7

Als sie am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht erwachte, war Paul bereits verschwunden. Noch war die rechte Seite in ihrem Bett lauwarm. Er musste erst vor wenigen Minuten die Wohnung verlassen haben.

Sie bedauerte ein wenig, ihn verpasst zu haben, und trabte in die Küche. Dort erwartete sie eine Überraschung. Ein karges, aber mit allem, was ihr Haushalt an diesem Morgen zu bieten hatte, angerichtetes Frühstück. Eine kleine Kanne heißen Kaffees in der auf »on« geschalteten Kaffeemaschine, zwei Knäckebrote auf einem Holzbrett, daneben ein Messer, die Butterdose, das fast geleerte Glas Honig und das immerhin noch halb volle Milchkännchen. Sie war über diesen stummen Morgengruß gerührt.

An der Kaffeetasse lehnte ein Zettel. »P. an P.: Guten Appetit! Hier die Antwort auf deine Frage gestern Abend: Arbeit = wie man den Tag rumbringt.« Sie musste lächeln. Sie hatte mit einem Pragmatiker das Bett geteilt. Mit einem nüchternen, aufmerksamen, liebevollen Pragmatiker, nicht mit einem Wichtigtuer.

Kurz nach halb neun machte sie sich endlich auf den Weg, um ihren Tag rumzubringen. An der Fleischbrücke blieb sie stehen. Sie nahm ihre Fragenkette vom gestrigen Heimweg wieder auf. Warum hatte Frey, als sie ihn von dem Parkplatz aus anrief, nicht wissen wollen, ob in dem Lkw etwas fehlte? Warum waren Geldbeutel und Ladung des Ermordeten unangetastet – und die Kette, die über seinen Situs inversus im Notfall Auskunft geben sollte, hatte man ihm abgenommen, mit Gewalt abgerissen? Warum wollte der Anrufer, der doch einen respektablen Fund zu melden hatte, anonym bleiben? Allesamt Fragen, die sie bislang vernachlässigt hatte. Das sollte heute anders werden, und zwar grundlegend anders. Schnellen Schritts eilte sie zu ihrem Arbeitsplatz.

Dort wurde sie bereits ungeduldig erwartet. »Frau Steiner, was sagen Sie dazu? Heinrich meint, ein Crossfire ist als Coupé grundsätzlich zu klein, um darin einen toten Erwachsenen zu transportieren. Ich aber sage, wenn man die rückwärtige Sitzbank umlegt, Voraussetzung ist, dass sie auch umklappbar ist, dann geht das schon. Außerdem kann der Mörder den toten Shengali auch auf den Beifahrersitz gesetzt und mit dem Gurt befestigt haben.« Eva Brunner sah sie hoffnungsvoll an.

»Ich sage erst mal Guten Morgen allerseits. Und dann sage ich, wir halten jetzt eine kleine Dienstbesprechung ab. Sprich: Wir unterhalten uns mal in aller Ruhe. Um in diesen Fall endlich Struktur reinzubringen.«

Sie hängte ihre Jacke an den Garderobenhaken. »Aber heute ohne kunsthistorische Vorträge, wenn ich bitten darf, oder sonstige theoretische Ausflüge in angrenzende Wissenschaftsgebiete, so unterhaltsam sie mitunter auch sein mögen. Also, hat jemand etwas Neues beizutragen?«

Eva Brunner und Heinrich schüttelten verneinend den Kopf.

»Ich muss gestehen, ich auch nicht. Aber ich habe eine Idee, welchen Weg wir einschlagen sollten. So, was haben wir alles? Einen anonymen Anrufer, eine abgerissene Metallplakette, eine komplette Ladung und einen ebenso unangetasteten Geldbeutel. Was sagt uns das?«

Sie sah aus dem Fenster. Bevor Eva Brunner zu einem ihrer in diesem Raum mittlerweile gefürchteten längeren Redebeiträge ansetzen konnte, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.

»Das sagt uns zweierlei. Erstens, der Mörder kennt sein Opfer. Zweitens, Raubmord ist auszuschließen, vorerst zumindest. Drittens, es besteht die Möglichkeit, dass die Spedition – oder wie Frau B. Entner sagen würde: das Logistikunternehmen – mit in diese Geschichte verwickelt ist. So, was haben wir noch? Einen Neffen, der ausgesagt hat, seinem Onkel sollte gekündigt werden. Und was ist das Besondere an diesem Arbeitsplatz?«

Wieder gab sie ihrer Mitarbeiterin keine Chance. Ohne zu zögern fuhr sie fort: »Das Besondere daran ist, er kam nur durch bestimmte Vorleistungen zustande. Durch Zahlungen des Arbeitsamts. Durch Geld. Frey-Trans und Kramers Vermittlungsagentur haben mit Shengalis Arbeit Geld verdient. Sie haben Arbeit verkauft beziehungsweise Arbeit billig eingekauft. Arbeit, die nun auf einmal keiner mehr zu brauchen scheint. Und genau um diesen Aspekt werden wir uns heute kümmern.«

Jetzt war die erste längere Pause in ihrem Vortrag fällig. Sie wollte Heinrich und Frau Brunner Zeit geben, nun ihrerseits die Gedankenkette weiterzuknüpfen, Fragen zu stellen oder gar Einwände vorzubringen. Das schien nicht der Fall zu sein.

Also schloss sie mit den Worten: »Und wie gehen wir das an? Auch darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Wir werden nicht abwarten, bis Herr Frey uns samt seinem Anwalt morgen Nachmittag die Ehre gibt, wir werden ihn heute noch mal in die Mangel nehmen und so lange dort bleiben, bis er uns einen plausiblen Grund für die anscheinend bevorstehende Entlassung Shengalis nennen kann. Ich habe nämlich erkannt: Dieses Hinterher-Ermitteln führt nur in die Irre, wir müssen vorausplanender, strategischer handeln. Das ist in einer Mordkommission übrigens nicht anders als beispielsweise im Fußball. Auch da bringen die Abgaben nach hinten gar nichts, nach vorn muss man spielen, dann klappt’s auch. Na, was sagen Sie dazu, Frau Brunner? Oder du, Heinrich?«

Heinrich antwortete als Erster. »Eine Besprechung hatte ich mir zwar anders vorgestellt. Aber egal. Nur eine bescheidene Frage meinerseits: Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du uns nicht anmelden willst?«

Sie nickte. »Natürlich nicht. Ja, und?«

»Was machst du denn, wenn der Frey nicht da ist? Wie schaut dann deine Strategie des Nach-vorne-Spielens aus?«

Sie dachte nach. Diese Möglichkeit hatte sie in ihrer Begeisterung ganz vergessen. »Dann werden wir den Senior befragen. Der ist doch meistens zu dieser Zeit in der Spedition. Und irgendeine Ahnung wird er schon haben. Er wird uns sicher etwas sagen können, das uns weiterhilft.«

Als sie zu dritt über den Hof am Jakobsplatz zum Polizei-Fuhrpark liefen, sagte Heinrich: »Dann glaubst du es jetzt auch, dass unser böser Onkel mit dieser Sache etwas zu tun hat?«

Sie hörte den triumphierenden Unterton in seiner Frage. »Das habe ich nie bezweifelt. Er ist darin verwickelt. Aber wie tief, das müssen wir noch rauskriegen.«

Eine halbe Stunde später standen sie vor dem geschlossenen Schiebetor in der Donaustraße. Der Hof war zugeparkt mit elf Lastern und mindestens so vielen Autos. Sie drückte auf den Klingelknopf. Keine Reaktion. Dann nochmals, energischer. Wieder nichts.

»Frau Brunner, rufen Sie doch mal über das Autotelefon bei Frey-Trans an. Irgendjemand muss ja da sein an so einem stinknormalen Wochentag.«

Nach einer Weile kehrte die Assistentin wieder. »Da war nur das Band dran. Wegen einer internen Veranstaltung haben wir heute geschlossen … versuchen Sie es bitte morgen wieder … in dringenden Fällen hinterlassen Sie uns eine Nachricht … wir bitten um Ihr Verständnis …«

»Da bitten sie vergebens«, murmelte sie. »So, nachdem ich hiermit erklärt habe, dass Gefahr in Verzug ist, werden wir uns den Zutritt eben selbst verschaffen.«

Sie hielt der verdutzten Eva Brunner ihre Tasche hin und kletterte über das niedrige Tor. Heinrich folgte ihr. Die Kommissaranwärterin sah beide ängstlich an.

»Vielleicht sollte ich besser hierbleiben und Sie mit dem Handy warnen, wenn sich draußen was tut? Einer von uns sollte schon Schmiere stehen, finde ich.«

»Quatsch. Schmiere stehen nur Ganoven. Wir aber sind von der Polizei, das Recht ist auf unserer Seite.«

»Na ja«, warf Heinrich spöttisch ein, »ob das Recht in diesem Fall auf unserer Seite ist, wage ich zu bezweifeln. Du kannst es halt mal wieder nicht erwarten, Paula, das ist doch der einzige Grund. Ich sehe nämlich hier keine Gefahr in Verzug, nicht die geringste. Nur dich und deine Ungeduld.«

»Jawohl, ich und meine produktive Ungeduld. Das wolltest du doch sagen. Wir beide haben schon manchen Anstoß in die richtige Richtung gegeben. Also, was ist jetzt, Frau Brunner? Kommen Sie mit oder nicht?«

»Lieber nicht.«

»Auch recht. Dann warten Sie hier vor dem Tor auf uns. Wenn wirklich was Auffälliges passieren sollte, melden Sie es uns über das Handy. Wobei ich glaube, das Auffällige erwartet uns nicht hier draußen, sondern da drinnen.«

Sie ging direkt zur Eingangstür und drückte mit der rechten Hand lange auf den Klingelknopf. Auch diese feinstrategische Aktion blieb ohne Echo.

»Dann eben nicht«, sagte sie zu Heinrich, der reglos neben ihr stand. »Wir gehen jetzt ums Haus und schauen, ob irgendwo Licht brennt. Es muss doch jemand da sein.«

Der Zweier-Spähtrupp setzte sich in Gang. Als sie der Stirnseite des Gebäudes den Rücken gekehrt hatten, kamen ihr Zweifel. Sie dachte, dass sie gerade gegen etliche Regeln verstieß, wie sie ihren Beruf ausüben sollte. Schnell wischte sie diesen irritierenden Gedanken beiseite und ließ den Blick über die Fenster des Erdgeschosses streifen. Überall diese heruntergelassenen hellgrauen Plastikjalousien, dahinter unbeleuchtete Zimmerfluchten.

Sie waren jetzt auf der rückwärtigen Seite angelangt, die kurz geschnittene Hainbuchenhecken von den benachbarten Grundstücken trennte. Auf dem schmalen gepflasterten Pfad blieb sie abrupt stehen und rief zufrieden aus: »Ui, was haben wir denn da Feines!«

Heinrich stellte sich neben sie. »Ha, es war also doch der böse Onkel. Ich hab halt ein Gespür für so was. Gib zu, ich hatte recht!«

»Ob du recht hattest, wird sich zeigen. Aber dass ich recht hatte mit meiner Gefahr in Verzug, hat sich schon gezeigt.«

Sie umrundeten den silbergrauen Crossfire und stierten von allen Seiten durch die leicht getönten Fenster ins Wageninnere. Sie sahen schwarze Ledersitze, leere Ablagefächer und eine Parkscheibe aus Hartplastik auf dem Beifahrersitz. Ansonsten nichts Auffälliges.

»Ich fürchte, diesmal kommen wir um das komplette Programm nicht herum. Also absperren, sichern und dann ab zum Erkennungsdienst, in unsere Fahrzeughalle. Die sollen den Wagen auf Herz und Nieren untersuchen.«

Heinrich nickte zustimmend. »Ich kümmere mich darum.«

»Und ich werde unsere Frau Brunner informieren. Die brauchen wir hier.« Sie griff in die Jackentasche und zog ihr Handy heraus. Schon nach dem ersten Klingelton meldete sie sich.

»Frau Brunner, Sie müssen jetzt doch über das Tor klettern. Wir haben hier hinten einen silbergrauen Crossfire gefunden. Der muss, bis die Kollegen eintreffen, von uns gesichert werden. Und für diese Aufgabe sind drei immer besser als zwei. Also, Sie kommen auf dem schnellsten Weg zur hinteren Seite des Geländes.«

Sie hörte ein metallisches Klacken, dann wurde der Empfang unterbrochen. Die Anwärterin war schon unterwegs.

Als sie ihr Handy wieder in der Jackentasche verstaute, eilte ein sichtlich aufgeregter Siegfried Frey auf sie zu.

»Guten Morgen, Frau Steiner, was machen Sie denn hier?«

»Guten Morgen. Wem gehört dieser Crossfire? Ist das Ihrer?«

»Nein. Der gehört Joachim. Aber ich verstehe nicht … Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er zunehmend ungehaltener.

Eva Brunner traf ein und bezog aufrecht, mit leicht gegrätschten Beinen und verschränkten Armen vor dem wertvollen Fundstück Position. Auch ohne Uniform – eine Polizistin aus dem Bilderbuch.

Paula Steiner nickte ihr anerkennend zu und beantwortete dann Freys Frage. »Weil wir annehmen, dass es sich bei diesem Fahrzeug um exakt jenes handelt, mit dem der ermordete Shengali zum Wasserwerk in Erlenstegen verbracht wurde.«

»Was«, rief der Seniorchef entgeistert aus, »das glauben Sie doch selbst nicht! So ein Krampf! Dann hätte ja mein Sohn …« Den Rest ließ er unausgesprochen in der trüben, diesigen Luft des Nürnberger Hafens hängen, so absurd, ungeheuerlich und auch erschreckend war der Gedanke, der diesem Satzanfang hätte logischerweise folgen müssen. Er blickte die Kommissarin ernst und nachdenklich an.

»Mein Sohn hat mit dieser Sache nichts zu tun. Der war nämlich zur Tatzeit bei einem Neukunden. Sie haben doch selbst gesagt, Abdu wurde am Montagmorgen gegen acht Uhr umgebracht. Und da war Joachim in Ansbach. Sie können das überprüfen. Sie sollten das sogar überprüfen, bevor Sie solche Anschuldigungen in die Welt setzen. Das ist ja unfassbar, so was ist doch …«

»Mal was ganz anderes, Herr Frey«, sie ignorierte den Gefühlsausbruch sowie die darin versteckte Anweisung des Seniorchefs, »warum ist Ihr Betrieb heute eigentlich geschlossen? Am Telefon ist auch nur der Anrufbeantworter eingeschaltet.«

Bevor Frey zu einer Antwort ansetzen konnte, gesellte sich sein Sohn zu ihnen. Heute mit einem kurzärmligen T-Shirt, das der wenig glaubhafte Schriftzug »Playboy des Monats« knapp über dem stattlichen Kugelbauch zierte. In der Ferne waren die ersten Polizeisirenen zu hören, die langsam näher kamen.

»Vater, was gibt’s? Was haben Sie denn hier verloren? Wie kommen Sie überhaupt hier rein? Das ist ja Hausfriedensbruch. Dafür werde ich Sie verklagen. Wir brauchen kein Gschwerl von der Polizei auf unserem Hof. Raus hier, aber flott. Die da«, er deutete mit einem süffisanten Grinsen auf die Bilderbuch-Polizistin Brunner, »darf bleiben.«

Auch diese Fragen wurden ignoriert, samt der anschließenden Beamtenbeleidigung zweier Angestellter im Polizeidienst. Dafür fühlte die Kommissarin sich im Augenblick nicht zuständig.

»Also, warum ist Ihr Betrieb heute zu?«, wandte sie sich wieder dem Seniorchef zu.

»Wegen einer Betriebsversammlung. Das machen wir einmal im Jahr, immer um diese Zeit.« Das klang schon wesentlich nachgiebiger. Sie merkte, dass Siegfried Frey das nassforsche Auftreten seines Sohnes peinlich war.

Sie hörte laute Rufe von der Donaustraße. Dann das Verstummen der Polizeisirenen.

»Einer von Ihnen beiden muss jetzt das Tor öffnen. Und zwar«, sie drehte sich zu Joachim Frey um, »flott, sonst erledigen wir von der Polizei das auf unsere Art und Weise.«

Bevor sein Sohn aufbrausend reagieren konnte, legte Siegfried Frey ihm mit einer begütigenden Geste die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich mach das schon, Joachim. Bleib du hier und pass auf.«

Worauf sollte der Playboy des Monats aufpassen? Auf sie, auf Eva Brunner, die ihm offensichtlich gefiel, oder darauf, dass hier alles mit rechten Dingen zuging? Wahrscheinlich auf eine Kombination aus allem drei.

Wenige Minuten später war auch der schmale Pflasterstreifen zugeparkt. Heinrich hatte es gut gemeint und neben dem Schleppdienst die komplette Spurensicherung und drei Einsatzwagen in die Donaustraße einbestellt. Als der Crossfire endlich auf dem Tieflader stand, winkte sie Heinrich und Eva Brunner zu sich.

»Willst du den Frey nicht gleich mitnehmen?«, fragte Heinrich.

»Jetzt sofort nicht. Wir hören uns erst mal an, was die beiden zu dem Thema drohender Arbeitsplatzverlust zu sagen haben. Und zwar getrennt voneinander. Du und Frau Brunner, ihr sprecht mit dem Junior, derweil werde ich mich mit dem Senior unterhalten. Und, Heinrich, vergiss nicht, der Frey hat ein Alibi. Ein klasse Alibi. Frau Brunner hat das gestern noch gegengecheckt. Frag ihn auch, ob er sein Auto am Montag letzter Woche jemandem ausgeliehen hat. Das ist wichtig.«

»Und wenn er nichts sagt? So wie gestern.«

»Dann kannst du ihn immer noch vorläufig festnehmen und ins Präsidium bringen lassen. Aber keine Sorge, der wird reden. Da bin ich mir sicher.«

Als sie mit Siegfried Frey zu dessen Büro ging, stand auf dem schmalen Flur eine aufgeregt und lautstark diskutierende Menschentraube. Sie erkannte Chanim Ostapenko, der sie erstaunt anstarrte.

»Chef, was ist denn los?«, fragte ein untersetzter Mittvierziger in einem abgetragenen blauen Overall.

»Nix«, antwortete Frey barsch. »Gehts an eure Arbeit. Die Versammlung ist beendet.«

Erschrocken wichen seine Mitarbeiter vor ihm zurück. Sie hatte Mühe, ihm, der nun den langen Gang voranstürmte, zu folgen.

Wieder war sie erstaunt, wie bequem es sich auf diesen hässlichen Besuchersesseln sitzen ließ. Frey beobachtete sie wachsam und skeptisch.

»Ich hoffe, Herr Frey, Sie sind gesprächiger, als Ihr Sohn es gestern war. Er wollte uns partout auf ein paar Fragen nicht antworten. Eigentlich hat er gar nichts gesagt. Nur mit seinem Anwalt gedroht.«

Freys Kommentar dazu war lediglich ein Verschränken der Arme auf Brusthöhe, eine Geste, die ihr vom gestrigen Besuch noch vertraut war. Fast hätte sie es ihm gleich getan. Aber nur fast. So lehnte sie sich betont entspannt in das weiche Leder des Sessels zurück und lächelte ihn aufmunternd an.

»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Ihr Fahrer umgebracht wurde, aber gleichzeitig von der Ladung nichts fehlte? Keine einzige Flasche Parfüm, nicht eine Schachtel Zigaretten.«

»Was heißt hier schon merkwürdig? Ich kann mir die ganze Sache sowieso nicht erklären.«

»Gut. Sie sagten bei unserem ersten Gespräch, dass Ihr Sohn die Geschäfte im Großen und Ganzen jetzt allein führt. Schließt das auch die Einstellungen und Entlassungen ein?«

Frey sah sie fragend an. Er war auf der Hut. Sie spürte, für ihn hatte dieses Gespräch nur einen Zweck: keinen Fehler zu machen, seinen Sohn nicht durch ein unbedachtes Wort zu belasten. Und das konnte jedes Wort sein. Egal was diese dauerlächelnde Kommissarin von ihm wissen wollte.

»Oder sind Sie so weit noch ins Tagesgeschäft involviert, dass Ihnen der Begriff Eingliederungszuschuss etwas sagt?«

»Ja, der Begriff sagt mir etwas.«

»Dann wissen Sie vielleicht auch, dass Ihre Spedition für die Herren Ostapenko und Shengali dieses«, sie suchte nach einem passenden, also leicht vorwurfsvollen Ersatz für den neutral-amtlichen Begriff, »Kopfgeld von der Agentur für Arbeit erhalten hat, damit Sie sie einstellen. Jeweils sechs Monate den vollen Lohn für zwei Mitarbeiter. Macht zusammen vierundzwanzigtausend Euro. Eine stolze Summe, oder?«

Frey nickte vorsichtig. »Ja, das weiß ich.«

»Mal angenommen, Sie müssten Ostapenko und Shengali bewerten auf einer Skala von eins bis sechs, welche Noten bekämen sie von Ihnen?«

Wieder dieser stumme skeptische Blick. Auch sie sagte nichts, zum Warten entschlossen.

Nach einer langen Weile schien Frey seinen Widerstand so weit aufgegeben zu haben, dass er zumindest die letzte Frage beantworten wollte.

»Abdu war ein Glücksfall für uns, er würde von mir und bestimmt auch von meinem Sohn eine glatte Eins bekommen. Chanim ist auch sehr gut, vielleicht nicht so überragend wie Abdu. Er würde von mir eine Zwei kriegen, eine Zwei plus.«

»Aha. Zwei gute oder besser: sehr gute Mitarbeiter Ihrer Firma. Dann scheint sich ja die Investition des Steuerzahlers, der deren Bemühungen zur Arbeitsaufnahme mit immerhin achtundzwanzigtausend Euro subventioniert hat, gelohnt zu haben. Sie sind zufrieden mit Herrn Ostapenko beziehungsweise waren zufrieden mit Herrn Shengali?«

»Ja. Aber ich verstehe nicht, was das alles mit dem …«

»Schön«, unterbrach sie ihn. »Dann allerdings verstehe ich eines nicht, Herr Frey. Da sind zwei Mitarbeiter, mit denen Sie rundum zufrieden sind, die die besten Noten von Ihnen bekommen, bessere als alle anderen Fahrer. Warum will man so jemanden wieder loswerden? Was ist der Grund, dass Sie Shengali kündigen wollten?«

Frey überlegte. Ihm war anzusehen, dass er soeben zwei Alternativen, eine so schäbig wie die andere, abwog. Sollte er so tun, als ob er davon nichts wüsste, oder sollte er die nackte Wahrheit wählen, die auf Außenstehende wie diese unbedarfte Kommissarin vielleicht einen herzlosen, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Eindruck machen könnte? Er entschied sich für die Wahrheit.

»Wissen Sie, Frau Steiner, mein Geschäft hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Das ist unglaublich hart geworden. Vor allem für uns Mittelständler. Früher hatte man noch, wenn man anständig, fleißig und zuverlässig arbeitete, ein gesichertes Einkommen, sein geregeltes Auskommen. Aber dadurch, dass die Grenzen in ganz Europa gefallen sind, kann heutzutage jeder Hanswurst, der einen Lkw-Führerschein hat, Fuhrunternehmer oder Spediteur werden. Jeder! Freilich hatten wir es früher auch mit Mitbewerbern zu tun. Aber in einem anderen Rahmen als jetzt, wo die Konkurrenz so riesengroß ist und mit Dumpingpreisen auf den Markt drängt. Da müssen wir sehen, wo wir bleiben. Sonst gehen wir unter. Da können wir nicht immer auf die Gefühle unserer Mitarbeiter Rücksicht nehmen. So schwer mir das persönlich auch fällt.«

»Das verstehe ich. Aber was hat das mit der Kündigung zu tun?«, bohrte sie weiter.

Frey richtete sich in seinem Chefsessel kerzengerade auf und atmete tief durch. »Sehen Sie, wir geben diesen Leuten, die uns das Arbeitsamt schickt, eine Beschäftigung. Die sie woanders als Ausländer mit ihrer Unerfahrenheit, ihrem schlechten Deutsch, ihren mangelnden Ortskenntnissen wahrscheinlich gar nicht bekommen würden. Wir geben ihnen Arbeit und bezahlen sie auch anständig, nach Tarif. Achtzehn Monate lang, denn um die Eingliederungszuschüsse zu erhalten, muss man die Nachbeschäftigungspflicht einhalten. Das heißt: Man muss nach der bezuschussten Zeit noch sechs Monate den vollen Lohn aus eigener Tasche zahlen.«

»Und dann kriegt er die Kündigung. Nach dem Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Freys weit hergeholte Erklärung für die geplante Entlassung hatte bei Paula Steiner ihren Zweck verfehlt. Sie war erbost und von Freys Kalkül angewidert.

»Nein, so ist es nicht«, widersprach Frey. »Wir lassen unsere Mitarbeiter nicht im Regen stehen. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, jederzeit zu uns zurückzukehren. Sie müssen sich …«

»Wer ist ›sie‹?«, unterbrach sie ihn ungehalten. »Gibt es noch jemanden anderen außer Shengali, den Sie loswerden wollen?«

»Natürlich. Ostapenko hat von uns auch die Kündigung erhalten. Zeitgleich mit Shengali. Ich dachte, das wissen Sie.«

Sie starrte ihn an, aus unheilvoll zusammengekniffenen Augen. Am meisten erregte sie das »Natürlich«. Lapidarer konnte man die Überzeugung, auch moralisch im Recht zu sein, nicht ausdrücken. Sie schwieg. Was hätte sie diesem Monster auch Verletzendes an den Kopf werfen können, das ihn im Innersten treffen würde?

»Also, sie müssen sich lediglich drei Monate beim Arbeitsamt arbeitslos melden«, fuhr Frey fort, der ihr Schweigen gründlich missdeutete, »wo sie im Übrigen Arbeitslosengeld erhalten, also finanziell gut versorgt sind, dann können sie wieder bei uns anfangen. Zu denselben Konditionen.«

»Und diese Konditionen beinhalten auch die erneuten Eingliederungszuschüsse für Sie, oder?«

»Natürlich. Sonst könnten wir uns das ja gar nicht leisten. Das ist alles rechtens, da können Sie uns juristisch keinen Strick draus drehen.«

Sie hatte genug gehört. Und auch genug von diesem Menschen in seinem Chefsessel, von dessen weißem Haar, seiner gemütlichen grauen Strickjacke und der ausgebeulten Cordhose sie sich so hatte täuschen lassen. Das war kein Arbeitgeber alten Stils, der seinen Untergebenen gegenüber noch so etwas wie Wärme oder auch nur einen Funken Fürsorglichkeit empfand. Das war ein gefühlskalter, skrupelloser Unternehmer, dessen Handeln und Denken ausschließlich von den Prinzipien Geben und Nehmen geleitet wurde. Eine alte, hartherzige, verschrumpelte Krämerseele.

Ihre Abscheu vor Frey gewann durch ihre Enttäuschung noch an Schärfe. Hatte doch ihr größtes Unterpfand in diesem Fall, die Anzeigen und Gutscheine, sie nicht wie erhofft in die richtige Richtung geführt, sondern an das Ende einer Sackgasse, an dem sie nicht einmal mehr zum Wenden ansetzen konnte. Sie stand abrupt auf.

»Das, Herr Frey, obliegt auch nicht meinem Zuständigkeitsbereich. Ich habe einen Mord aufzuklären. Und ich bin sicher, der Wagen Ihres Sohnes respektive die Blutspuren darin werden mir da entscheidend weiterhelfen.«

Sie drehte sich um und verließ grußlos das Zimmer. Noch im Flur wählte sie die Handynummer von Eva Brunner.

»Ich bin mit Herrn Frey fertig. Wie schaut es bei Ihnen aus? Wie weit sind Sie und Heinrich?«

»Wir sind auch fertig. Wir warten auf dem Hof auf Sie.«

Auf der Fahrt ins Präsidium tauschten sie ihre gleichlautenden Vernehmungsergebnisse aus. Auch Frey junior hatte zugegeben, mit Shengali und Ostapenko über die Kündigung gesprochen und gleichzeitig eine erneute Einstellung nach der entsprechenden Wartefrist von drei Monaten in Aussicht gestellt zu haben. Allerdings hatte er sich im Gegensatz zu seinem Vater den Umweg über eine um Verständnis werbende Einleitung erspart. Die große Konkurrenz und die Dumpingpreise waren bei dem Junior chef außen vor geblieben.

»Das ist doch eine Riesensauerei«, empörte sich Heinrich, der am Steuer saß. »Kaum ist das Fördergeld rum, sitzen sie wieder auf der Straße. Diese Menschen werden behandelt wie eine x-beliebige Ware.«

»Überrascht dich das? Das werden sie doch überall.«

»Nicht überall, Paula. Es gibt Nischen, wo es noch einigermaßen anständig zugeht. Wo die Menschen nicht ausschließlich nach ihrem Marktwert hin- und hergeschoben werden.«

»Und das wäre wo?«

»Bei uns zum Beispiel, bei der Polizei.«

»Na, ich weiß nicht. Wenn ich da an die Pläne eines gewissen Herrn Trommen denke …«

Eva Brunner, die auf der Rückbank saß, beugte sich zu ihr vor. »Warum? Welche Pläne hat Herr Trommen?«

»Ach, nichts, was Sie betrifft. Aber was mich interessieren würde, Frau Brunner, welchen Stellenwert hat für Sie der Beruf, also Ihre Arbeit bei uns, bei der Polizei?«

»Den größten überhaupt«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ich freue mich jeden Morgen, schon beim Aufstehen, auf meine Arbeit. Dass ich hierherkommen kann, dass ich die Kollegen treffe, die ja fast alle in Ordnung sind, dass ich was Sinnvolles tue, zusammen mit anderen, dass ich immer besser werde. Das alles. Ich bin manchmal richtig glücklich, wenn ich irgendwas Schwieriges herauskriege oder jemandem helfen kann. Wie zum Beispiel Ihnen, Frau Steiner.«

Sie sah zu Heinrich, der sich Mühe gab, sich das Lachen zu verbeißen. Sie jedoch konnte die junge Frau gut verstehen. Auch sie selbst war in den ersten fünf Jahren noch von dem Gedanken erfüllt gewesen, mit ihrer Arbeit entscheidend dazu beizutragen, dass die Menschen sicherer leben konnten. Dieser Glaube war ihr in letzter Zeit abhandengekommen. Seitdem fehlte ihr auch das Glück der Arbeit, von dem Eva Brunner so glaubhaft wie verlockend gesprochen hatte.

»Und du, Heinrich? Wie wichtig ist dir dein Beruf?«

»Nicht annähernd so wichtig wie dir, Eva. Nicht annähernd. Ich könnte gut und jederzeit darauf verzichten. Aber ich habe nun mal keinen reichen Erbonkel, sondern nur eine alte Oma mit einer mickrigen Rente. Also bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu arbeiten.« Diese Antwort kam unerwartet ernst, mit einem bitteren Beiklang.

»Ich habe vor Kurzem gelesen«, meldete sich daraufhin die Rückbank wieder zu Wort, »wer nie das rauschhafte Erlebnis von Gemeinschaft spürt, von Wertschöpfung und Wertschätzung, die jede Arbeit mit sich bringt, selbst die schlecht bezahlte oder mies angesehene, der ist eigentlich arm dran. Also ist Arbeit doch etwas ganz Wichtiges, Entscheidendes für jeden von uns. Wichtig für die innere Gesundheit und für die Seele.« Hier sprach offenkundig jemand, der das Pathos liebte.

»Das ist richtiger Quatsch«, widersprach Paula Steiner vergnügt, nachdem sie sich an ihren karg eingedeckten Frühstückstisch von heute Morgen erinnert hatte. »Theoretisches, hochgestochenes Blabla von irgendwelchen Schreiberlingen, Freiberuflern zumeist, die noch nie in einem Angestelltenverhältnis waren und keine Ahnung haben, was es bedeutet, jeden Tag irgendwo acht Stunden hintereinander absitzen zu müssen. Immer wieder, Woche für Woche, Monat um Monat, Jahr für Jahr. Bis man so alt ist, dass man gute Chancen hat, seine Rente gar nicht mehr zu erleben«, redete sie sich in Rage. »Wie man den Tag rumbringt, das ist Arbeit.«

Nach dieser Klarstellung herrschte betretene Stille auf dem Rück- und Fahrersitz. Erst als sie den Präsidiumshof überquerten, fragte sie Heinrich: »Du hast den Junior nicht mitgenommen?«

»Nein. Du hast doch selbst gesagt, ich soll ihn bloß dann festnehmen, wenn er nicht redet. Aber er hat ja geredet.«

»Ja. Das war auch vollkommen richtig. Und die andere Frage, was hat er dazu gesagt?«

»Welche andere Frage?«

»Ob er sein Auto am Montag vor einer Woche jemandem ausgeliehen hat.«

»Mensch, das hab ich vergessen.«

»Blöd. Na ja, er kommt morgen eh zu uns, da machen wir alles gleich in einem Abwasch.«

»Was unternehmen wir jetzt als Nächstes, Paula?«

»Nichts. Wir warten die Ergebnisse der Spurensicherung ab. Und Frau Brunner wird sich morgen um einen Haftbefehl für den Frey kümmern.«

»Dann kann ich ja Freys Alibi noch mal in aller Ruhe überprüfen.«

»Freilich. Was verstehst du unter ›in aller Ruhe‹?«

»Ich fahre nach Ansbach, zu diesem Großhändler, und sprech mit ihm persönlich.«

»Einverstanden. Nimm aber Frau Brunner mit. Damit sie auch mal das rauschhafte Erlebnis deiner Gesellschaft spürt.«

Nachdem sie ihr Büro für sich allein hatte, öffnete sie die Fensterflügel weit, setzte sich und legte die Füße auf die Heizrippen. Ihr Elan und ihre Zuversicht hatten sich verflüchtigt, genau wie jetzt die abgestandene Luft in ihrem Büro. Sie nahm das Mobilteil ihres Telefons in die Hand – und legte es wieder auf die Basis. Griff noch einmal zum Telefon und wählte dann die Nummer der Nürnberger Agentur für Arbeit. Eine zentrale Vermittlungsstelle meldete sich. Sie spulte ihren Text herunter – Name, Dienstgrad, Abschnitt, Fachdezernat – und verlangte in einem autoritären Befehlston, den sie sich im Umgang mit der Nürnberger Agentur für Arbeit mittlerweile angewöhnt hatte, augenblicklich mit der Teamleiterin Beatrice Entner verbunden zu werden. Es wirkte.

Nach ein paar ausgesucht höflichen Begrüßungsfloskeln erzählte sie der Teamleiterin von ihrem Gespräch mit Frey. Von der Möglichkeit Ostapenkos und Shengalis, nach drei Monaten Arbeitslosigkeit wieder zu der Spedition zurückzukehren. Wenn sie nur das richtige Geschenk mitbrachten, den Eingliederungszuschuss.

»Jetzt sagten Sie mir aber, dass die Firmen ein Vorbeschäftigungsverbot einhalten müssen. Das habe ich so verstanden, dass dieser Zuschuss nicht beliebig oft gewährt wird. Wie oft kann denn nun ein Arbeitsloser ihn beantragen?«

»Wenn sie die Anforderungen erfüllen, können unsere Kunden den EGZ immer wieder beantragen. Aber nicht für denselben Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer darf in den letzten vier Jahren nicht mehr als drei Monate bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sein. Dann würden wir ja der Gefahr Vorschub leisten, dass vorhandene Arbeitsverhältnisse in geförderte umgewandelt werden. So, wie Sie das beschrieben haben, geht es definitiv nicht. Und das wissen die Arbeitgeber auch. Das steht ja in allen Formularen, die sie ausfüllen müssen, um den EGZ zu erhalten. Wahrscheinlich meinte Herr Frey, dass er dann statt Shengali und Ostapenko zwei andere Kunden von uns beschäftigen würde. Dieses Wechselspiel ist zwar nicht in unserem Sinne, aber strafbar ist es so gesehen nicht.«

Nein, das meinte Herr Frey nicht. Herr Frey glaubte schon, was er ihr gegenüber gesagt hatte. Da war sie sich sicher. Sie dankte für die Auskünfte und hängte ein.

Oder hatte Frey sie doch angelogen? Um vor ihr ein besseres Bild abzugeben, das Bild des fürsorglichen Unternehmers, der seine »Mitarbeiter nicht im Regen stehen« lässt? Nein, in diesem Punkt war er ehrlich gewesen. Ehrlich und auf eine fast schon liebenswerte Weise naiv und dumm. Sie griff erneut zum Telefon.

»Steiner hier. Herr Frey, eine kleine nachträgliche Korrektur zu unserem Gespräch vorhin: Das Mohr-Prinzip gilt doch, auch in Ihrem Betrieb. Sie täuschen sich. Shengali und Ostapenko hätten nach ihrer Entlassung nicht einfach nach drei Monaten wieder bei Ihnen anfangen können. Zwischen Aus- und Einstellung müssen nämlich mindestens vier Jahre liegen. Aber ich darf Sie gleichzeitig beruhigen: Das Kopfgeld kriegen Sie auch weiterhin. Nur eben von anderen Mitarbeitern. Vielleicht diesmal keine Einser-Kandidaten, sondern zwei von der letzten Bank mit der Note mangelhaft bis ungenügend? Die brauchen ja schließlich auch eine Beschäftigung. Und die würden auch hervorragend zu Ihrem Saftladen passen, viel besser als Shengali und Ostapenko.«

Eine Weile war es stumm in der Leitung. Schließlich sagte Frey: »Das glaube ich Ihnen nicht. Joachim weiß da ganz genau Bescheid. Und er hat mir versichert, dass wir die beiden ganz schnell wieder bei uns …«

»Dann glauben Sie es halt nicht«, blaffte sie ihn an und hängte grußlos ein.

Das Telefonat hatte seinen Zweck erfüllt. Ihr war jetzt viel leichter zumute, die Wut über Frey war verflogen und der Ärger über ihre misslungene Strategie verraucht. Sie schloss die Fensterflügel, zog sich die Jacke über und ging heim.

Als sie ihre Wohnungstür aufsperrte, war es noch nicht einmal drei Uhr. Sie behielt die Jacke an, nahm den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und verließ die Wohnung wieder.

Nach einem Umweg ins Mögeldorfer Garten-Center stand sie eine Stunde später vor dem Häuschen ihrer Mutter. Diesmal war der Garten im Schlieffenweg verwaist. Kein Max, der sie schwanzwedelnd und überschwänglich begrüßte. Sie sah nach rechts. Das Aushubloch war noch immer leer und dunkel, auch die Bohnen waren nun abgeerntet, und die Astern wollten nicht blühen. Ein Garten, der den Großteil seines Charmes eingebüßt hatte, und das Mitte September. Sie klingelte. Kurze Zeit später stand ihre Mutter strahlend vor ihr, und Max sprang jauchzend an ihr hoch.

»Komm rein, Paula. Wir haben schon geheizt bei der Kälte jetzt draußen.«

Sie überreichte ihrer Mutter wortlos den Topf mit der prächtigen Salbeistaude, ging direkt ins Wohnzimmer und ließ sich der Länge nach auf das weiche taubenblaue Sofa fallen.

»Ist was? Geht’s dir nicht gut?«, fragte Johanna Steiner besorgt. »Hast du wieder deine Migräne?«

»Nein, mir geht es gut. Ich wollte es einfach nur mal für einen kurzen Augenblick richtig gemütlich haben.« Sie machte Anstalten, sich aufzurichten. »Aber jetzt geht es schon wieder.«

Ihre Mutter drückte sie sanft aufs Sofa zurück. »Bleib liegen. Ich mach uns erst mal einen Salbeitee. Max, komm, lass das Paulchen in Ruhe. Die muss sich ausruhen.«

Als sie aufwachte, war es bereits nach sechs. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihr standen eine Teetasse, eine Thermoskanne und ein Teller mit zwei Fleischsalat-Brötchenhälften. Sie sah zu ihrer Mutter, die an dem großen runden Esstisch eine Patience legte.

»Da hast du dir ja einen zauberhaften Gast eingefangen. Kommt rein, legt sich aufs Sofa und schläft einfach zwei Stunden durch.«

»Das macht doch nichts. Dann brauchst du diesen Schlaf auch. Geht es dir wirklich gut? Du schaust so müde aus.«

»Ach, mir macht mein Fall derzeit zu schaffen. Also nicht der Fall selbst, sondern das Drumherum. Da gibt es Leute, die wollen nichts anderes als arbeiten und machen alles, nur damit sie ihren Job nicht verlieren. Und auf der anderen Seite gibt es Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter umeinanderschubsen, wie es ihnen gerade in den Kram passt. Ein Geschacher ist das, widerlich.« Sie schenkte sich Tee ein und biss in die Fleischsalatsemmel.

»Aber Paula, das war doch schon immer so. Dass gute Arbeit meist nicht geschätzt und anerkannt wird. Da hat sich nichts geändert.«

»Doch, das ist schon anders geworden, schlimmer. Mal eine andere Frage: Hast du eigentlich gern gearbeitet?«

»Was heißt hier: hast?«, fragte Johanna entrüstet zurück. »Meinst du, der Tee macht sich von selbst? Oder der Fleischsalat kommt hier reingeflogen wie die Tauben im Märchen? Außerdem wasche ich jeden Tag ab, jeden Tag, der Eingangsbereich wird auch täglich von mir staubgesaugt, schon allein wegen dem Maxl, der immer Dreck reinträgt, dann die Wäsche, das will alles …«

»Ja, Mama, das ist eh klar. Das meine ich nicht. Ich meine die Arbeit im Beruf. Hat die dir Spaß gemacht?«

»Am Anfang schon. Es ist aber mit der Zeit immer weniger geworden. Außerdem sind all die Kollegen nach und nach gegangen, mit denen ich gut ausgekommen bin. Am Schluss waren nur noch zwei, drei da, die in Ordnung waren, die anderen konnte man vergessen. Auf jeden Fall war es die letzten Jahre nur noch eine Quälerei für mich. Ich war dann gottfroh, als mein letzter Arbeitstag gekommen war und ich nicht mehr in dieses blöde Büro, zu diesem ganzen Papierkram gehen musste. Die Arbeit selbst hat mich die letzten Jahre regelrecht angewidert. Aber du in deinem Alter kannst das bestimmt nicht verstehen, du bist sicher froh, dass du eine Arbeit hast und dann auch so nette Kollegen wie diesen Heinrich, gell? Schließlich machst du ja auch was Sinnvolles. Oder?«

»Also, ich weiß nicht, was daran sinnvoll sein soll, immer die zu sein, die zu spät kommt. Wenn alles schon passiert ist. Die Toten vor einem liegen.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich glaube, ich schlafe heute bei dir, wenn du nichts dagegen hast.«

»Was soll ich dagegen haben, Paula? Max und ich freuen uns immer, wenn du kommst. Je länger, je lieber. Gell, Maxl?«

Der Rauhaardackel bestätigte das auf seine Weise. Er sprang aufs Sofa, mitten auf ihren Schoß, stützte sich mit den Vorderpfoten auf ihrer Brust ab und schleckte ihr übers Gesicht.

»Kann ich gleich auf dem Sofa bleiben? Es ist hier so gemütlich.«

»Ja, wenn du möchtest. Dann bring ich dir aber das Federbett. Und einen Schlafanzug. Weil nachts ist es mittlerweile doch recht frisch.«

Ihre Trutzburg, das taubenblaue Sofa, verließ sie an diesem Abend nur mehr zweimal. Einmal, um auf die Toilette zu gehen, und das andere Mal, um in den Schlafanzug zu schlüpfen. Ansonsten verbrachte sie die Zeit damit, ihrer Mutter bei deren allabendlichen Verrichtungen zuzusehen. Da musste die so wichtige, zumindest eine warme Mahlzeit des Tages, und wenn es nur eine Suppe war, zubereitet, der Couchtisch eingedeckt und das Geschirr wieder abgetragen werden, der Abwasch erledigt sein, der Hund zur letzten Gassirunde hinausgeführt, danach mit dem Frotteetuch sorgfältig abgetrocknet und ausgiebig gestreichelt werden; die Nachrichten wollten gesehen, die Zähne geputzt und das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen werden. Schließlich der letzte Kontrollgang des Tages: Ist die Haustür zugesperrt, hat das Maxl noch genügend Wasser, sind alle elektrischen Geräte ausgeschaltet, die Fenster zu, die Betten aufgeschüttelt, stehen Wasserflasche und Trinkglas griffbereit auf dem Nachtkästchen?

Und als schließlich die Lichter auch im Wohnzimmer ausgingen, dachte sie wehmütig: Was für ein behagliches, überschaubares, kleines Leben! Beneidenswert. In diesem Moment freute sie sich auf die Rente und ihr Dasein als Seniorin. Auf die Vorstellung, es dann ihrer Mutter in allem gleich zu tun. Bevor sie ausrechnen konnte, wie viele Jahre sie bis dahin der Wertschöpfung noch dienen und sehen musste, wie sie ihre Tage irgendwie rumbrachte, war sie auch schon eingeschlafen.