8
Am nächsten Morgen wachte sie um kurz vor halb acht Uhr durch einen leichten Druck in der Magengegend auf. Sie schlug die Augen auf. Max stand über ihr, mit feuchtem Fell, und lachte sie an. Sie kraulte ihn hinter beiden Ohren.
»Paula, bleib liegen, das Frühstück kommt gleich. Ich muss nur noch die Eier abschrecken«, klang es verheißungsvoll aus der Küche.
Wenige Minuten später war ein opulentes Frühstück auf dem Couchtisch vor dem Sofa angerichtet. Mit Müslischale, dampfendem Kaffee, Milchkännchen, Butterbrot, Fünf-Minuten-Ei, Salz und einer Untertasse klein geschnittener Apfelschnitze. Sie ließ sich Zeit, das alles in der vorherbestimmten Reihenfolge zu verzehren. Satt und gut gelaunt verließ sie eine Stunde später den Schlieffenweg mit dem Versprechen, bald mal wieder auf einen so gemütlichen Abend vorbeizusehen.
Am Vestnertorgraben parkte sie den BMW und ging zu Fuß ohne Hast zum Jakobsplatz. Es war halb zehn, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete.
»Du bist aber heute spät dran«, sagte Heinrich statt einer Begrüßung.
»Ja, das ist richtig. Guten Morgen, Frau Brunner, guten Morgen, Heinrich«, entgegnete sie.
»Die ersten Ergebnisse von der Untersuchung des Crossfire sind schon da. Müdsam hat gerade angerufen. Shengali wurde tatsächlich in Freys Auto spazieren gefahren. Ob er darin auch gestorben ist, konnte Müdsam noch nicht mit Gewissheit sagen. Er meinte aber, das liege nahe. Aber dass Shengali wahnsinnig viel Blut verloren hat, darin ist er sich sicher. Und dass der Chrysler gereinigt wurde, und zwar nach allen Regeln der Kunst, darin ist er sich auch sicher. Diese Spezialreinigung hat der Täter allerdings vergebens machen lassen, denn aus dem Leder kriegst du Blut so nicht heraus. Das wäre auch noch nach Jahren erkennbar, sagt Müdsam. Den Untersuchungsbericht schickt er, sobald alles abgeschlossen ist. Oder brauchst du den schon vorher?«
»Nein, den brauchen wir vorerst nicht. Und sonst, wie schaut es beispielsweise mit Fingerabdrücken aus, hat Frieder dazu etwas gesagt?«
»Nein, darüber machen sich jetzt unsere Kriminaltechniker her.«
»Gut. Dann werden wir den bösen Onkel doch früher zu uns bitten müssen. Ach, Heinrich, du warst doch gestern mit Frau Brunner in Ansbach, hat das was Neues gebracht?«
»Nein, das hätte ich dir schon erzählt. Der hat wirklich ein klasse Alibi. Zumindest für die Tatzeit. Trotzdem lügt er.«
»Ja, das glaube ich auch. Und darum lassen wir ihn jetzt festnehmen. Frau Brunner, besorgen Sie uns einen Haftbefehl für Frey junior.«
In diesem Moment ging die Tür auf, und Sandra Reußinger, heute streng und keusch in weißer Maggie-Thatcher-Rüschen-Bluse und damenhaftem, schmalem schwarzem Wollrock, betrat das Zimmer. In der Hand trug sie einen der im Haus üblichen grauen Schnellhefter, den sie jetzt mit Schwung und offensichtlichem Vergnügen auf Paula Steiners Schreibtisch schleuderte.
»Da, diese Meldung haben wir soeben hereinbekommen. Kramer, Karsten, der gehört doch zu Ihrem Fall Shengali. Kümmern Sie sich drum.«
Schlagartig, mit dem Auftreten dieser Möchtegern-Gutsherrin, die Arbeit an ihre Untergebenen verteilt, hatte Paula Steiner all ihre gute Laune eingebüßt, sodass nicht einmal mehr ein kleiner Rest davon übrig war, der zu einer ironischen Replik ausgereicht hätte.
»Das sagt wer?«
»Das sage ich«, antwortete mit einem aufgesetzten Lächeln die Chefsekretärin und verließ das Zimmer.
Sie starrte auf den Schnellhefter, sah zu Heinrich, der mit den Achseln zuckte, dann zu Eva Brunner, die geschäftig in ihren Papieren kramte, packte das graue Kartonbündel und machte sich auf den Weg in die Teppichetage.
Im Polizeipräsidium war soeben, ohne dass es jemand wissen konnte, ein Sprengsatz gezündet worden. Die Lunte brannte bereits, und sie war so lang wie der Weg von Paula Steiners Büro zu Kriminaloberrat Fleischmanns Vorzimmer.
Dort blieb sie stehen und klopfte an die Tür. Geduldig wartete sie, bis das Herein erklang. Neben Sandra Reußinger standen Jörg Trommen und dessen willfährigster Mitarbeiter Winkler, das Trio infernale. Die zwei anderen Herren kannte sie nicht, wahrscheinlich Besuch für Fleischmann.
Sie grüßte freundlich in die Runde und sprach dann die denkwürdigen Worte, die hausintern bald zu einer stehenden Redewendung werden sollten: »Wenn Sie dereinst einmal Leitender Kriminaldirektor sind, Frau Reußinger, woran ich meine Zweifel habe, dann können Sie mir gern und jederzeit Arbeit geben. Wenn ich dann noch da bin. Vorerst geht das nicht. Denn vorerst haben Sie dafür den Arsch zu weit unten. Und zwar entschieden zu weit unten.«
Sie drückte der verdatterten Sekretärin, auf deren Gesicht sich eine flammende Röte kinnaufwärts ausbreitete, den Schnellhefter in die Hand, grüßte, drehte sich um und ging – noch immer ruhig und beherrscht – aus dem Zimmer.
Draußen atmete sie tief durch, kehrte in ihr Büro zurück und wartete. Sie musste nicht lange warten. Eine Viertelstunde später stand Fleischmann in ihrem Zimmer, den grauen Schnellhefter im Arm. Er lächelte sie an.
»Frau Brunner, Herr Bartels, wenn Sie so freundlich wären, uns mal eine halbe Stunde allein zu lassen, bitte? Ich habe mit Frau Steiner etwas Wichtiges zu bereden.«
Sie wollte widersprechen, aber da waren Heinrich und die Anwärterin der Bitte des Kriminaloberrats bereits nachgekommen und nach draußen geeilt.
Fleischmann setzte sich und schwieg. Sie sah ihn ernst an und überlegte. Sie würde sich eine Abmahnung nicht gefallen lassen, unter keinen Umständen. Aber was, wenn er ihr fristlos kündigte? Was würde dann aus ihr? Ein Fall für das Arbeitsamt, ein gefundenes Fressen für die Teamleiterin B. Entner. War sie zu weit gegangen? Nein. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Sie würde nichts davon zurücknehmen, kein einziges Wort. Sie würde sich auch nicht auf eine Pro-forma-Entschuldigung einlassen, sie nicht. Sie war im Recht. Oder? Wenn Fleischmann sie darum bat, vielleicht sollte sie dann besser nachgeben? Nein, auf keinen Fall. Ihr Entschluss stand fest.
»Ich muss mich für meine Sekretärin entschuldigen. Es tut mir sehr leid, dass Frau Reußinger sich Ihnen gegenüber so ungebührlich benommen hat. Derlei Kompetenzüberschreitungen sind sonst gar nicht ihre Art. Natürlich geht es nicht an, dass meine Sekretärin die Arbeit verteilt. Auch von meiner Seite aus gesehen ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Ich habe mit ihr bereits darüber gesprochen, und ich denke, sie hat eingesehen, dass sie zu weit gegangen ist. So etwas wird sich nicht wiederholen, das verspreche ich Ihnen. Nehmen Sie meine Entschuldigung an?«
»Das kann ich nicht, Herr Fleischmann. Sie tragen ja keine Schuld an dieser Sache. Entschuldigen kann sich immer nur der, der Schuld hat. Sonst hätte der Begriff des Entschuldigens, also des Freimachens von Schuld, ja keinen Sinn.«
»Ach«, rief der Kriminaloberrat aus, »natürlich, ich hatte jetzt doch tatsächlich vergessen, dass Sie eine Frau mit Grundsätzen sind.«
Sie nickte mit einem versuchsweisen Lächeln. »Genauso ist es. Aber ich könnte die Geschichte vergessen. Damit wäre Ihnen und übrigens auch mir geholfen. Oder sehen Sie das anders?«
»Gut, dann vergessen wir beide diese Angelegenheit. Vorerst. Nun zu etwas anderem: Dieser«, er sah in seine Unterlagen, »Karsten Kramer wurde heute Morgen, vor einer knappen Stunde, von seiner Sekretärin ermordet aufgefunden. Da Sie mit ihm schon im Fall Shengali zu tun hatten, übergebe ich Ihnen auch diesen Fall. Oder sind Sie mit Ihrer zweieinhalb Mann starken Kommission damit überfordert? Soll ich Ihnen noch jemanden aus Perras’ Sachbereich dazugeben?«
»Nein«, antwortete sie schnell, »das braucht es nicht.«
Er legte den Schnellhefter behutsam auf ihren Schreibtisch. »Gut, dann kümmern Sie sich jetzt vorrangig um diesen Kramer. Und wenn Sie irgendwann einmal eine ruhige Minute haben, möchte ich einen Bericht über den aktuellen Ermittlungsstand. Mündlich oder schriftlich, was Ihnen lieber ist. Wobei … Nein, ich brauche einen schriftlichen Bericht. Einen von jener Sorte, den man auch an höchster Stelle vorzeigen kann. Darin dürfen Sie dann auch gern dieses Wischiwaschi von der Montagskonferenz wiederholen, das wäre in meinem Sinne. Sie wissen schon, Analyse der komplexen Motivstruktur, die zahlreichen Zeugenbefragungen, die interessanten neuen Aspekte und so weiter und so fort.«
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Sie haben Ihre Position Frau Reußinger gegenüber mit sehr harten unmissverständlichen Worten geklärt. Ich an Ihrer Stelle hätte mich vielleicht ein wenig dezenter ausgedrückt. Aber jetzt im Nachhinein denke ich, Ihre Version war die nachhaltigere und damit auch bessere. Zumal in dieser besonderen Konstellation. Zumindest Frau Reußinger hat schon mal eingesehen, dass sie falsch gehandelt hat. Und ich bin guter Hoffnung, das auch Kommissionsleiter Trommen aus Ihrem Auftritt eine wichtige Lehre gezogen hat.«
Also waren die »Bestrebungen« noch im Gang, mit offenem Ende. Sie stand auf, um nach Heinrich und Frau Brunner zu suchen. Sie fand beide in der Teeküche.
»Und, was ist?«, fragte Heinrich.
»Es ist, dass ich von unserem Chef einen neuen Fall übertragen bekommen habe. Den ich auch angenommen habe, weil er zu unserem anderen Fall passt. Dieser Kramer ist in seinem Büro ermordet worden. Ich fahre jetzt dahin. Mit dir, Heinrich. Und Sie, Frau Brunner, werden sich um die Verhaftung von Frey kümmern.«
»Allein?«
»Nein, natürlich nicht. Nehmen Sie zwei Kollegen von der Schutzpolizei mit. Meinetwegen auch vier. Je mehr Uniformierte und Einsatzwagen da auf dem Hof rumstehen, desto besser.«
»Und wenn er nicht da ist?«
»Dann warten Sie auf ihn. Die von der Spedition sollen ihn anrufen, dass er umgehend in der Donaustraße zu erscheinen hat. Ansonsten schreiben Sie ihn zur Fahndung aus. So, auf geht’s.«
Auf der Fahrt fragte Heinrich sie: »Und was hat Fleischmann zum Fall Reußinger gesagt?«
»Er hat sich bei mir entschuldigt. Für sie.«
»Das ist doch gut. Dann kannst du doch zufrieden sein.«
»Könnte ich. Bin ich aber nicht. Weil das nur eine kleine, unbedeutende Schlacht war, die wir gewonnen haben. Bei der großen Schlacht, den sogenannten ›Bestrebungen‹, du weißt schon, ist alles noch offen.«
Als sie den Lift zur Agentur hinauffuhren, sagte Heinrich: »Ich bin überzeugt, die beiden Fälle Shengali und Kramer haben miteinander zu tun. Und trotzdem kann ich mir im Moment nicht vorstellen, wie.«
»Mir geht es genauso, Heinrich. Aber das werden wir bald herausfinden. Beziehungsweise das müssen wir, damit wir auch unsere große Schlacht erfolgreich schlagen können.«
Oben an der Tür stand ein großer Polizist, der sie sofort in den Vorraum einließ. In einem der beiden Besuchersessel saß Frau Bernreuther, verstört und stumm. Die Assistentin schien sie nicht zu erkennen. Sie reichte ihr die Hand, die unberührt blieb.
»Frau Bernreuther, geht es Ihnen so weit einigermaßen oder fühlen Sie sich schlecht?« Keine Reaktion.
»Ist der Notarzt noch da?«, fragte sie Klaus Dennerlein, der soeben aus Kramers Büro trat. Dennerlein schüttelte den Kopf.
»Irgendjemand muss sich um Frau Bernreuther kümmern. Ich fürchte, die kippt uns gleich um.«
»Das soll der Grath machen, der wartet eh auf dich.« Dennerlein rief in das Büro: »Herr Dr. Grath, kommen Sie mal bitte. Sie werden hier gebraucht.«
»Müdsam ist heute wohl nicht da?«, fragte sie leise.
»Nein, leider«, entgegnete der Kriminaltechniker im Flüsterton, »der hat seinen freien Tag.«
Auch sie bedauerte das. Grath fehlte es als stellvertretendem Leiter der Rechtsmedizin an Anerkennung und vor allem an Selbstbewusstsein. Beides glich er durch eine manchmal schon widerwärtige Arroganz aus. Er nutzte seine Anwesenheit am Tatort gern, um sein Wissen den anderen Einsatzkräften in einem unverständlichen Fachchinesisch unter die Nase zu reiben. Das heißt: Er liebte es, sich verklausuliert und weitschweifig auszudrücken. Seine Einschätzungen waren genau wie seine Berichte mehr hinderlich als hilfreich. Sie würde ihn bitten, ihr den Bericht möglichst bald schriftlich zukommen zu lassen – und diesen dann von Frieder in verständliches Deutsch übersetzen lassen.
Als der Gerichtsmediziner an ihr vorbeieilte, nickte sie ihm kurz zu. Dann endlich folgte sie Heinrich, der bereits vorausgegangen war.
Noch immer schimmerten die alten Möbel in diesem sanften Rotbraun, auch hatten die Wände von ihrem vornehmen Taubenblau seit Montag nichts eingebüßt – und doch war von der besänftigenden Wirkung dieser kalkulierten Farbkomposition nichts mehr zu spüren. Kramers Büro bot jetzt ein ganz anderes Bild als das eines Chefzimmers in der Blütezeit des britischen Kolonialismus. Hier hatten in der Zwischenzeit aufständische Rebellen gewütet, ein Heer von Antikolonialisten. Regale und Stühle waren umgeworfen, Schubladen, Papiere und Aktenordner lagen kreuz und quer auf dem Parkettboden, der schwere Messing-Ventilator lag schief auf dem Schreibtisch und begrub den weinroten, verbeulten Laptop unter sich. Ein Ort der Verwüstung und der Raserei, hinter der sie den grenzenlosen Zorn des Täters erkannte.
Und vor dem Schreibtisch, auf dem Chefsessel, der ehemalige Leiter der Agentur Karsten Kramer, nach hinten gereckt, mit grausig verzerrten Gesichtszügen, halb geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen. Augen so unterkühlt und von einem zarten Weiß-Blau wie der Grund eines finnischen Sees in einer bitterkalten Polarnacht. Eine blonde Strähne hing ihm über die schmale Nase bis auf das Kinn hinab. Paula widerstand der Versuchung, sie ihm aus dem Gesicht, nach hinten zu pusten. Sie beugte sich über ihn und sah die Würgemale an seinem Hals.
»Frau Bernreuther hat sich wieder beruhigt. Ich soll Sie fragen, ob sie Tee für alle aufsetzen soll.« Sie hatte Dr. Grath nicht kommen hören, der nun neben ihr stand.
»Also für mich nicht.«
»Für sie wäre es besser, sie hätte dann eine Beschäftigung. Das lenkt ab.«
»Ja, dann eben meinetwegen. Wenn Sie das für sinnvoll erachten …«
Grath gab einem herumstehenden Polizisten, der mitgehört hatte, ein Zeichen. »Sie werden es schon selbst gesehen haben, Frau Steiner«, sagte er dann, »der Mann ist erwürgt worden. Seine hervorstehenden Augen, die Würgemale am Hals, die Zyanose, also die bläuliche Verfärbung der Lippen, das aufgedunsene Gesicht mit den hyperämischen Partien, das sind die typischen postmortalen Anzeichen für diese Todesart. Sonst kann ich nicht viel sagen im Moment, dazu ist eine Obduktion erforderlich. Als Todeszeitpunkt würde ich auf gestern Abend zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr tippen. Aber wenn ich Sie noch auf ein Detail, vielleicht ein entscheidendes, aufmerksam machen darf: Der Ermordete hat sich gewehrt. Nicht mit Händen und Füßen. Mit dem Mund. Er muss den Täter gebissen haben. Hier«, Dr. Grath deutete mit der weiß behandschuhten rechten Hand auf Kramers Unterkiefer, »sehen Sie dieses Hautstück?« Dann schwieg er.
Nanu, heute kein Fachvortrag in verklausulierter medizinischer Terminologie, sondern eine einfache, auch für Laien sofort verständliche und kurze Diagnose. Und das alles in einem geradezu freundlichen, fast schon entgegenkommenden Ton. Sie registrierte, wie Heinrich, der Fotograf und auch Klaus Dennerlein in ihrer Arbeit innehielten. So als ob sie darauf warteten, dass das Unvermeidliche doch noch folgen würde. Es folgte aber nicht.
Sie ahnte den Grund für Graths Sinneswandel. Er war sicher in Trommens Antrag zu suchen, die Nürnberger Gerichtsmedizin künftig außen vor zu lassen. So hatte das »Quadratarschloch« doch noch etwas Hilfreiches bewirkt. Über Umwege zwar und ohne dass er das wollen konnte, aber auch hier zählte nur das Ergebnis. Und das war eindeutig positiv.
»Nein«, antwortete sie, »leider nicht, Dr. Grath. Ich sehe keinen Hautfetzen. Aber vielleicht muss man dafür das scharfe Auge eines Pathologen haben, das mir als einfacher Polizistin fehlt.« Diese Schmeichelei war ihre Art, sich bei dem Mediziner für sein heutiges zurückhaltendes Auftreten zu bedanken.
Grath hielt ihr eine Lupe hin. »Bitte. Vom rechten Eckzahn hängt ein fast weißes Fitzelchen herab. Das ist kein Speiserest, das ist ein Stück Haut.«
Jetzt sah sie es auch. »Und von welchem Körperteil könnte das stammen, was meinen Sie?«
»Ich möchte mich hier und jetzt nicht gern festlegen …«
»Das verstehe ich. Aber Sie kennen ja meine Ungeduld, Herr Dr. Grath.« Sie lächelte ihn an. »Nur eine Vermutung Ihrerseits. Ich vergesse sie auch gleich wieder.«
Verschwörerisch beugte er sich zu ihr herab und flüsterte ihr zu: »Ich denke, dieses Hautstück stammt vom Arm oder aus dem Gesicht des Täters, vielleicht das Ohrläppchen. Das Opfer hat sich gewehrt, und bei dieser Todesart, würde ich sagen, liegen diese drei Partien nahe. Doch, wie gesagt, das sind nur Vermutungen.«
Sie lächelte ihn wieder an. »Ach, Sie haben jetzt was gesagt. Ich habe leider gar nichts verstanden, akustisch verstanden, meine ich.«
Sie kannte Grath nun seit zwanzig Jahren. Doch heute zeigte er ihr zum ersten Mal ein Mienenspiel, das er, nicht nur vor ihr, all diese zwanzig Jahre geheim gehalten hatte: ein Lächeln – oder besser: die Andeutung eines Lächelns. Es veränderte den steifen, arroganten Klugscheißer schlagartig. Hinter diesem feinen Schmunzeln trat ein freundlicher, intelligenter, ja, fast schon liebenswerter Mann zutage. Er sollte öfter lächeln. Es würde seinem Ego guttun. Und seiner Umwelt auch.
»Würde denn dieses Hautfitzelchen ausreichen, um …« Sie hatte zwar schon seltenlange Berichte über DNS-Vergleiche mehr überflogen als gelesen, die als Beweismittel dienten. Aber sie verstand weder, wie das alles vor sich ging, noch interessierte sie diese Art der Beweisführung. Sie wusste, es funktionierte, und man konnte damit Personen eindeutig identifizieren. Für alles Übrige gab es die Rechtsmediziner.
»Ja«, bestätigte Grath, »wenn Sie mir einen Verdächtigen bringen, kann ich ihn diesem Stück Haut eindeutig zuordnen oder ihn ausschließen.«
»Eine Bitte habe ich noch. Was steckt in seiner rechten Hosentasche? Könnten Sie das für mich herausziehen?«
Wortlos griff Grath in Kramers leicht gebeulte Tasche und zog einen Geldbeutel, er schien aus echtem Krokoleder zu sein, vorsichtig an einer Ecke heraus. Dann noch einen Schlüssel mit einem großen Anhänger aus massivem Silber, der ein modernes Kreuz darstellte.
»Braucht ihr den?«, fragte sie Klaus, der sich zu ihnen gesellt hatte. Er nickte, steckte beide Fundstücke in einen Plastikbeutel und verstaute ihn in seinem Metallkoffer.
»Darf ich den Anhänger noch mal sehen?«
Bereitwillig öffnete Dennerlein seinen Metallkoffer und hielt ihr die Plastiktasche hin.
»Das ist doch ein Kruzifix«, murmelte sie, »ein christliches Symbol.« Dennerlein sah sie fragend an.
»Heinrich, schau mal, was wir hier haben. Gibt dir das zu denken?«
Bartels stieß einen leisen Pfiff aus. »Ja, hallo! Das ist doch schon mal besser als gar nichts.«
Sie teilte seine Meinung: Dieser Schlüsselanhänger war zumindest eine Möglichkeit, zwar nur eine winzig kleine, aber da sich die Taube auf dem Dach ihr nach wie vor nicht zeigte, musste sie eben mit diesem unscheinbaren Spatz in der Hand des Kriminaltechnikers vorliebnehmen. Das Kruzifix konnte nichts zu bedeuten haben. Oder alles Mögliche. Sie gab Dennerlein, der noch wartend vor ihr stand, das Fundstück zurück.
»Klaus, ich habe eine Bitte an dich. Seid ihr schon mit den Fingerabdrücken im Crossfire durch?«
Dennerlein schüttelte den Kopf. »Noch nicht ganz. Außerdem kam der Wagen ja frisch aus der Reinigung, ich glaube nicht, dass da viel zu holen ist.«
»Trotzdem. Bitte ganz genau durchchecken, vielleicht ist ja da doch was. Und wenn du etwas gefunden hast, bitte sofort Nachricht an mich. Wenn du das jetzt vorrangig behandeln könntest, würdest du mir und auch Heinrich einen großen Gefallen erweisen.«
Heinrich wiederholte ihre letzten Worte. »Einen sehr großen Gefallen. Wir brauchen so was momentan.«
Dennerlein nickte. »Natürlich mach ich das, wenn euch das so wichtig ist.«
Sie drehte sich zu Heinrich. »Ich denke, damit ist unsere Anwesenheit hier erledigt. Wir fahren jetzt zu Kramers Wohnung und schauen uns die mal in Ruhe an.«
Bevor sie gingen, flüsterte sie Grath noch zu: »Danke, Herr Doktor. Für alles. Und ich wäre Ihnen zu weiterem Dank verpflichtet, was in diesem Fall keine Plattitüde ist, wenn ich Ihren Bericht bald hätte. Unsere kleine Kommission hat nämlich derzeit ein wenig unter dem Geltungsdrang eines gewissen Kollegen zu leiden, dessen Name fast wie ein Musikinstrument klingt. Dieser Kollege macht bestimmt nicht vor unserer Bürotür halt. Der hat Ambitionen, die unter Umständen sogar bis in die Tetzelgasse reichen könnten.«
Als Antwort erhielt sie wieder diese mimische Rarität. Wenn er fleißig übt, wird sogar irgendwann ein ganz passabler Mensch aus ihm, dachte sie.
»Wegen mir können wir gehen«, sagte sie zu Heinrich, der die auf dem Boden verstreuten Papiere und Ordner musterte.
»Wegen mir auch. Um die Telefonliste kümmere ich mich, wenn wir wieder im Präsidium sind. Handy hat er keines gehabt, sagt seine Sekretärin. Glaubst du das? Ein privater Arbeitsvermittler muss doch immer erreichbar sein. Ich kann mir das nicht vorstellen.«
»Ich schon. Es würde zu ihm und zu all dem hier passen. Der hat sein Heil mehr in der Vergangenheit gesucht, in der guten alten Zeit.«
»Und der Laptop? Wie passt der in die gute alte Zeit?«
»Das war ein notwendiges Zugeständnis an die Gegenwart und an seinen Beruf. Hast du schon mit der Bernreuther gesprochen?«
»Ja, kurz. Sie war gestern nur am Vormittag da. Um halb eins ist sie gegangen. Ihr Chef hatte sie in der Früh angerufen und ihr das nahegelegt, sagte sie. Er brauche sie heute nicht mehr, Kunden erwarte er auch nicht, sie solle den Nachmittag freinehmen. Für sie hatte das ein wenig so geklungen, als wolle er selbst freinehmen, die Agentur nachmittags schließen.«
»Hast du auch nach der Terminverwaltung gefragt?«
»Hab ich. Die ist da«, Heinrich deutete auf den arg lädierten Laptop unter dem Messingventilator, »drin. Und auf dem Computer der Bernreuther. Wobei ich nicht glaube, dass uns das groß weiterbringt.«
»Anschauen werden wir sie uns. So, und jetzt fahren wir zu Kramers Wohnung.«
Kramer wohnte in der Schmausenbuckstraße, mitten im betulichen Vorstadtviertel Mögeldorf im Südosten Nürnbergs. Hier war vorzugsweise das mittlere Management daheim, das in punkto Privatanschrift viel auf sich hielt, sich aber die wirklich hippen, da alteingesessenen Adressen wie Erlenstegen oder Ebensee noch nicht leisten konnte. Hier entspannten Besserverdiener von des Tages Müh, mit ihren schmucken Frauen, in schmucken Häusern mit viel Grün und den angesagten Automarken drum herum. Alles war neu, sauber, aufgeräumt. Und teuer.
»Sag mal, Heinrich, weißt du«, fragte sie ihren Kollegen, als sie die Ostendstraße entlangfuhren, »ob der Kramer Familie hatte?«
»Die Bernreuther hat nichts von einer Ehefrau oder Kindern erzählt.«
»Du hast nicht danach gefragt.«
»Nein. Ich habe vergessen, danach zu fragen.«
»Macht nichts.«
Sie genoss diese Fahrt und vor allem Heinrichs Anwesenheit. Es war wieder wie immer, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. So ganz recht hatte Paul doch nicht. Arbeit konnte mehr sein, als nur den Tag irgendwie rumzubringen. Die soziale Komponente, dachte die ehemalige Soziologiestudentin, ist entscheidend. Wenn die Kollegen erträglich oder mehr noch: umgänglich und einem wohlgesonnen waren, dann konnte Arbeit sogar Vergnügen machen.
»Mensch«, Heinrich schlug verärgert aufs Lenkrad, »jetzt habe ich noch was vergessen, und zwar die Kollegen und unseren Schlüsseldienst in die Schmausenbuckstraße einzubestellen.«
»Vielleicht ist das gar nicht erforderlich. Vielleicht gibt es ja doch eine Ehefrau beziehungsweise eine Freundin. Oder einen Hauswart, der uns die Tür aufschließen kann. Die können wir immer noch hinbestellen. Das ist doch nicht tragisch, Herr Alzheimer.«
Sie hatten Kramers Adresse erreicht. Die riesige alte, dreigeschossige Villa lag tief in einem Garten versteckt. Er war gut gepflegt, wirkte aber langweilig. Hier und da ein paar Laubbäume, gestutzte Hecken, ansonsten nur Rasen. Neben der schweren handgeschmiedeten Gartenpforte mit den Lilienspitzen ein modernes Klingelschild mit drei Namen. Demnach lag Kramers Wohnung in der Beletage. Sie klingelte. Sofort schnappte die Tür auf. An der Haustür das zweite Klingelschild mit Gegensprechanlage. Auch hier sprang die Tür beim ersten Läuten auf. Eine breite Holztreppe führte sie in den ersten Stock.
Oben erwartete sie eine große, überschlanke Frau Anfang oder Mitte dreißig. Sie trug eine hellgrüne Seidenbluse und einen auberginefarbenen langen Rock, der über ihre ebenfalls aus auberginefarbenem handschuhweichen Leder gefertigten Stiefel fiel. Sie hatte fast taillenlanges schwarzes Haar, ein klassisch geschnittenes Gesicht und grüne Augen, die sich beim Anblick der beiden Kommissare überrascht weiteten. Sie hatte jemand anderes erwartet.
»Ja, bitte«, sagte sie völlig ausdruckslos, »was möchten Sie?«
Sie zeigte der kühlen, gepflegten Schönheit mit dem makellosen Make-up und dem starken tschechischen Akzent ihren Ausweis, den diese mit dem Satz kommentierte: »Herr Kramer ist nicht da.«
»Ja, das wissen wir. Das ist im Übrigen mein Kollege, Herr Bartels. Und Sie sind?«
»Die Freundin von Herrn Kramer.«
»Die doch bestimmt auch einen Namen hat. Oder?«
»Ich heiße Susanka Blahotova.« Noch immer machte die Frau keine Anstalten, sie in die Wohnung zu bitten.
»Dürfen wir hereinkommen?«
»Karsten möchte das nicht, dass Fremde in seine Wohnung kommen.«
Jetzt erst bemerkte sie den hellgrünen Lidstrich, der perfekt zu dem Farbton der Seidenbluse passte. Diese Frau war ein Gesamtkunstwerk, und dieses Kunstwerk musste jeden Tag aufs Neue erschaffen werden. Sie fand das bewundernswert und auch ein wenig befremdend, wie jemand so etwas fertigbrachte. Noch befremdender allerdings fand sie es, wenn sich dieser Jemand die Mühe freiwillig zu machen schien.
»Herr Kramer ist letzte Nacht ermordet worden. Es spielt also keine Rolle mehr, was Herr Kramer möchte oder nicht möchte.«
Da war es für einen Moment um die Contenance dieser lebensgroßen Barbiepuppe geschehen. Susanka Blahotova murmelte etwas auf Tschechisch, richtete sich dann aber schnell wieder zu ihrer vollen beeindruckenden Größe auf und sagte: »Das glaube ich nicht. Gestern war er noch da.«
Langsam ging ihr die Geduld aus. »Und heute ist er tot. So, Frau Blahotova, jetzt zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis oder Pass, und dann werden wir die Wohnung Ihres Freundes durchsuchen. Wenn Sie uns nicht stören, das heißt im Weg rumstehen, dürfen Sie gerne dableiben und dabei sein.«
Frau Blahotova überlegte. Paula Steiner sah ihr dabei zu. Verfolgte, wie das Gesamtkunstwerk so angestrengt nachdachte, dass dessen hübscher Kopf in Mitleidenschaft gezogen wurde: Sollte sie sich dieser kleinen und nachlässig gekleideten Polizistin fügen, oder sollte sie auf ihrem Hausrecht bestehen? Da ihr Kramer solche diffizilen Entscheidungen bislang offenbar abgenommen hatte und sie demzufolge überfordert war, wählte sie den einfachen Weg. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ die Polizisten eintreten.
»Bitte, kommen Sie herein. Ich werde nicht stören. Ich hole meinen Pass.«
Würdevoll und gemessenen Schrittes ging Susanka Blahotova voran. Nach kaum drei Metern blieb sie vor einem stabilen gläsernen Beistelltisch mit einem kleinen Ruck stehen, hob langsam die darauf mittig abgestellte auberginefarbene Handtasche hoch, öffnete den Reißverschluss in Zeitlupentempo, entnahm der Tasche ohne Hast einen Pass und reichte ihn Paula Steiner schließlich. Mit amtlichem Blick blätterte sie darin und fand schnell, was sie einzig und allein an diesem Reisepass interessierte: das Alter von Kramers Freundin. Sie war erst sechsundzwanzig Jahre alt.
Sie gab das Dokument mit ernster Miene an seine Eigentümerin zurück und sagte: »Bevor wir die Wohnung durchsuchen, hätte ich noch ein paar Fragen an Sie. Wo können wir uns setzen?«
Wortlos deutete Frau Blahotova auf die gegenüberliegende offene Tür. Sie betrat als Erste die große Halle, die noch größer wirkte, weil sie kaum möbliert war. Ein langes, modernes weißes Sofa, davor ein größerer Bruder des Dielentischchens, links und rechts zwei Designersessel, ebenfalls in Weiß, gegenüber an der weißen Wand ein riesiger Flachbildschirm, darunter wieder ein hoher Glastisch, auf dem ein natürlich weißer Plattenspieler in Klavierlack thronte. Rechts ein in die Wand eingelassener offener, leerer Kamin aus Stein, daneben ein schweres und unbenutzt wirkendes Kaminbesteck. Kein Bücherregal, kein Teppich auf dem weiß gekalkten Eichenparkett, kein Esstisch, keine Pflanze, kein Bild, nicht ein Gegenstand, der Persönlichkeit verbreitete oder auch nur andeutete, dass dieser Raum ab und an bewohnt wurde. Was sollten sie hier durchsuchen?
Sie setzte sich auf einen der Freischwinger, ihre Gastgeberin strich den Rock hinten glatt, bevor sie auf dem Sofa mit kerzengerader Haltung Platz nahm.
»Also, wie bereits gesagt, Herr Kramer wurde gestern Abend ermordet. In seinem Büro. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Sie holte ihren Notizblock aus ihrer Handtasche und kramte nach einem Stift, so als ob sie sich Notizen machen wollte. Frau Blahotova wartete, bis ihre Suche den gewünschten Erfolg zeigte. Nachdem sie das einzige Schreibutensil, das ihre Tasche momentan zu bieten hatte, einen stumpfen Bleistiftstummel, herausgezogen hatte, antwortete die Tschechin: »Gestern um achtzehn Uhr.«
»Wie lange war er hier?«
»Den ganzen Nachmittag. Doch dann erhielt er einen Anruf von einem Bekannten, der ihn um Hilfe bat. Karsten musste noch einmal in die Firma. Er wollte gegen neun wieder da sein.«
»Aber er war um einundzwanzig Uhr nicht wieder da.«
»Nein.«
»Haben Sie sich da keine Sorgen gemacht? Ihm hätte doch etwas passiert sein können.«
»Doch, schon, natürlich habe ich mir Sorgen gemacht. Aber keine großen.«
»Dann ist es also öfter vorgekommen, dass Herr Kramer über Nacht ausblieb.«
»Nicht öfters, manchmal, selten. Immer wenn er arbeiten musste. Er schläft dann im Büro.«
»Haben Sie im Büro, nachdem Herr Kramer die Wohnung gestern verlassen hatte, angerufen?«
»Nein. Karsten wollte das nicht, dass ich in seinem Büro anrufe. Wenn er arbeitet, arbeitet er, sagte er, da wollte er von niemandem gestört werden.« Ihr Tonfall enthüllte, wie ungehörig, geradezu aufdringlich ein solches Benehmen auch in ihren Augen gewesen wäre.
»Arbeiten Sie auch, Frau Blahotova?«
»Ja, natürlich, ich bin Hausfrau. Ich halte Karstens Wohnung sauber.«
»Und darüber hinaus, haben Sie einen Beruf erlernt, mit dem sich Geld verdienen lässt?«
»Ja, ich habe einen Beruf. Aber ich muss kein Geld verdienen.«
Diese Antwort konnte alles und nichts bedeuten. Und obwohl Paula Steiner wusste, dass auch ihre nächste Frage keinen Erfolg haben würde, stellte sie sie. Nein, antwortete die Tschechin erwartungsgemäß, sie glaube nicht, dass ihr Freund Feinde hatte. Und nochmals nein, sie wisse nichts von Leuten, mit denen Karsten Streit hatte.
»Wo waren Sie gestern zwischen sieben und zehn Uhr abends?«
»Hier, in der Wohnung. Ich habe auf Karsten gewartet.«
»Allein, vermute ich.«
»Ja, ich war allein.«
Sie unterdrückte den Impuls zu fragen, was sie in dieser Wohnung mit ihrer kargen Einrichtung, die nur den notwendigsten Bedürfnissen Rechnung trug, denn die ganze Zeit gemacht, womit Susanka Blahotova sich den Abend über beschäftigt habe. Stattdessen musterte sie die Tschechin aufmerksam. Nein, das Hautfitzelchen des Dr. Grath stammte, soweit sie es sehen konnte, nicht von der Sechsundzwanzigjährigen.
»Wohnte Herr Kramer hier zur Miete oder gehörte ihm die Wohnung?«
»Die Wohnung gehört ihm.«
»Jetzt erinnern Sie sich bitte an den Montag vor zehn Tagen. Wo war Herr Kramer an diesem Tag? Tagsüber wie üblich in seinem Büro und abends daheim? Oder war an diesem Tag etwas anders, ist er zum Beispiel früher oder später als sonst aus dem Haus gegangen?«
»Warum möchten Sie das wissen?«, lautete die schnelle und erstaunte Gegenfrage.
»Weil ich es eben wissen will«, antwortete sie mit einem angestrengten Lächeln.
»Am Montag vor einer Woche«, murmelte Susanka Blahotova. Nach langem Schweigen hellte sich ihre Miene erinnernd auf. »Karsten hatte am Abend eine wichtige Besprechung mit einem Kunden. Da war er nicht daheim.«
»Wann war er denn wieder hier?«
»Kurz nach Mitternacht.«
»Gut. Dann würden wir jetzt gern die übrigen Räume sehen.«
Der Rundgang begann in der Küche. Auch hier dominierte die Farbe Weiß, war aber nicht so ganz und gar allein auf sich gestellt wie im Wohnzimmer, sondern erhielt Gesellschaft von einem glänzenden Silbergrau. Der Herd, die Spüle, die offenen Regale, der Kühlschrank – alles aus blinkendem Edelstahl. Paula fühlte sich an Frieders großen Obduktionssaal erinnert.
Sie stellte sich gedanklich auf die nächste Station, das Schlafzimmer Kramers, ein: sicher ein weißes Doppelbett mit weißer Leinenbettwäsche, links und rechts ein Beistelltischchen aus Glas, schwere weiße Gardinen und ein riesiger weißer Einbaukleiderschrank. Ein weiterer aseptischer Raum, genauso unpersönlich wie das Wohnzimmer und die Küche.
Sie sollte in allem recht behalten. Bis auf eine Kleinigkeit. An einer Wand hing eine gläserne Konsole. Darauf stand als einziger Raumschmuck ein volkstümlicher kleiner Altar, aus Holz geschnitzt und sicherlich mehrere hundert Jahre alt. Die wurmstichige und fast farblose, verblichene Antiquität stammte, vermutete sie, aus einer ehemaligen Hauskapelle. Oder aus einer Wegkapelle, wie man sie früher am Straßenrand vielfach fand, vor allem in den katholischen Teilen Bayerns. Sie kannte sich bei Antiquitäten nicht aus, vermutete aber, dass es sich bei dieser Kreuzigungsgruppe um eine kleine Kostbarkeit handelte. Um eine risikofreie Wertanlage. Hier auf dieser massiven Glaskonsole hatte Kramer den Gegenwert eines Kleinwagens, neu, nicht gebraucht, deponiert. Aus dem Sockel waren drei Figuren mit faltenreichen Gewändern herausgeschnitzt, zwei weibliche und eine männliche. Sie hielten die zum Gebet zusammengelegten Hände in Demut zu einer Christusfigur, die an einem Kreuz hing, empor. Sie starrte auf die betenden Hände.
»Schön, nicht wahr?«, sagte Susanka Blahotova.
»Ja, sehr schön. Wissen Sie, wen diese Figuren darstellen sollen?«
»Das links ist die heilige Maria, in der Mitte Magdalena und rechts Johannes.«
»War Herr Kramer denn katholisch?«
»Ich glaube schon. Er sagte, er möchte das Schlafzimmer mit unserem Heiland«, Frau Blahotova zögerte einen Moment, bevor sie den Satz zu Ende führte, »aufpeppen.« Die Art und Weise, wie sie das letzte Wort aussprach, machte klar, dass sie das Motiv von Kramers Raumgestaltung für höchst zweifelhaft, ja, im Grunde für obszön hielt.
»Und Sie, sind Sie katholisch?«
»Natürlich. In meiner Familie sind alle katholisch.«
Paula Steiner verzichtete auf eine weitere Fortsetzung der Besichtigung. Sie hatte genug gesehen. Genug von der genormten, banalen, sterilen Eigentumswohnung dieses skrupellosen Spekulanten, der in allem ein Geschäft witterte – sogar im Leiden Christi. Der religiöse Volkskunst als Kosmetikum für sein Schlafzimmer missbrauchte. Ja, das war widerlich und obszön, stimmte die im lutherischen Glauben erzogene Paula Steiner der katholischen Tschechin stumm und empört zu. Doch da die Kommissarin schon von Berufs wegen regelmäßig mit den Schwächen der menschlichen Natur konfrontiert wurde, dauerte dieser Moment der moralischen Entrüstung nur kurz. Aber in seiner Flüchtigkeit doch lange genug, um dem kleinen Hausaltar mit den drei betenden Figuren noch ein paar Gedanken zu widmen.
Wer einem gekreuzigten Christus die Rolle des Aufpeppers für ein gespenstisches Schlafzimmer zuwies, brauchte nicht nur ein berechnendes Wesen und eine große Portion Selbstgefälligkeit, sondern vor allem ein eiskaltes Herz. War das nicht genau die Mischung, um einen gläubigen Moslem, der sich nicht mehr wehren konnte, mit dem christlichen Symbol des Trauerns ein letztes Mal zum Narren zu halten? Waren Kalkül, das Selbstverständnis als Kunstkenner und das Fehlen jedes Mitgefühls nicht die Grundvoraussetzungen für jenes falsche und böse Spiel, das der Mörder mit dem Leichnam vor dem Wasserwerk getrieben hatte? Sprach nicht aus der arrangierten Gestik der betenden Hände dieselbe anmaßende Häme wie aus dem Hausaltar in seiner Aufpepper-Funktion? Oder waren das nur Wunschgedanken einer Kommissarin, die bislang lediglich den Schatten eines winzigen Spätzchens gesehen hatte, von einer fetten, greifbaren Taube auf dem Dach ganz zu schweigen?
An der Wohnungstür drehte sie sich noch einmal um und überreichte Kramers Freundin ihre letzte, leicht angeschmutzte Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an, Frau Blahotova. Was werden Sie jetzt machen? Werden Sie in Nürnberg bleiben?«
Die Tschechin sah sie entsetzt an, als sei sie eine Hausiererin, die ihr gerade fleischfarbene Unterwäsche aus hundert Prozent Synthetik andrehen wollte. »Nein, natürlich nicht. Ich werde nach Hause zurückfahren. Nach Prag. In meine Heimat.«
Als sie in den Wagen einstiegen, machte der bislang schweigsame Heinrich seiner Bewunderung Luft. »Mensch, hatte der Kramer ein Glück! Erst die fette Wohnung. Dann der Audi. Und noch so eine Super-Traumfrau dazu! Ich glaube, ich werde jetzt auch privater Arbeitsvermittler.«
»Du willst mir doch nicht ernsthaft sagen wollen, dass dich dieses langweilige Barbiepüppchen mit seinen roboterhaften Bewegungen und seinem sehr beschränkten Horizont irgendwie reizen könnte? Das kann ich mir nicht vorstellen. Was willst du denn mit der machen, Abend für Abend, Jahr für Jahr? Dich über dein Burn-out-Syndrom unterhalten oder eine gepflegte kunsthistorische Konversation über Dürers Mittlerrolle zwischen Spätgotik und Frührenaissance führen?«
»Natierlich nicht«, ahmte Heinrich den slawischen Akzent seiner Traumfrau nach, »ich mechte mit ihr gern machen, was man mit Barbiepuppen eben so macht – ich mechte mit ihr spielen. Abend für Abend, Jahr für Jahr.« Er lachte sie verschmitzt an.
Da musste auch sie lächeln. »No«, sagte sie, »da muss der kleine Ken aber erst noch viel Geld verdienen, damit das Püppchen umgekehrt auch mit ihm spielen mechte.«
Dann herrschte Schweigen im BMW. Sie dachte über das Gespräch mit Susanka Blahotova nach, das sie jetzt im Nachhinein seltsam berührte. Eine junge Frau, die ihr Leben ganz auf einen einzigen Menschen ausgerichtet hatte. Eine überaus attraktive Person, die die Tage damit verbrachte, sich und Kramers Wohnung zu pflegen. Und die Nächte damit, für ihn da zu sein oder auf ihn, der bei der Arbeit nicht gestört werden wollte, zu warten. Was für ein armseliges Dasein! Und jetzt, da ihre Dienste als Raumpflegerin und dekorativer Kleiderständer nicht mehr vonnöten waren, musste sie wie eine Tagelöhnerin die Stadt verlassen und dahin zurückkehren, woher sie gekommen war. »Nach Hause, in meine Heimat«, hatte sie gesagt. Das – und nicht die Reaktion auf die Nachricht vom Tod ihres Freundes – war der emotionalste Teil dieser knappen Unterhaltung gewesen.
Ja, es stimmt schon, dachte sie, Heimat entsteht erst dann, wenn wir nicht nur Zuschauer oder Besucher sind, sondern uns als Teil eines Ganzen verstehen, wenn wir an einer Entwicklung teilhaben. Wenn wir arbeiten. Darum war der Lkw-Fahrer Abdulaziz Shengali aus dem fernen Irak in Deutschland heimisch geworden, und darum fühlte sich die sechsundzwanzigjährige Susanka Blahotova aus dem nahen Tschechien hier immer noch als Fremde. In diesem Augenblick war sie froh, eine Arbeit zu haben. Auch wenn diese nun zum Spielball der Mächte zwischen Trommen, Bauerreiß und Fleischmann verkommen war.
»Und sonst, außer dass du jetzt deine Traumfrau gefunden hast, was hat diese Wohnungsbegehung noch für dich ergeben?«
»Nicht viel. Eigentlich nur diese angebliche Besprechung mit dem angeblichen Kunden am Montagabend. Aber selbst das muss nichts bedeuten.«
Sie hatte die Phantasie ihres Mitarbeiters, seine Fähigkeit zum Rumspintisieren, überschätzt. Sie war überzeugt gewesen, er würde ihr spätestens jetzt eine wort- und bilderreiche Verknüpfung zwischen Shengalis Händen und dem Schnitzwerk auf der Glaskonsole präsentieren. Aber anscheinend hatten sie beide in den letzten Tagen die Rollen gewechselt. Aus dem erfindungsreichen Heinrich mit seiner überschäumenden Vorstellungskraft war ein geerdeter Oberkommissar geworden, den nur mehr die Fakten interessierten, während sie zeitgleich von der bekennenden Realistin zur Traumtänzerin mutiert war, die zudem Gefallen an ihren abenteuerlichen Hirngespinsten fand. Sie überlegte, ob dieser Rollentausch eine Veränderung zum Guten oder eine zum Schlechten war, wusste aber keine Antwort darauf.
Schließlich überwand sie ihre Scheu, sich vor ihm lächerlich zu machen, und erzählte ihm von ihren Gedanken, die sie beim Anblick des kleinen Hausaltars überfallen hatten. Von dem übereinstimmenden Arrangementcharakter der Hände, von der skrupellosen Mischung aus Kalkül und Kaltherzigkeit, die für solche Art Komposition vonnöten war, und von der anmaßenden Häme, die daraus sprach. Da aber Paula Steiner auf dem Gebiet der metaphysischen Kombination noch sehr unerfahren war, schmückte sie ihre Rede mit etlichen einschränkenden Floskeln wie Möglich-wäre-es-doch, Könnte-es-nicht-sein, Ist-vielleicht-denkbar- oder?
Während ihres Kurzreferats hatte Heinrich beharrlich geschwiegen. Nun, nachdem sie geendet hatte, bedachte er sie mit einem langen stummen Blick aus zusammengekniffenen Augen. Dann endlich brach er sein Schweigen mit dem Satz: »Ja, möglich wäre es, dass Kramer Shengalis Mörder ist.«
Wieder zögerte er lange, bevor er weitersprach. »Ja, doch, das hat was. Aber was uns immer noch fehlt, ist ein Motiv. Oder hast du dazu auch schon eine Idee?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Wenn wir nämlich ein Motiv hätten, täten wir uns auch wesentlich leichter bei der Suche nach seinem Mörder, also nach Kramers Mörder. Vorausgesetzt, Kramer hat tatsächlich Shengali umgebracht.«
»Ja, da hast du recht. Das wäre dann kein Zufall, dass aus dem Täter kurze Zeit später das Opfer wird.«
Nach dieser Zustimmung verfiel Bartels erneut in grüblerisches Schweigen, um dann endgültig das Feld der metaphysischen Spekulation zu verlassen. »Du warst doch bislang der Meinung, es hat was mit diesen Zuschüssen und Prämien zu tun. Damit lässt sich ja ganz ordentlich Geld machen. Und Geld ist immer ein gutes Motiv.«
»Das ist schon richtig. Aber dafür ist es zu wenig Geld. Von solchen Vermittlungsprämien allein kann man sich nicht diese Wohnung leisten. Ich schätze, die hat so um die fünfhunderttausend Euro gekostet. Mindestens. Dazu kommen der Audi, die Miete für sein Büro, die Luxusfrau, der Hausaltar, die Einrichtung von Wohnung und Büro, die Assistentin und, und, und. Dafür allein hätte Kramer jeden Tag eine Vermittlungsprämie kassieren müssen, also richtig ackern müssen. Und diesen geschäftigen Eindruck hat er nicht auf mich gemacht. Wir brauchen die Kundenkartei, kümmerst du dich darum?«
»Ja, mache ich. Aber er hat doch gesagt, er hat geerbt?«
»Etwas, aber nicht viel. Die Anfangsjahre hat er als hart beschrieben.«
»Dann können wir die Gelder vom Arbeitsamt also wieder vergessen.«
»Nicht ganz. Ich glaube, die spielen auch eine Rolle dabei. Aber eine legale. Keiner hat ein Geheimnis daraus gemacht. Weder der Kramer noch die beiden Freys. Nur der Ostapenko wollte nicht, dass wir davon erfahren. Oh, den habe ich ja ganz vergessen. Wann, hat Frau Brunner gesagt, wollte der ins Präsidium kommen?«
»Ich glaube, erst am Freitag. Aber ich ruf mal an.«
Nach dem Telefonat bestätigte Heinrich seine Vermutung. »Ja, es war Freitag, gegen zwölf Uhr. Beim Frey hat die Eva übrigens nichts ausrichten können. Der große Auftritt mit unserer Trachtengruppe war vergebens. Der hat jetzt eine Auslandstour, irgendwo Richtung Osteuropa, erst morgen ist er wieder in Nürnberg. Morgen würde er dann auf jeden Fall zu uns ins Präsidium kommen, da können wir uns hundertprozentig auf ihn verlassen, hat er versichert. Sie hat mit ihm gesprochen. Und er sei sehr kooperativ und höflich gewesen, sagt sie. Ganz anders als gestern. Sie fragt, ob sie ihn trotzdem zur Fahndung ausschreiben soll.«
»Der hätte doch heute bei uns sowieso einen regulären Termin um drei Uhr nachmittags gehabt. Wie kann der da eine Fahrt annehmen – und eine ins Ausland noch dazu. Spinnt der? Freilich, Frau Brunner soll den zur Fahndung ausschreiben. Und zwar augenblicklich. Das habe ich ihr doch in aller Deutlichkeit gesagt, dass sie …«
»Aber, Paula, wozu? Der ist doch jetzt fein raus, er hat Shengali ja nicht umgebracht.«
»Shengali nicht, aber vielleicht jemand anderen? Und dann, kannst du mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, ob sich Frey bei dieser Sache nicht mitschuldig gemacht hat? Schließlich haben wir allen Grund zu der Annahme, dass der tote Shengali in seinem Auto von Kinding nach Nürnberg gefahren wurde.«
»Du meinst, er ist Kramers Mörder?«
»Ich meine gar nichts. Aber wenn ich jemanden zu uns einbestelle, hat der pünktlich zu erscheinen. Aus, basta.«
»Also, dann sag ich der Eva das jetzt?«
»Das war doch jetzt hoffentlich eine Feststellung von dir und keine Frage?«
»Sei doch nicht immer so kratzbürstig, Paula. Manchmal hast du schon eine Art, dass man …«
»So, was für eine Art habe ich denn?«, fiel sie ihm gereizt ins Wort.
»Eine Art, dass man manchmal seine Zeit lieber im Krankenhaus verbringt als mit dir zusammen am Arbeitsplatz«, sagte Bartels so vorschnell wie aufrichtig.
Jetzt war es heraus und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Das, wovor sich beide die vergangenen Tage erfolgreich gedrückt hatten. Obwohl sie es geahnt hatte, war sie von seiner Offenheit doch überrascht – und zutiefst verletzt. Sie merkte, wie ihr die Tränen hochstiegen. Angestrengt sah sie aus dem Fenster der Beifahrertür und sagte leise: »Fahr mal rechts ran. Wir müssen reden.«
Bei dem Hochhaus am Wöhrder See bog er ab und stellte den Wagen auf dem großen Parkplatz ab. Sie stieg aus und ging über die Wiese hinunter ans Ufer. Heinrich folgte ihr. Sie sagte nichts, sie starrte nur auf den weiten See.
»Manchmal«, hörte sie Heinrich hinter sich, »habe ich gesagt, manchmal hast du eine Art zum Davonlaufen. Manchmal bist du aber auch die nachsichtigste, herzlichste, liebenswürdigste Chefin, die man sich nur wünschen kann.«
Da endlich lösten sich die zwei Tränen, die in den Unterlidern in der Poleposition standen, und liefen ihr über die Wangen hinab.
»Und nur wegen dieser Paula Nummer zwei bin ich auch zurückgekommen. Nicht wegen deiner Drohung, mich in die Pressestelle versetzen zu lassen. Wo sie angeblich immer Leute suchen, wo sie tatsächlich aber im Moment so gar keinen Bedarf an neuen Mitarbeitern haben, dass sie schon den Nierlinger wieder ins Dezernat 4 zurückbeordert haben.« Sie hörte, wie er, der noch immer hinter ihr stand, bei diesem letzten Satz schmunzelte.
Als sie sich wieder im Griff hatte, drehte sie sich zu ihm um und sagte: »Du täuschst dich. In der Pressestelle brauchen sie immer jemanden. Das ist wahr und richtig. So wahr wie das Burnout-Syndrom und so richtig wie die schlimmen inneren Verletzungen eines gewissen Heinrich Bartels, der im Übrigen nicht nur hochintelligent und phantasiebegabt ist, sondern auch mein liebster Kollege.«
Statt einer Antwort fragte Heinrich nur: »Haben wir jetzt ausgeredet?«
»Ich finde, schon. Oder hast du mir noch was zu sagen, was ich wissen sollte?«
»Im Augenblick nicht.«
Sie war erleichtert. Und nahm sich vor, künftig mehr auf die Gefühle ihrer beiden Mitarbeiter, des alten wie der neuen, zu achten. Denn im Grunde wusste sie, dass Heinrich recht hatte.
»Was würdest du denn an meiner Stelle machen, den Frey ausschreiben oder nicht?«
»Heute noch nicht. Wenn er morgen nicht da ist, lassen wir ihn suchen. Das würde ich«, die Betonung lag ganz auf dem Pronomen, »an deiner Stelle machen.«
»Gut, dann würde ich das auch so machen.«
Die restliche Fahrstrecke herrschte ein Einvernehmen zwischen Fahrer und Beifahrerin, das keine Worte brauchte. Es war still im BMW. So still wie nach einem lange erwarteten Gewitter, das sich endlich mit aller Kraft entladen und dabei sämtlichen Schmutz und Dreck in der Luft mit sich gerissen hat.