ist das A und O bei der Mordkommission. Rein lineares Denken hilft bei der Ermittlung nicht immer weiter. So, und nun werden wir Ihre Theorie kritisch hinterfragen, das heißt: auf ihre exklusive Gültigkeit abklopfen. Das mache ich auch immer bei meinen Vermutungen. Erste Frage: Wenn es so ist, wie Sie denken, dann hätte Shengali zumindest eine Zeit lang einen guten Zuverdienst gehabt. Er hätte sich den Opel schon längst leisten können, denn er führt nach dem, was wir gesehen haben, kein aufwendiges Leben. Dann wäre er nicht mehr auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen gewesen. Oder auf die Fahrdienste seines Freundes Ostapenko. Wie erklären Sie sich das?«

Eva Brunner überlegte. Nach einer langen Weile stimmte sie der Kommissarin zu. »Sie haben recht. Den Opel hatte ich vergessen.« Die Enttäuschung war ihr anzuhören.

»Aber Frau Brunner, so schnell sollten Sie Ihre Theorie nicht fallen lassen. Ihre Theorie ist eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit von vielen. Vielleicht hatte Shengali Schulden, die er zuerst bedienen wollte oder musste. Anschließend, wenn das aus der Welt geschafft war, hätte er sich den Wagen gekauft. Oder er überwies seiner Verwandtschaft daheim im Irak regelmäßig Geld. Auch das würde erklären, warum er sich den Opel nicht auf die Schnelle hat leisten können, sondern sich vom Mund absparen musste. Alles ist möglich.«

Die Anwärterin sah sie fragend an. »Was glauben Sie denn, Frau Steiner, wer der Mörder war? Haben Sie auch eine Theorie?«

»Ich glaube – noch – gar nichts. Und noch viel weniger habe ich eine Theorie. Aber wir haben die betenden Hände. Die gehen mir im Kopf herum. Und selbst dafür kann es eine harmlose Erklärung geben.«

Das war jetzt wie aus dem Lehrbuch zitiert, wonach man sich am Beginn der Ermittlungen nicht auf ein nebensächliches Detail festlegen soll, aber nicht aufrichtig. Denn sie glaubte nicht an diese »harmlose Erklärung«. Sie war vielmehr, heute mehr als gestern, überzeugt, in Shengalis Händen eine erste Spur zu sehen, die in die richtige Richtung wies. Sie glaubte zudem, oder besser: sie hatte sich bereits darauf festgelegt, dass wer auch immer den Toten da am Wasserwerk so drapiert hatte, damit ein Signal, eine Warnung verbinden wollte. Aber an wen? Und dann: Welche Art Botschaft konnte ein Lkw-Fahrer mit neunzehnhundert Euro brutto im Monat transportieren? Sie schickte ihre Gedanken auf Wanderschaft. Bevor diese allerdings die erste Weggabelung erreicht hatten, wurden sie vom Tatendurst einer eifrigen Anwärterin ausgebremst.

»Was unternehmen wir als Nächstes, Frau Steiner?«

Sie merkte, wie sich ihr Wohlwollen gegenüber dem »würdigen Ersatz« für Heinrich langsam erschöpfte. »Was würden Sie denn machen?«

»Ich würde den Ostapenko vernehmen.«

Sie sah auf die Uhr. Kurz vor eins. »Wenn er schon daheim ist, machen wir das. Ich fürchte jedoch, der ist noch unterwegs.« Sie überlegte. »Am besten, Sie rufen in der Spedition an und lassen sich seine Handynummer geben. Und fragen ihn dann selbst, wann wir ihn sprechen können. Ich bin gleich wieder da.«

Sie musste jetzt auf der Stelle allein sein. Eine Viertelstunde lang allein sein. Fernab der Beobachtung und Kontrolle von Eva Brunner.

Sie marschierte zu ihrem Rückzugsdomizil. Doch die Teeküche war von drei Mitarbeitern Trommens belegt, die vor der Mikrowelle anstanden. Sie fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, ging über den weitläufigen Hof bis zur Polizeistation Nürnberg Mitte, grüßte die verdutzten Kollegen, drehte um und kehrte langsam zu ihrem Arbeitsplatz zurück, wobei sie immer wieder tief ein- und ausatmete.

»Also, der Ostapenko ist tatsächlich noch unterwegs. Wie Sie vermutet hatten. Der war in der Schweiz, ist gerade beim Ausladen am Stadtrand von Nürnberg und wird so in einer, spätestens zwei Stunden daheim sein.« Wieder dieser erwartungsvolle Blick.

»Gut. Dann passt es ja. Wir fahren um fünfzehn Uhr hier weg.«

»Kann ich jetzt in die Mittagspause gehen, oder brauchen Sie mich noch?«

»Natürlich, gerne, Frau Brunner. Und lassen Sie sich ruhig Zeit. Uns läuft hier niemand davon.« Wenn überhaupt, ergänzte sie in Gedanken, dann nur ich.

Nachdem sie die Bürotür geschlossen hatte, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, legte die Füße auf die Heizung und schloss die Augen. Sie genoss diese himmlische Stille und das Alleinsein. So sehr, dass sie dafür sogar ihren wachsenden Hunger in Kauf nahm. Und doch, ein wenig übel nahm sie es Eva Brunner schon, sie um ihr heutiges Mittagessen gebracht zu haben, auf das sie sich bereits beim Frühstück gefreut hatte. Mittwochs gab es in der Kantine immer Grießnockerlsuppe, Leberkäse mit Ei und Bratkartoffeln – und als Nachtisch Himbeerquark.

Zwei Stunden später machten sich eine hungrige Kommissarin und ihre satte Assistentin auf den Weg zu Shengalis Freund. Chanim Ostapenko wohnte in der Rankestraße im Stadtteil Gleishammer. Ein Kleinbürgerviertel mit billigen Zwei- und Dreizimmerwohnungen, Robinien und Rainweiden in den Vorgärten, die jetzt verblüht und trist im Nieselregen standen. Kleinwagen an Kleinwagen, sauber gepflegt, viele mit Aufklebern des 1. FCN am Heck.

Es war Stefanie Vitzthum, die ihnen die Tür öffnete. Eine hübsche schlanke Frau Mitte dreißig, schwarze Leggins, darüber ein geblümter Ballerinenrock. Ein Headset auf dem Kopf mit einem haselnussgroßen Mikrofon an einem Bügel, was auf eine Arbeit für ein Callcenter schließen ließ. Sie führte die beiden Polizistinnen ins Wohnzimmer. Ein großer, lichtdurchfluteter Raum. In der Mitte stand ein Glastisch, außerordentlich modern, mit einem Computer darauf. Zwei Sessel und ein Sofa von der Sorte, wie man sie nur in Architekturzeitschriften findet.

»Mein Mann kommt gleich. Er ist noch kurz unter der Dusche.«

»Kannten Sie Herrn Shengali, Frau Vitzthum?«

»Ja. Drei- oder viermal hab ich ihn gesehen. Häufiger sicher nicht. Aber am Telefon habe ich oft mit ihm gesprochen, wenn er mit Chanim reden wollte. Was man halt so spricht, bis man den Hörer weiterreicht. Und Abdu war ein gut erzogener, ein ganz lieber Mensch, der sich immer nach mir erkundigt hat. Wie es mir geht, was Lukas macht, solche Sachen eben. Ich hatte auch den Eindruck, es interessiert ihn wirklich. Er fragte nicht bloß aus Höflichkeit, weil sich das so gehört.«

Als sich ihre Blicke trafen, ergänzte Stefanie Vitzthum: »Ich habe ihn richtig gern gehabt. Das ist schon eine ganz schlimme Sache. Und für meinen Mann erst! Dem geht das furchtbar an die Nieren. Hoffentlich finden Sie den, der das getan hat.«

»Das hoffen wir auch. Ich möchte Sie aber nicht bei Ihrer Arbeit stören«, sie deutete auf das Headset, »Sie arbeiten sicher für ein Callcenter und müssen immer ansprechbar sein.«

»Ja, schon, aber ich mache das nur nebenbei, stundenweise, nicht hauptberuflich. Und wenn ich nicht rangehe, übernimmt das Gespräch jemand anders. Das ist nicht weiter tragisch. Chanim, kommst du? Die beiden Damen von der Polizei sind da.«

Sie hörte eine tiefe Männerstimme laut rufen: »Sofort. Noch zwei Minuten Geduld, dann bin ich da.«

»Möchten Sie einen Kaffee? Die Zeit dafür wäre ja jetzt ideal«, fragte Stefanie Vitzthum mit einem Lächeln. »Oder vielleicht einen Cappuccino, Latte macchiato, Espresso?«

»Gern. Aber nur, wenn es keine Umstände macht.«

»Mir nicht. Höchstens der Espressomaschine. Und die wird nicht gefragt. Also Kaffee oder was anderes?«

»Gern einen Cappuccino. Daheim habe ich nur eine ganz stinknormale Kaffeemaschine, die so was Exklusives nicht zustande bringt.« Sie sah fragend zu Eva Brunner, die verneinend den Kopf schüttelte.

Kurz nachdem Stefanie Vitzthum das Zimmer verlassen hatte, war in der Diele eine Tür zu hören. Dann vernahm man Schritte. Chanim Ostapenko kam herein, ein kleiner, kompakter, muskulöser Mann mit einem kreisrunden Kopf, auf dem die blonden stoppelkurzen Haare noch feucht vom Duschen glänzten. Er trug modische Flipflops, eine ausgewaschene gebügelte Jeans, darüber ein enges weißes T-Shirt, worunter sich seine Brustmuskeln eindrucksvoll abzeichneten. Er begrüßte seine beiden Gäste mit festem Händedruck, bevor er sich aufrecht auf das cremefarbene Sofa setzte. Dann wartete er ruhig ab, welche Fragen man ihm stellen würde.

»Herr Ostapenko, man sagte uns, Sie und Herr Shengali seien befreundet gewesen. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt. Abdu war mein Freund. Ein sehr guter, mein bester Freund, den ich hier in Deutschland hatte.«

»Von wem haben Sie es erfahren? Dass er tot ist, ermordet wurde, meine ich.«

»Vom Chef selber.«

»Von welchem Chef? Vom Junior oder vom Senior?«

»Vom Senior. Das ist der Chef für uns. Er hat alle Fahrer angerufen. Kurz zuvor waren Sie in der Firma und haben es ihm gesagt. Das ist doch richtig, Frau Steiner?«

»Ja, das ist richtig. Wann haben Sie Herrn Shengali das letzte Mal gesehen?«

»Am Montag, ganz in der Früh. Da habe ich ihn von daheim abgeholt und mit zum Hafen genommen. Wenn es geht, mache ich das immer. Dann braucht Abdu nicht mit der U-Bahn und dem Bus zu fahren. Da ist er ja so lang unterwegs. Und mit dem Auto ist man von der Pillenreuther Straße in fünfzehn, spätestens zwanzig Minuten in der Donaustraße.«

»Seine Tochter sagte, ihr Vater wollte sich bald selbst ein Auto kaufen. Einen Opel.«

»Hm«, brummte Ostapenko zustimmend. »Einen Opel Astra. Keinen gebrauchten, neu musste er sein. Ich hab ihn damit immer aufgezogen. ›Was‹, hab ich gesagt, ›so ein kleines Auto für so eine große Familie? Und wenn jemand aus der Heimat kommt, wo willst du den dann hinsetzen? In den Kofferraum?‹ Doch er war davon nicht abzubringen. Für Abdu war Opel das typischste deutsche Auto. Und damit das beste. Der wollte gar keinen Mercedes oder BMW. Oder Audi.«

Stefanie Vitzthum, die in dem Moment mit einem kleinen Tablett, auf dem drei dampfende Becher und eine Schale Kekse standen, hereinkam, korrigierte ihren Mann: »Chanim, hast du schon mal dran gedacht, dass Abdu sich einen teuren Mercedes oder Audi gar nicht hätte leisten können? Der wäre doch froh gewesen, wenn es irgendwann überhaupt einmal zu einem Auto gereicht hätte. Und wenn es ein Opel ist.«

Paula Steiner griff zu ihrem Becher und löffelte die weiße obere Schicht vorsichtig ab. Der Schaum war für sie das Beste, und dieser Cappuccino schmeckte einfach köstlich. Sie langte in die Keksschale und legte drei Miniflorentiner auf die Serviette, die ihre Gastgeberin neben ihren Becher platziert hatte. »Welche Marke fahren Sie denn, Herr Ostapenko?«

»Bis jetzt noch einen 3er BMW, aber wir sparen schon auf einen neuen 5er. Vierzylinder, Stereoanlage, Ledersitze, dunkelblau metallic und Turbolader.«

Und das alles von neunzehnhundert Euro brutto? »Was kostet denn so ein Geschoss?«

»Sechsunddreißigtausend Euro. Das ist deswegen so billig, weil die meinen alten BMW in Zahlung nehmen. Für wirklich viel Geld.«

Stefanie Vitzthum sah wohl die Fragezeichen und Skepsis im Gesicht der Kommissarin. Denn sie fügte schmunzelnd hinzu: »Weil die unseren«, betonte sie, »alten BMW in Zahlung nehmen, gell, Chanim? Und sechsunddreißigtausend Euro ist nur für jemanden billig, dessen Frau mehr als die Hälfte dazu beisteuert. Das hast du wohl in deiner Begeisterung vergessen.«

»Ja, Steffi, ja«, nickte Ostapenko. »Vergessen habe ich es nicht, nur für einen Moment verdrängt.« Er schenkte seiner Frau ein warmes pfiffiges Lächeln. »Wissen Sie, meine Frau verdient viel mehr als ich. Sie ist Physiotherapeutin. Ohne ihr Gehalt könnten wir uns das alles hier«, er zeigte mit der rechten Hand auf den Materie gewordenen Lifestyle seines Wohnzimmers, »nicht leisten. Dann hätte ich auch keinen 3er BMW, sondern würde wie Abdu von einem kleinen Opel träumen.« Bei dem Namen seines Freundes erstarb das Lächeln. »Darf ich Sie auch was fragen, Frau Steiner?«

»Ja, natürlich.«

»Das geht mir die ganze Zeit im Kopf rum. Abdu hatte doch eine Fuhre nach Albanien. Der Chef sagte, er wurde vor dem Wasserwerk in Erlenstegen gefunden. Das liegt genau entgegengesetzt zu seiner Tour. Und Abdu war absolut zuverlässig. Ich frage mich, warum ist er in den Osten gefahren, wenn er doch in den Südwesten musste.«

Das konnte eine Finte sein, trotzdem antwortete sie offen und wahrheitsgemäß: »Herr Shengali wurde nicht am Wasserwerk ermordet. Als man ihn dort aufgefunden hat, war er schon seit etlichen Stunden tot.«

Ostapenko nickte ernst. »Wissen Sie, wie man ihn umgebracht hat, woran er gestorben ist?«

»Er wurde erschlagen. Mit einer runden, vier bis fünf Zentimeter dicken Eisenstange, an der Flugrost haftete.«

»Mit einer Eisenstange? Hm.« Es war Ostapenko anzusehen, dass er den beiden Polizistinnen helfen wollte. Er dachte nach. »Vielleicht war das ein mechanischer Wagenheber.«

»Ein Wagenheber? Wie kommen Sie darauf?«

»Ist mir halt so eingefallen. Alte Wagenheber sind aus Eisen. Und da ist immer Rost dran. Sie werden ja so selten benutzt. Vier bis fünf Zentimeter Durchmesser? Dann ist er sicher aus den sechziger Jahren. So einfache Stangenwagenheber waren damals serienmäßiges Zubehör zum Beispiel für jeden VW Käfer, den Strich-Achter von Mercedes und auch den Spider, Bertone oder Giulia von Alfa Romeo.«

»Sie kennen sich aber gut aus. Alle Achtung.«

»Ich bin gelernter Kfz-Mechaniker, Frau Steiner«, sagte er nicht ohne Stolz. »Die erste Zeit in Deutschland habe ich ab und zu in einer Werkstatt ausgeholfen, die sich auf Reparaturen von Oldtimern spezialisiert hatte.«

»Ach so. Auf jeden Fall ist das ein wertvoller Hinweis, dem wir nachgehen werden. Danke für den Tipp. Zwei Fragen habe ich noch an Sie, Herr Ostapenko. Wo waren Sie am vergangenen Montagmorgen, so gegen acht Uhr?«

»Auf dem Weg in die Schweiz. Ich hatte eine Fahrt nach Bern. Hin mit Glasgranulat, zurück mit Transformatoren für Umspannwerke. Montagfrüh bin ich losgefahren, zusammen mit Abdu, auf dem Rastplatz Aarau-West habe ich übernachtet, Dienstag ab- und aufladen, dann ging es wieder retour. Aber wo genau war ich am Montag um acht? Auf jeden Fall schon auf der A7, irgendwo zwischen den Abfahrten Aalen und Heidenheim. Und was wollen Sie noch wissen?« Shengalis Freund schien nicht gekränkt von ihrer ersten Frage. Im Gegenteil, es klang, als hätte er sie erwartet.

»Sie wurden 2001 wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt.«

Stefanie Vitzthum schnappte empört nach Luft. »Das ist doch schon Jahre her, also wirklich …«

Ihr Mann legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm und sagte lapidar: »Ja. Stimmt.«

»War die Vorstrafe bei Ihrem Einstellungsgespräch ein Thema? Und wenn ja, war das für die Freys ein Problem? Oder wissen Ihre Arbeitgeber nichts davon?«

»Doch, die wissen das. Joachim hat danach gefragt. Ich habe ihm ehrlich geantwortet. Ich hab beiden gesagt, was ich jetzt auch Ihnen sage: Das war eine Jugendsünde, die sich nicht wiederholen wird. Ich habe zu dieser Zeit viel geraucht, aber nie harte Drogen genommen wie Kokain zum Beispiel. Also nix, was abhängig macht. Als ich die Steffi kennenlernte, war sofort Schluss damit. Ich brauche das Zeug nicht mehr. Mein Leben ist jetzt auch so schön.«

Bei diesen Worten entspannte sich Stefanie Vitzthum zusehends. »Das hast du jetzt wunderbar gesagt, mein Schatz.«

Auch Paula Steiner glaubte ihm, selbst wenn fünfundzwanzig Jahre ein stolzes Alter für jemanden waren, der eine Jugendsünde beging.

Wer Ostapenko seine Version allerdings offensichtlich nicht abnahm, war Eva Brunner. Die Kommissaranwärterin, die bis jetzt geschwiegen hatte, fragte: »Sind Sie katholisch, Herr Ostapenko?«

Bevor er antworten konnte, lachte seine Frau hell auf. »Ha, mein Mann und katholisch. Mein Mann ist nichts, gar nichts. Ich habe damals einen absoluten Heiden geheiratet. Religion ist für den so notwendig wie ein Kropf. Kirchen sind für Chanim nur vergeudeter Wohnraum.«

Paula Steiner griff nach der Keksschale, die zu ihrem Erstaunen leer war. »Habe ich jetzt die ganzen Kekse gegessen?«

Stefanie Vitzthum nickte lächelnd. »Dafür sind sie ja da. Ich kenne das, ich kann bei Nüssen nicht widerstehen. Egal, bei welchen.«

Blieb nur noch eine Frage, die Standardeingangs- oder -abschlussfrage aller Kommissare, der echten wie der aus den Filmen. »Hatte Herr Shengali Feinde? Oder kennen Sie jemanden, der ihm nicht so wohlgesonnen war wie Ihr Chef und Sie?«

Ostapenko dachte nach. Man sah förmlich, wie er in seinem Gedächtnis nach Personen wühlte, die dafür in Frage kamen. Als er bei den Grabarbeiten fündig geworden war, hellte sich seine Miene auf. »Ja. Es gibt zwei Fahrer bei Frey-Trans, die uns nicht in der Spedition haben wollen. Für die sind wir nur die Ausländer. Dabei ist Abdu schon seit über zwölf Jahren in Nürnberg. Und ich bin mit einer deutschen Lady«, er sagte tatsächlich Lady, »verheiratet. Auch schon sieben Jahre lang. Wir zahlen hier unsere Steuern, schicken unsere Kinder auf deutsche Schulen oder in deutsche Kindergärten. Zahlen an deutsche Hausbesitzer unsere …«

Als sie merkte, wie er sich in Rage redete, unterbrach sie ihn. »Wie äußerte sich diese Ablehnung der beiden Fahrer?«

»In solchen blöden Bemerkungen wie ›Na, am Sonntag wieder einen Schweinsbraten gegessen und eine Halbe dazu getrunken?‹. Dabei wissen die genau, dass Abdu Moslem ist und kein Schweinefleisch essen oder Alkohol trinken darf. Außerdem hat der Rüttler auf der letzten Weihnachtsfeier ganz laut gesagt, sodass es jeder hören musste: ›In einem Nürnberger Transportunternehmen haben Mongolenschädel nichts verloren, die sollen doch wieder in ihre Steppe zurückgehen, zu ihren Zelten und Kamelen.‹ Damit hat er bestimmt mich gemeint.«

Das lag nahe. »Wie haben die beiden Chefs darauf reagiert? Haben die etwas dazu gesagt?«

»Joachim natürlich nicht. Der meint ja im Grunde, es ist eine Gnade, dass wir bei Frey-Trans arbeiten dürfen. Ich mit meiner Vorstrafe und Abdu, weil er das Freitagsgebet einhalten will. Für den sind wir auch nur die Ausländer. Und werden es immer bleiben. Aber dem Senior war das gar nicht recht. Der hat zu Rüttler gesagt, er will keine schlechte Stimmung auf der Weihnachtsfeier. Er soll das sein lassen. Wir in der Firma sind eine Mannschaft, ein Team, wir müssten doch alle zusammenhalten.«

»Chanim, erzähl auch das mit den Anzeigen und den Gutscheinen. Das passt doch genau zu diesem Thema«, forderte ihn Stefanie Vitzthum auf, die soeben mit einer frisch gefüllten Keksschale das Zimmer betrat.

Paula Steiner sah zu Ostapenko, der seiner Frau ein fast unmerkliches Zeichen in Form eines angedeuteten Kopfschütteins gab.

»Was ist mit diesen Anzeigen, Herr Ostapenko? Das würde mich interessieren.«

»Nichts, meine Frau verwechselt da was. Das hat mit uns, mit Abdu und mir, nichts zu tun. Das betrifft alle Fahrer. Das Problem gibt es in jeder Spedition.«

Sie glaubte ihm nicht, wusste aber, dass es sinnlos war, ihn jetzt und hier dazu zu befragen. Diese Quelle, an die seine Frau sie arglos führen wollte, durfte von seiner Seite aus anscheinend nicht preisgegeben werden. Warum nicht? Wovor hatte er Angst?

Sie stand auf, aber erst nachdem sie sich nochmals aus der Schale bedient hatte, und verabschiedete sich. Mit vollem Mund und zwei Miniflorentinern in der linken Hand.

Auf der Straße vor dem Haus fragte Eva Brunner: »Glauben Sie ihm?«

»Ja. Ich glaube, was er gesagt hat. Aber ich würde auch gerne erfahren, was er uns nicht gesagt, was er uns vorenthalten hat.«

»Die Sache mit den Anzeigen und Gutscheinen?«

»Ja. Aber darum kümmern wir uns ein anderes Mal. Für heute ist Feierabend. Am Donnerstag haben doch unsere Praktikanten und Anwärter ihren freien Tag. Oder hat sich das in der Zwischenzeit geändert?«

»Nein, das ist immer noch so.«

»Dann sehen wir uns also am Freitag wieder, Frau Brunner.«

»Ich kann auch gern morgen kommen. Mir macht das nichts aus. Im Gegenteil. Jetzt, wo die Ermittlungen so richtig angelaufen sind, brauchen Sie mich vielleicht?«

»Brauchen schon. Aber das geht nicht. Denn dafür müsste ich für Sie eine Sondergenehmigung beantragen. Und das ist der Aufwand nicht wert. Wenn Sie am Freitag da sind, ist mir schon viel geholfen.«

»Frau Steiner, kommt denn jetzt Herr Bartels wieder? Brauchen Sie mich nächste Woche noch oder nicht?« Zwei simple Fragen, betont lässig und teilnahmslos vorgebracht. Doch sie hörte hinter der Gleichgültigkeit den drängenden Wunsch heraus, auf beide Fragen die richtige Antwort zu bekommen. Sie gab sie ihr gern.

»So, wie es derzeit aussieht, kommt Herr Bartels nächste Woche noch nicht. Ich hatte seinen Zustand wohl zu positiv eingeschätzt. Und selbst wenn er käme, bräuchte ich Sie auch weiterhin. Wir, Sie und ich, ziehen diesen Fall jetzt gemeinsam durch. So lange müssen Sie es schon bei mir aushalten.«

Eva Brunner bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln. »Dann kann ich den Kollegen Bartels doch heute Abend mal im Krankenhaus besuchen. Im Krankenhaus ist es immer langweilig, ich denke, da freut sich jeder über Besuch. Man kommt auf andere Gedanken, die Zeit vergeht schneller. Oder soll ich das nicht machen?«

»Nein, nein. Machen Sie das ruhig. Das ist eine gute Idee.«

Bei der Vorstellung, wie Heinrichs »würdiger Ersatz« in wenigen Stunden an dessen Krankenbett sitzen und ihm von diesem »wahnsinnig interessanten, spannenden, aufregenden Mordfall« erzählen würde, musste sie grinsen. Was hieß hier gute Idee? Das war eine Jahrhundertidee! Besser und wirksamer als alles, was Frau Dr. Leipold oder ihr selbst hätte einfallen können.

Als sie in die Regensburger Straße einbogen, summte sie den Beatles-Song, der in den kleinen Glücksmomenten ihres Lebens immer herhalten musste – »From Me To You«.