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Genau in der Mitte des Raums bestand der Fußboden aus vier großen, nebeneinander eingesetzten Steinblöcken. Julia hatte herausgefunden, dass sich jeder Stein auf leichten Druck hin um neunzig Grad drehte und den Geräuschen nach zu urteilen, einen Mechanismus in Gang setzte.

»Ich bin mir sicher, dass diese vier Steine die Lösung des Rätsels sind«, sagte Julia lächelnd. »Hört ihr, was für einen Krach sie machen, wenn sie sich drehen.«

Klack! Klack!

»Ich glaube, du hast recht«, sagte Rick. »Aber in welche Richtung sollen wir sie drehen? Und was wird dann passieren?«

»Das lässt sich unmöglich vorhersagen ... Es gibt unendlich viele Möglichkeiten«, sagte Jason und seufzte.

Julia machte sich entschlossen daran, die vier Steine in Bewegung zu setzen.

»Weißt du, was du da tust, Julia?«, fragte ihr Bruder.

»Keine Ahnung«, entgegnete sie, ohne dabei die Steine aus den Augen zu lassen, »aber ich habe nicht die Absicht, mir stundenlang das Hirn darüber zu zermartern, wie rum man sie drehen muss, um ...«

Plötzlich ertönte ein Donner.

»Julia! Pass auf!«, schrie Jason.

Seine Schwester hielt kurz inne, bis der Donner verhallt war, dann machte sie sich wieder an den vier Blöcken zu schaffen.

»Also los! Dreht euch endlich!«, sagte sie laut vor sich hin.

Klack! Klack! Klack!

»Sicher«, antwortete Julia.

Der Boden unter ihren Füßen bebte und ein Klirren wie von Ketten ließ die Wände erzittern.

»So!«, rief Julia plötzlich und stand auf.

Krachend bewegte sich auch der letzte Stein zur Seite.

»Aber ja, klar, eine Geheimtür!« Jason sah seine Schwester bewundernd an.

»Unglaublich«, sagte Rick ehrlich verblüfft.

Die Kerzen waren schon beunruhigend weit heruntergebrannt. Um nicht plötzlich ganz ohne Licht dazustehen, beschlossen Jason, Julia und Rick immer nur eine zu benutzen. In ihrem Schein versuchten sie zu erkennen, was die Steinblöcke verborgen hatten.

»Was ist da? Eine Treppe?« Rick beugte sich vor, um die Stelle abzutasten, während Jason ihm mit dem Kerzenstummel Licht gab.

»Nein, es ist ganz glatt, fast wie ... ja, es fühlt sich wie eine Rutsche an«, sagte er unsicher.

Die drei setzten sich auf den Fußboden, um sich zu beraten. Das Licht wurde immer schwächer und in gleichem Maße, wie sich um sie herum die Dunkelheit ausbreitete, wuchsen auch ihre Bedenken. Sie schauten zu der Rutsche hinüber. Sie war breit genug. Doch keiner von ihnen hatte Lust, in der Finsternis ins Unbekannte zu sausen.

»Ich habe eine Idee!« Julia tastete den Boden ab, bis sie das Wörterbuch fand, zog es zu sich heran und wog es in der Hand. »Hört mal her!« Sie hockte sich neben die Rutschbahn und ließ das Buch darauf fallen.

Das Wörterbuch verschwand sofort im Dunkeln.

Rick sah Julia entsetzt an.

Julia dagegen lauschte konzentriert. Sie hörte das Wörterbuch rutschen und rutschen und rutschen ... bis sie irgendwann nichts mehr hörte.

»Darf man fragen, was du damit erreichen wolltest? Ist dir klar, dass wir jetzt das Nützlichste los sind, das wir dabeihatten?«, fragte Rick vorwurfsvoll.

Julia kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ich weiß nicht ... Ich hatte gehofft etwas hören zu können ... Zum Beispiel, ob es ins Wasser fällt.«

»Ins Wasser?«, schrie Rick wütend.

»Na ja, dann hätten wir gewusst, dass die Rutsche im Wasser endet.«

»Und das Wörterbuch könnten wir dann vergessen, und ... und ...« Rick sah zum Anfang der Rutschbahn hinunter.

»Jetzt ist es sowieso hinüber.« Jason schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ja, jetzt ist es hinüber!« Rick seufzte. »Sagt mal, aus welcher Ecke des Planeten Erde kommt ihr überhaupt? Wenn du, Jason, im Dunkeln ein Loch im Fußboden entdeckst, dann versuchst du drüberzuspringen. Während deine Schwester, sobald sie einen Geheimgang entdeckt, ein Wörterbuch hineinwirft, einfach um mal zu sehen, was dann passiert. Was denkt ihr euch bloß dabei? Mein Vater sagte immer, man könne den Leuten aus der Stadt nicht trauen. Verflixt noch mal! Ihr setzt eure hirnverbrannten Ideen so schnell um, dass man nicht einmal Zeit hat, ›Nein, warte!‹ oder so etwas Ähnliches zu rufen.«

Damit ließ er sie stehen, entfernte sich ein Stück weit von ihnen und hörte nicht auf leise vor sich hin zu schimpfen.

Jason und Julia wechselten einen komplizenhaften Blick.

»Ich glaube, du hast ihn verärgert«, raunte Jason seiner Schwester zu.

Sie seufzte und lächelte müde.

Im Grunde musste sie zugeben, dass Rick vollkommen recht hatte. Den größten Teil des Tages hatte sie ihren Bruder kritisiert, aber jetzt war sie diejenige gewesen, die eine Dummheit begangen hatte. Und ausgerechnet nachdem es ihr gelungen war, ganz alleine die Geheimtür zu öffnen.

»Ich biege das schon wieder hin«, sagte Jason und ging zu Rick hinüber.

Im Licht der einzigen Kerze warfen die beiden Jungen riesige Schatten an die Wand.

Julia betrachtete den Eingang zur Rutsche. Dann sah sie zu Rick hinüber, der gerade die Hand abschüttelte, die Jason ihm auf die Schulter gelegt hatte.

Sie stieg auf die Rutsche. »Das Wörterbuch ist unten angekommen«, flüsterte sie leise vor sich hin, um sich Mut zu machen. »Ich schaffe das auch.« Dann drückte sie sich ab und verschwand zur Hälfte in der Öffnung im Fußboden, hielt sich aber noch fest. »Jungs! Kommt mal her und hört zu!«

Jason und Rick drehten sich um.

»Julia, nein!«, schrie Jason.

Rick blieb wie versteinert stehen.

Julia lächelte ihm zu, wie um ihm zu sagen: Entschuldige Rick, ich habe einen Fehler gemacht, aber jetzt bringe ich alles wieder in Ordnung.

Dann ließ sie los.

Jason und Rick liefen zur Geheimtür.

»OOOOOOH-UUUH«, drang Julias Schrei zu ihnen hinauf. Dann folgte ein »YIPPIIIIHH!« und etwas später ein »AAAAAAH-OOOOOH-UUUUUHAAAAAAH!«. Auf einmal war nichts mehr zu hören.

»Julia!«, schrie Jason. »JULIA! JULIAAA!«

Es kam ihm irgendwie unwirklich vor, den Namen seiner Schwester in ein Loch im Fußboden hineinzuschreien.

Rick zog ihn von der Öffnung weg und flüsterte ihm zu, dass sie Julias Antwort nicht hören könnten, wenn er nicht mal kurz still war.

Und tatsächlich: Kaum hatte Jason zu schreien aufgehört, da ertönte Julias Stimme: »Es ist unglaublich! Es ist fantastisch! Jungs! Es ist toll! Das ist doch gar nicht möglich! Das ist ja ...!«

»Ich glaube, es geht ihr gut«, stellte Rick fest.

»Und die Rutschbahn endet nicht im Wasser«, sagte Jason erleichtert.

Nacheinander bestiegen sie die Rutsche.

Ihre Fahrt führte in die Finsternis. Jason glitt mit irrsinniger Geschwindigkeit über den feuchten, glitschigen Stein. Zwischendurch verlief die Bahn flacher oder wurde von Rillen unterbrochen, dann ging es wieder steil abwärts.

Zuerst verspürte er maßlose Angst, doch dann fand er das Dahinsausen berauschend und folgte Julias Beispiel: »YIPPIIIH!«, schrie er bei der ersten Kurve und: »UUUUUUHAAAH!« bei der zweiten.

Hinter sich hörte er Ricks Stimme.

Je weiter er nach unten kam, desto flacher wurde die Bahn. Dennoch hatte er immer noch eine unglaubliche Geschwindigkeit drauf. Schließlich wurde er auf einen Strand geschleudert. Unsanft landete er im Sand und riss die Augen auf. Erst jetzt merkte er, dass er sie die ganze Zeit über zugekniffen hatte.

Das Erste, was er sah, war das Wörterbuch der vergessenen Sprachen. Es lag neben ihm.

Dann sah er die Höhle und seine Schwester.

Julia stand einige Schritte von ihm entfernt und blickte sich staunend um.

Träge kleine Wellen rollten auf einem Sandstrand aus, den gewaltige Felswände einfassten. Über ihnen tanzten Hunderte winziger Lichter. An den Wänden der Höhle leuchteten nach und nach unzählige weitere helle Pünktchen auf.

»Das Erdlicht ...«, flüsterte Jason fassungslos und beobachtete die schwebenden kleinen Punkte.

»Nein«, sagte Julia. Sie hielt ihm ein Tonkügelchen hin und brach es dann vorsichtig auf. Innen drin war ein winziges Insekt. »Es sind einfach nur Glühwürmchen.«

»Glühwürmchen«, echote Jason.

»Ooooooh«, hörte er Rick hinter sich, bevor dieser mit dem Gesicht nach unten in den Sand purzelte.