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Beim Gehen hatte sie darüber nachgedacht, was sie Heinrich über den Toten erzählen konnte. Eigentlich hatte sie bislang recht wenig über ihn erfahren. Gut, sie wusste, er war zuverlässig, fleißig und liebenswürdig, er hatte einen spektakulär schönen Mund, und er lachte seine Frau bei ungeschickten Sprechversuchen aus. Das jedoch konnte sie Heinrich nicht ernsthaft als ihren Ermittlungserfolg präsentieren. Also würde sie sich in ihrem Bericht auf die handfesten Dinge konzentrieren müssen. Wovon es nicht allzu viele gab.
In dem vor allem bei Touristen beliebten Wirtshaus in der Königstraße fanden sie einen Tisch für sich allein, direkt gegenüber der Eingangstür. Da es eine lange Weile dauerte, bis der Ober auf sie aufmerksam wurde, konnten sie sich Zeit für die Menüwahl lassen. Heinrich entschied sich für einen Lendenbraten mit Kartoffelbrei, sie selbst für sechs Nürnberger Bratwürste mit Sauerkraut. Diese Wahl hatte den Vorteil, dass ihre Küche heute Abend frei von Bratengestank sein würde. Während sie auf ihr Essen warteten, fiel ihr Eva Brunner ein. Sie kam sich undankbar vor, die Anwärterin, die ihr bis jetzt immer mit Pflichteifer und auch einer sehr seltenen Bereitwilligkeit zur Seite gestanden hatte, einfach so vergessen zu haben. Sie holte ihr Handy aus der Handtasche.
»Frau Brunner, gut, dass ich Sie gleich erwische. Herr Bartels und ich sind bei einem … äh, in einer Besprechung, Das kann länger dauern. An Sie habe ich eine Bitte: Nach dem Mittagessen fahren Sie nach Erlenstegen und fragen die Anwohner des Wasserwerks, ob sie in jener Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Wenn Sie sich sicherer oder sagen wir: besser damit fühlen, nehmen Sie einen Schutzpolizisten mit.«
»Das würde ich sehr gerne machen, Frau Steiner, aber dann ist ja in unserer Kommission keiner am Telefon. Oder sind Sie beziehungsweise Herr Bartels ab Mittag wieder im Büro?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Wir gehen nach der Besprechung direkt zur Agentur für Arbeit, das kann dauern. Stellen Sie einfach das Telefon auf die Zentrale um.«
»Wonach soll ich am Wasserwerk fragen?«
»Ob die Anlieger einen Wagen gesehen oder irgendetwas gehört haben. Irgendetwas Auffälliges. Jedes Detail kann wichtig sein.«
»Kann ich dazu einen Dienstwagen nehmen?«
»Ja, natürlich. Sie sind ein vollwertiges Mitglied unserer Kommission.« Dieser Schmeichelei haftete zwar ein Hauch von Wahrheit an, dennoch war sie zum größten Teil ihrem schlechten Gewissen gegenüber der jungen Polizistin geschuldet.
»Und morgen Vormittag erstatte ich dann Bericht?«
»So ist es. Auch darüber, was Sie von Herrn Eshaya erfahren haben und ich von Frau Shengali. Das beides allerdings können wir, denke ich, ganz kurz halten.«
Sie lauschte in ihr Handy, doch es folgte kein Einwand, keine Frage mehr, sondern lediglich ein euphorisches: »Jawohl, Frau Steiner.«
Heinrich sah sie freundlich, aber spöttisch an. »Das war eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, wie sie im Buche steht. Bei der Befragung kommt doch nichts raus, da hätte sich doch schon längst jemand gemeldet, wenn ihm etwas aufgefallen wäre.«
»Ja und nein. Es stand nicht groß in der Zeitung, Heinrich, da kann eine persönliche Befragung dem einen oder anderen bei der Erinnerung schon auf die Sprünge helfen.«
Und auch deswegen ein klares Nein, weil sie diese grundlegende Routinemaßnahme bislang schlicht – wie so manches andere in diesem Fall – vergessen hatte. Jetzt, nachdem Heinrich wieder da war, würde das anders werden.
Als ihr Teller bereits leer war, hatte Heinrich noch über die Hälfte seines Lendenbratens vor sich. Sie aß zu schnell, eine immerwährende Kritik ihrer Mutter an ihr. Sie beobachtete Heinrich, an ihm hätte Johanna Steiner ihre Freude gehabt: Bedächtig schnitt er ein Stück Braten ab, spießte es auf, schaufelte etwas Gemüse auf die Gabel und legte schließlich noch einen Klecks Kartoffelbrei nach. Der schonungsbedürftige Rekonvaleszent genoss dieses Arbeitsessen still und offenkundig.
Da sie wusste, dass Heinrich gleichzeitig essen und zuhören konnte, begann sie mit ihrem Bericht. Sie erzählte ihm von den so unterschiedlichen Dresscodes von Shengalis Ehefrau und seiner Tochter, von dem Freund mit der Vorstrafe und dessen punktueller Verschwiegenheit, von dem Wasserwerk und der Kindinger Parkbucht, dem verplombten Laster und dem anonymen Anruf, den Anzeigen und Gutscheinen. Das Beste behielt sie sich für den Schluss auf: die betenden Hände.
»Der Mörder spricht bewusst eine eigene Sprache. Er hat keinen Ehrgeiz, diese Tat zu verbergen. Warum faltet er die Hände so? Warum macht er sich diese Mühe?«
Heinrich reagierte, wie sie erhofft hatte. Er biss augenblicklich an, wie ein ausgehungerter Fisch nach einem besonders fetten Wurm schnappt.
»Das ist doch klar, Paula«, rief er aus, »Shengali hat seine, also des Mörders Moralvorstellungen verletzt. Diese betenden Hände kann, nein, die muss man als öffentliche Maßregelung interpretieren. Eine Abmahnung für einen Tabubruch von Shengali, dem jedoch mit diesem Zeichen des Glaubens gleichzeitig wieder vergeben wird. Shengali verlässt diese Welt als gläubiger Mensch, mit diesem Symbol kehrt er zurück in die Gemeinde der Gläubigen. Denn was sind im Gebet zusammengefaltete Hände anderes als das Symbol der Frömmigkeit, des Glaubens? Auf jeden Fall war das ein hochgradiger Spinner, der Shengali umgebracht und ihn dann so vor dem Wasserwerk zurückgelassen hat. Vielleicht sogar mehr, ein Kranker, ein Wahnsinniger.«
»Mag sein, ausschließen können wir es nicht. Dieses Symbol, wie du es nennst, kann aber auch eine Warnung sein. Der Täter wollte damit irgendjemandem etwas sagen. In dem Fall hätte er allerdings Pech gehabt. Die Zeitungen haben über den Mord nur am Rande berichtet. Und über die betenden Hände überhaupt nicht. Ja, ich glaube immer mehr, das war eine kalkulierte Warnung, nicht das Arrangement eines Kranken oder Wahnsinnigen. Eine Drohgebärde, die – wegen der Zurückhaltung der Presse – allerdings verpufft ist. Pech für den Mörder.«
»Auf jeden Fall ist es ein Symbol.«
Sie nickte zustimmend. »Das sehe ich genauso. Aber wofür? Wen wollte der Täter damit warnen? Welches Tabu des Mörders hat Shengali verletzt?«
»Das ist eigentlich zweitrangig. Ein Symbol stellt eben nicht die Wirklichkeit dar, die sich von uns rational überprüfen lässt. Der wir ermittlungstechnisch nachgehen können. Viel wichtiger ist doch, was dieses Symbol von ihm, dem Täter, preisgibt.«
»Und was gibt es deiner Meinung nach preis?«
»Seine Einstellung, seine innere Haltung. Ich werde in der Richtung recherchieren.«
Sie staunte über Heinrich. Bewunderte ihn sogar ein wenig für seine sehr abgehobenen, aber in sich schlüssigen Gedanken. Es war richtig von ihr gewesen, ihm die betenden Hände auf dem Silbertablett anzubieten. Zum Teil auch berechnend, denn sie wusste, wie sich Heinrich in ein solches Thema hineingraben würde. Nun hatte er die Verantwortung dafür. Und doch, irgendetwas an seiner Theorie störte sie.
»Aber die innere Haltung dieses Täters zu erkennen, stelle ich mir im luftleeren Raum recht schwierig vor. Mit einem Rückbezug zu dem vermuteten Tabubruch, den Shengali begangen haben könnte, würden wir uns leichter tun. Und in der Richtung haben wir bislang noch gar nichts. Kein Motiv, nicht das geringste. Auch keine einzige ernst zu nehmende Spur. Das Einzige, was wir haben, ist die Anzeigen-und-Gutschein-Geschichte. Um die kümmere ich mich jetzt.«
Heinrich bestand darauf, sie zur Agentur für Arbeit am Richard-Wagner-Platz zu begleiten. Ihr war das recht. Sie zahlte. Heinrich bedankte sich für die Einladung. Und sagte dann: »Weißt du, dass das heute eine Premiere ist? Wir sind noch nie irgendwo gemeinsam zum Essen hingegangen, ich meine, nur wir zwei.«
»Ja, stimmt. Das sollten wir öfters machen. Und das nächste Mal nehmen wir Frau Brunner mit.«
»Aber nur wenn sie vorher ein Schweigegelübde für mindestens eine Stunde ablegt.«
Auf dem Weg überlegten sie gemeinsam, was Fleischmann mit diesen »Bestrebungen, Ihre Kommission einer anderen Kommission zuzuschlagen« gemeint haben konnte. Sie waren sich schnell einig: Das war das Werk von Jörg Trommen, der einen guten Draht zu Bauerreiß hatte und diese Verbindung zum Leitenden Kriminaldirektor auch mit viel Einsatz und Umsicht pflegte. Noch schneller waren sich die Hauptkommissarin und der Oberkommissar einig in ihrem Urteil über den Kollegen.
»Das ist ein solcher Schleimer, das tut ja schon weh«, ereiferte sich Heinrich. »Ein solches Quadratarschloch, der wird immer schlimmer. Warum macht er so was? Der hat doch schon sechs Leute. Reicht ihm das nicht? Kann der den Hals nicht voll genug kriegen?«
»Anscheinend nicht. Wem Macht wichtig ist und wer viel davon hat, will immer mehr.«
Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, kamen diese »Bestrebungen« Trommens auf seine offene und überfällige Rechnung dazu. Der Kommissionsleiter war darüber hinaus ab sofort auch zur Zahlung von Zins und Zinseszins verpflichtet. Und zwar zu einem Wucherzinsbetrag.
Schließlich hatten sie den Richard-Wagner-Platz erreicht. Ein riesiger unbehaglicher Platz, eine von etlichen stadtarchitektonischen Sünden Nürnbergs. Eine besonders schlimme, wie sie fand. Rechts das opulente Opernhaus im zugeschnörkelten Jugendstil, links ein viergeschossiges Verwaltungsgebäude in seiner Zigarrenkistenanmutung aus den späten dreißiger Jahren, dahinter der postmoderne klobige Kasten der Agentur für Arbeit, beigefarben und abweisend mit seinen schmalen hohen Fenstern, die Schießscharten glichen. Zwischen all diesem Stil-Kuddelmuddel eine freie, mit Platten zugepflasterte Fläche: der Richard-Wagner-Platz, über den sich jetzt auffallend viele sorglos bis schlecht gekleidete Menschen – viele im Trainingsanzug und mit Turnschuhen – bewegten. Ein nur an der Straßenseite durch ein paar Bäume aufgelockerter Platz, ansonsten ein durch keine belaubte Pergola oder gar Brunnen verschönerter Ort, und in ebendieser Unaufgeräumtheit, Unbehaustheit so typisch für vieles, was südlich des Nürnberger Hauptbahnhofs lag. Obwohl sich an diesem frühen verregneten Nachmittag kein Lüftchen regte, hatte man hier den Eindruck, der Wind pfeife aus allen Richtungen.
Sie betraten die Agentur und nahmen Kurs auf die Rezeption, die links hinten in der Eingangshalle mit ihren vielen Wegweisern und Verwaltungsschildern lag. Dort mussten sie eine Weile warten, bis sie an der Reihe waren.
»Was kann ich für Sie tun?«, wurden sie von einer jungen Frau in bemüht neutralem Ton gefragt.
»Wir sind von der Polizei, Kripo Nürnberg. Wir ermitteln in einem Mordfall«, sagte Paula Steiner in der Hoffnung, durch den Verweis auf ein Kapitalverbrechen in diesem Amtsdschungel schneller ans Ziel zu kommen. »Wir brauchen kompetente Auskunft über Anzeigen und Gutscheine. Und über einen Toten namens Shengali, der bei Ihnen mal gemeldet war.«
»Welche Anzeigen, welche Gutscheine? Wann war der Mann bei uns gemeldet, in welcher Zeit?«
Sie merkte, wie sie ungeduldig wurde. So antwortete sie betont freundlich: »Das wissen wir leider nicht. Da sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen.«
»Möchten Sie mit unserer Pressestelle sprechen?«
»Ich fürchte, das bringt uns nicht weiter. Wer hier einmal gemeldet war, hat doch einen zuständigen Arbeitsvermittler? Oder täusche ich mich da?«
»Nein, das ist richtig.«
»Gut, diesen Vermittler, der für Abdulaziz Shengali zuständig war, möchten wir sprechen.«
»Shengali ist der Nachname, richtig? Mit Sh oder Sch?«
Sie buchstabierte den Namen, laut und langsam.
Ohne ein weiteres Wort griff die Rezeptionistin zum Telefonhörer. Anscheinend wurde die junge Frau hausintern mehrere Male verbunden, denn sie erwähnte die beiden Worte Kriminalpolizei und Shengali in dem folgenden Telefonat öfter. Paula Steiner sah auf die Uhr, dann auf Heinrich. Dieser hatte sein spöttischstes Lächeln aufgesetzt und war einen Schritt von ihr abgerückt, um seiner Chefin mehr Raum für ihren großen Auftritt, der seiner Meinung nach bald folgen würde, zu geben. Und wohl auch, um sie dabei aus der Distanz besser beobachten zu können.
Die Rezeptionistin legte den Hörer auf. »Sie sollen Ihre Fragen schriftlich bei uns einreichen. Wir werden uns bemühen, sie möglichst zeitnah zu beantworten. Als Adresse geben Sie bitte …«
»Jetzt hören Sie mal gut zu, Frau …« Paula Steiner suchte vergebens nach einem Namensschild an diesem emotionslosen Behördenwesen mit seinem Behördendeutsch, das so hervorragend zu dem unverbindlichen Beige dieses Amtes passte. »Wir werden hier keine Fragen einreichen. Wir suchen nämlich keine Arbeit, wir haben bereits eine. Und zwar eine, die sich mit der Aufklärung von Mordfällen befasst. Sollte ich nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten hier mit jemandem sprechen, der eine absolut zeitnahe Antwort auf alle meine Fragen weiß, dann werde ich bei Ihnen allerdings etwas einreichen. Und das heißt: Dienstaufsichtsbeschwerde wegen fortgesetzter plus vorsätzlicher Zeugnisverweigerung in einem laufenden Ermittlungsverfahren.«
Erneuter Griff zum Telefonhörer. Erregtes Wispern. Dann die Zusage: »Die Leiterin des zuständigen Teams, in dem der Vermittler, den Sie sprechen möchten, arbeitet, erwartet Sie. Dritter Stock, Zimmer 308.«
Als sie die Treppe in die dritte Etage hinaufstiegen, sagte Heinrich: »Darf ich mal fragen, was das ist – fortgesetzte plus vorsätzliche Zeugnisverweigerung?«
»Das, was du gerade da unten im Ansatz erlebt hast. Diesen Amtsmenschen kannst du nur einigermaßen beikommen, wenn du ihre Sprache sprichst und sie dabei noch übertriffst. Ich fürchte, für diese Teamleiterin werden wir uns in der Hinsicht etwas ganz Spezielles einfallen lassen müssen.«
Sie sollte recht behalten. Frau B. Entner/Teamleiterin – kurze rot gefärbte Haare, die wie eine eng anliegende Kappe ihr breites pralles Gesicht umgaben, Perlenohrringe, weinrote Schleifenbluse – war ihr Unmut, von zwei Polizisten so kurz nach der Mittagspause von ihrer Arbeit abgehalten zu werden, deutlich anzumerken. Und anzuhören.
»Das muss ja sehr dringend sein, dass Sie sich nicht an die Gepflogenheiten, die bei Amtshilfe unter Kollegen üblich sind, halten können. Wird man bei Ihnen im Polizeipräsidium auch sofort zu jedem Beamten vorgelassen? Haben Sie bei der Polizei so viel Zeit? Wir nicht.«
Diesen muffigen, abweisenden Ton kannte sie. In genau demselben sprach ihre Intimfeindin Reußinger. Sogar die Augenbrauen zog die Teamleiterin entrüstet hoch, wie es die Chefsekretärin in solchen Fällen zu tun pflegte. Fehlte nur mehr das ungeduldige Stakkato-Getrommel mit den Fingerspitzen auf dem Schreibtisch.
»Erstens, Frau Entner, ersuchen wir nicht um Amtshilfe, sondern befragen Sie in einem laufenden Verfahren, bei dem in der Tat Eile geboten ist. Vielleicht sagt Ihnen der Begriff ›Gefahr in Verzug‹ etwas?«
Erstaunt und entzückt blickte Heinrich bei dieser Frage zu ihr auf.
»Und zweitens, das nur zur Klarstellung, sind Herr Bartels und ich nicht verbeamtet. Drittens, dürfen wir, die wir lediglich Angestellte sind, auch dann Platz nehmen oder sollen wir die Befragung mit Ihnen im Stehen führen?«
Wortlos wies die Teamleiterin auf die beiden Besucherstühle, die vor ihrem mit allerhand Nippes vollgestellten Schreibtisch standen.
Paula Steiner setzte sich und sah nun auf ein Bataillon von Eulen und Uhus in allen möglichen Größen, Farben und Materialien. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass fliegende Eulen als Glücksbringer galten, sitzende dagegen Unheilverkünder darstellen sollten. Das verstärkte ihre Abneigung gegen die Perlenohrring-Trägerin.
»Meine Fragen betreffen Herrn Abdulaziz Shengali, der in den vergangenen Jahren beim Arbeitsamt gemeldet war und der jetzt ermordet wurde. Dann habe ich noch ein paar Fragen zu den Anzeigen und Gutschei …«
»Ha«, triumphierte Frau B. Entner laut mit leuchtenden Augen, »unsere Kunden unterliegen dem Datenschutz, wir mithin der Verschwiegenheitspflicht. Darüber dürfen wir keine Auskunft erteilen. Dafür werden Sie sicher Verständnis haben. Vielleicht sagt Ihnen der Begriff Zeugnisverweigerungsrecht etwas?«
Das Zeugnisverweigerungsrecht wertete sie als Retourkutsche auf das »Gefahr in Verzug« der Kommissarin. Und jetzt endlich tat die Teamleiterin das, worauf Paula Steiner schon gewartet hatte – sie trommelte mit den Fingerkuppen laut auf der hellgrauen Schreibtischplatte.
»Ja, der Begriff sagt mir etwas. In diesem Fall ist er allerdings von Ihnen falsch gewählt, weil Sie uns gegenüber nicht in der Position sind, Ihr Zeugnis zu verweigern. Und nein, dafür habe ich kein Verständnis.«
Noch bevor sie geendet hatte, war ihr die Lust auf eine weitere Befragung, auf eine Fortsetzung dieses Geplänkels, das zu nichts führte als zu Verdruss auf beiden Seiten, vergangen. Sie verstummte für einen Moment. In dieser Pause meldete sich Heinrich zu Wort. Betont verständnisvoll und entgegenkommend nach beiden Seiten hin. Bemüht, das Gespräch zwischen den Streithennen, das bislang nur auf der Amtsebene geführt worden war und drohte, ebendort bald zum Erliegen zu kommen, auf einer anderen Ebene in Gang zu setzen.
»Natürlich, Frau Entner, hätten wir uns vorher von der zuständigen Staatsanwaltschaft die rechtliche Grundlage dafür einholen können oder auch sollen, dass die Verschwiegenheitspflicht in diesem speziellen Fall nicht greift. Dann wären wir eben eine halbe Stunde später hier zu Ihnen gekommen. Das macht aber, denke ich, keinen großen Unterschied. Sie würden uns bei unserer Arbeit sehr helfen, wenn Sie uns alles sagen, was meine Chefin wissen muss.«
Frau B. Entner überlegte. Nach einer angemessenen Zeit, die klarmachen sollte, dass sie sich aus freiem Willen entschieden hatte zu kooperieren, drückte sie auf eine Taste ihrer Computertastatur. Routiniert und wie beiläufig.
»So, ich habe den Kunden in der ZPDV gefunden. Was wollen Sie denn nun konkret wissen?«
»Welchen Kunden?«
»Herrn Shengali.«
»Ach so. Ja, eben was in diesem Zett-Pe-Dingsbums da steht. Zum Beispiel, ob und wann Shengali arbeitslos war.«
»Aus der Zentralen Personaldatenverwaltung«, entgegnete die Teamleiterin in tadelndem Ton, »geht hervor, dass Herr Shengali bei uns schon mal gemeldet war. Vor knapp drei Jahren.«
»Mehr steht da nicht drin?«, fragte Paula Steiner erstaunt.
»Doch. Aber Sie haben ja nur danach gefragt, ob der Kunde bereits bei uns gemeldet war.«
Frau B. Entner spielte mit ihr Katz und Maus. Ein dummes, überflüssiges, ärgerliches Spiel, das ihr den Part der übertölpelten Katze zuwies und das ihre Geduld schon jetzt überforderte. Nun war sie es, die überlegte. Am besten wäre es, sie würde diese verstockte Person ins Präsidium vorladen, mitsamt ihrem Zett-Pe-De-Vau.
Da griff Heinrich zum zweiten Mal ausgleichend in das Gespräch ein. »Wie lange war Ihr Kunde denn arbeitslos? Und – haben Sie ihn vermitteln können, oder hat er selbst Arbeit gefunden?«
»Herr Shengali war über ein Jahr arbeitslos gemeldet. Das ist eine der Voraussetzungen, um einige der Förderleistungen der Agentur zu erhalten, wie sie dieser Kunde bekommen hat. Diese erhalten unter anderem Schwervermittelbare oder Langzeitarbeitslose wie Herr Shengali.«
»Was sind die anderen Voraussetzungen? Und wie dürfen wir Laien diese Förderleistungen verstehen?«, fragte Paula Steiner und gab sich dabei Mühe, unwissend und liebenswürdig zugleich zu klingen. Sie hatte sich wieder im Griff und umgab sich, wie fast immer in solchen vertrackten Fällen heftiger gegenseitiger Abneigung, mit einem Panzer aus Freundlichkeit.
»Der Kunde galt als hochgradig motiviert. Er hat den Kraftfahrerführerschein aus eigener Tasche bezahlt. Er galt zudem als förderfähig. Das heißt in diesem konkreten Fall«, Frau Entner sah kurz auf den Bildschirm, »er hat von uns zunächst einen Vermittlungsgutschein erhalten.«
»Und damit kann man was tun?«
»Damit versucht man – natürlich parallel zu den Bemühungen der Agentur –, über einen privaten Arbeitsvermittler einen Arbeitsplatz zu finden.«
»Und das hat Shengali gemacht und dabei Erfolg gehabt?«
»Ja. Er wurde bei uns abgemeldet am Tag seiner Arbeitsaufnahme bei dem Transportunternehmen Frey-Trans.«
»Aha. Und was macht der private Arbeitsvermittler mit diesem Vermittlungsgutschein?«
Die Teamleiterin sah sie verblüfft an. Dass jemand so begriffsstutzig sein konnte, und dann noch jemand von der Polizei. »Na, er kriegt das Geld von uns.«
Das endlich war ein Satz, den Paula Steiner verstand. Gutes, einfaches, klares Deutsch.
»Wie viel Geld?«
»Insgesamt zweitausend Euro, die in zwei Stufen ausbezahlt werden. Tausend Euro nach sechs Wochen, den Rest, wenn der Betreffende auch nach sechs Monaten noch in dem Arbeitsverhältnis beschäftigt ist.«
»Hat Herr Chanim Ostapenko ebenfalls einen solchen Vermittlungsgutschein bekommen?«
Erneutes Geklimper auf der Agentur-Tastatur. »Ja.«
»Also hat sich Ihre Agentur das einiges kosten lassen, um die beiden, Shengali und Ostapenko, wieder in Lohn und Brot zu bringen?«
»Natürlich. Das ist unsere Aufgabe. Dafür sind wir da. Außerdem haben beide Kunden noch eine andere Förderleistung von uns bekommen. Nämlich einen«, B. Entner machte eine Pause, um dem, was nun folgen sollte, die ungeteilte Aufmerksamkeit dieses ungleichen Polizistenpärchens da vor ihr zu sichern, »Eingliederungszuschuss.«
»Diesen Zuschuss kriegt dann wohl der Arbeitslose selbst?«, fragte Paula Steiner, die jetzt endlich ihren Block hervorgekramt hatte und begann, sich Notizen zu machen.
»Nein, natürlich nicht. Eingliederungszuschüsse gelten als Lohnzuschuss und werden an die Firma respektive an den Arbeitgeber ausbezahlt, der einen Schwervermittelbaren oder Langzeitarbeitslosen einstellt und damit dessen Arbeitsaufnahme nachhaltig unterstützt.«
»In dem Fall also an die Spedition Frey-Trans?«
Die Teamleiterin nickte erst zustimmend, um sie dann umgehend zu korrigieren: »Frey-Trans ist keine Spedition, sondern ein Transportunternehmen.«
»Was ist da der Unterschied?«
»Eine Spedition hat in der Regel keine eigenen Lkw, ein Transportunternehmen schon.«
Die Kommissarin ignorierte die schulmeisterliche Belehrung. Sie hatte eigentlich genug gehört zum Thema Gutschein. Eigentlich. Doch die Neugier ließ sie weiterfragen. »Um welche Summe handelt es sich denn dabei?«
»Das sind meist fünfzig Prozent vom Bruttolohn über zwölf Monate plus die anteiligen Sozialversicherungsbeiträge. Voraussetzung ist allerdings, dass die Firma Tarif bezahlt und das Vorbeschäftigungsverbot einhält. Und es müssen Vermittlungshemmnisse vorliegen.«
Sie war überrascht und rechnete nach. Knapp achtundzwanzigtausend Euro hatte es sich das Arbeitsamt – beziehungsweise der deutsche Staat – kosten lassen, um diese beiden Männer wieder in Arbeit zu bringen. »Was waren das für Vermittlungshemmnisse?«
»Bei Ostapenko die fehlende Ortskenntnis und bei Shengali«, Frau B. Entner blickte kurz auf ihren Bildschirm, »die mangelnde Fahrpraxis, die unzureichenden Deutschkenntnisse und damit die längere Einarbeitungszeit.«
Blieben nur mehr zwei offene Punkte auf ihrer Fragenliste – einer davon waren die ominösen Anzeigen. Auch dafür hatte die Teamleiterin eine Erklärung.
»Es könnte sein, dass der private Vermittler Stellenangebote in der Zeitung geschaltet oder in unserer Jobbörse veröffentlicht hat, die jedem Arbeitssuchenden zugänglich ist.« Bei den Letzteren, wurden sie freimütig unterrichtet, gebe es die geprüften und die ungeprüften Angebote. »Wir von der Agentur nehmen natürlich nicht alles, was die Privaten da so reinstellen, in Betreuung.«
»So, hm. Dann habe ich nur noch eine Frage an Sie, Frau Entner. Wie heißt der private Vermittler, der die beiden Vermittlungsgutscheine für Shengali und Ostapenko kassiert hat?«
»Da müsste ich im Trägerteam nachfragen lassen.«
»Bitte.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, natürlich.«
Frau B. Entner griff zum Telefon. Es folgte eine Reihe von Anrufen, während derer sie gedankenverloren aus dem Fenster sah. Schließlich richtete die Teamleiterin ihren Blick wieder fest auf die Kommissarin und sagte: »Das war Karsten Kramer von der Agentur Kramer GmbH. Ansässig hier in Nürnberg, Frauentorgraben.«
Paula Steiner bedankte sich artig, und Heinrich und sie erhoben sich. Bevor sie die Tür von außen schloss, drehte sie sich noch einmal um. »Wofür steht eigentlich das B. auf Ihrem Namensschild?«
»Das geht Sie zwar nichts an, aber ich heiße Beatrice.«
Wortlos verließen sie das Amt. Als sie über den noch immer zugigen Richard-Wagner-Platz gingen, sagte sie mehr zu sich als zu Heinrich: »Das passt überhaupt nicht.«
»Was passt überhaupt nicht?«
»So ein anmutiger Name zu so einem Drachen. Berta wäre viel treffender gewesen.«
»Was willst du denn? Sie hat uns doch alles gesagt, was du wissen wolltest. Manchmal bist du schon recht nachtragend.«
»Ja, aber nur höchst widerwillig hat dieser rot gefärbte Zerberus, diese Reußinger vom Arbeitsamt, Auskunft gegeben. Und ich bin überhaupt nicht nachtragend. Ungeduldig ja, aber nicht nachtragend.«
»Paula, mal was anderes: Hast du was dagegen, wenn ich nicht mehr mit ins Präsidium gehe? Ich bin jetzt richtig müde, ich könnte mich auf der Stelle auf die nächste Parkbank legen und schlafen. Aber hier ist ja keine Parkbank.«
»Ich auch, Heinrich, ich auch. Das kommt nur von diesem Amtsdeutsch. Zentrale Personaldatenverwaltung, förderfähig, Vermittlungshemmnisse, Arbeitsaufnahme – da wird man ja schon vom Zuhören mürbe. Sag mal, reden wir auch so verquer daher?«
»Ja, aber anders. Für Außenstehende bestimmt.«
»Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich schon eine Arbeit habe.« Sie sah lächelnd zu Heinrich, der an der Einfahrt zur Celtis-Unterführung stehen geblieben war. »Und so einen netten Kollegen wie dich. Das meine ich übrigens ganz ernst. Ich freu mich sehr, dass du wieder da bist. Die Zeit ohne dich war so was von fad. Mir hat die Arbeit gar keinen Spaß mehr gemacht.«
»So? Und was ist dann mit dem ›würdigen Ersatz‹ für mich, was ist mit Frau Brunner?«
»Ach ja, die ist schon in Ordnung, aber sie kann dich halt auch nicht in allen Punkten hundertprozentig ersetzen.«
»Das hat aber vor ein paar Tagen noch ganz anders geklungen.«
»Und du wirfst mir vor, ich sei nachtragend!«, lachte sie, noch immer gut gelaunt. Damit war das Thema auch für Heinrich Bartels abgeschlossen.
Dann verabschiedeten sie sich. Sie hätte hier, vor dem Celtis-Tunnel, inmitten des unaufhörlichen Autoverkehrs, umgeben von stinkenden Abgasen, noch stundenlang stehen bleiben und mit Heinrich über dies und das plaudern können. So aber fragte sie ihn, der sichtlich nach Hause wollte, nur noch: »Sag mal, findest du eigentlich auch, dass vierundzwanzigtausend Euro viel Geld ist für eine Firma, die zwei Fahrer einstellt?«
Er nickte heftig. »Ich finde schon zweitausend Euro viel Geld. Dafür dass jemand wahrscheinlich nur ein paar Anrufe tätigen muss und sonst keinen Handstreich von der eigentlichen Arbeit erledigt.«
»Ja, das finde ich auch.«
In der Königstraße holte sie ihr Handy aus der Handtasche und wählte ihre eigene Büronummer. Bereits beim zweiten Klingeln meldete sich die Zentrale. Sie gab an, für Frau Brunner, sollte diese heute noch einmal ins Präsidium kommen, eine Nachricht hinterlassen zu wollen: Herr Bartels und sie würden erst morgen früh wieder am Jakobsplatz erscheinen.
Auf dem Nachhauseweg legte sie noch einen Stopp in dem großen Kaufhaus unter dem Lorenzer Platz ein. In der Feinkostabteilung im zweiten Untergeschoss erstand sie eine frische Forelle, einen großen reifen Granatapfel und eine Tüte Pekannüsse sowie die erstbeste Flasche fränkischen Riesling in dem gut sortierten Weinregal. Nach den derben Bratwürsten samt deren eindimensionaler Begleitung hatte sie Appetit bekommen auf ein etwas raffinierteres Abendmahl.
Als sie die erworbenen Schätze daheim auspackte, kam sie sich wohlhabend und geschmäcklerisch zugleich vor – gleich zwei warme Mahlzeiten am Tag. Und eine davon sogar mit derart exotischen Erzeugnissen wie Granatapfel und Pekannüssen. Bevor sie sich an das Ausnehmen des Fischs machte, entkorkte sie die Weinflasche und füllte sich ein großes Glas ein. Bereits beim ersten Schluck dachte sie, was sie immer dachte, wenn sie einen Riesling probierte: dass sie im Prinzip doch alle anderen Weißweine daneben vergessen könne. Dass sie es weitaus einfacher und auch kostengünstiger haben würde, wenn sie in Zukunft nur mehr diesen herrlich süffigen Qualitätswein trinken würde.
Als die Forelle mitsamt ihrer Zwiebelfüllung im Backofen schmorte und die Granatapfelkerne in dem Essigsud mit der Petersilie, den Nüssen und dem Kardamon köchelten, war die Hälfte der Flasche leer und die trinkfeste Paula Steiner ein wenig angeheitert, gleichzeitig aber von diesem denkwürdigen Tag dermaßen berauscht, dass sie dasig lächelnd und auch ein bisschen blöde aus dem Küchenfenster hinüber zur Burg starrte. Das Leben, dachte sie, kann manchmal so schön sein.