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In Wirklichkeit stand Jason nur wenige Schritte von ihr entfernt, aber es war, als trennten sie Lichtjahre. Er hörte sich still die Diskussion an, die seine Schwester mit Rick führte, und war keineswegs einverstanden. Jason war sicher den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er hatte nie daran gezweifelt, nicht einmal, als er durch den Tunnel gekrabbelt war, und auch jetzt nicht, wo der Fußboden plötzlich aufgehört hatte.

Mit den Füßen über den Boden schleifend, hatte sich Jason langsam bis zum Abgrund vorgetastet. Nun hingen seine Zehen über dessen Rand. Dieses Gefühl machte ihn schwindelig. Die von unten heraufströmende kalte, salzige Luft strich über seine Haut und ließ ihn frösteln.

Abgrund ... Jason dachte über dieses Furcht einflößende Wort nach, das an eine dunkle und gewaltige, grundlose Leere denken ließ, an eine unendlich tiefe Schlucht.

In Wirklichkeit war er sich nicht sicher, ob das hier wirklich so schlimm war. Sie hatten ihre einzige Lichtquelle verloren, bevor sie das, was vor ihnen lag, hatten untersuchen können.

Wenn nur dieser Luftzug nicht entstanden wäre, wenn sie etwas gehabt hätten, was heller leuchtete als die Kerzen!

Eine andere Art von Licht. Vielleicht hatten sie die ja.

Jasons Finger schlossen sich um die Holzschachtel, die er in der Tasche trug. Die Schachtel mit den Erdlicht-Kügelchen.

In der dunklen Höhle leuchtet das Erdlicht wie Gold ...

Behutsam holte er die Schachtel hervor und öffnete sie. Einige Kügelchen fielen in seine Hand und von dort ins Leere.

Eins, zwei, drei ...

Die Kügelchen stießen irgendwo an und zerbrachen. Ihre Scherben stürzten in die Tiefe.

Jason bekam mit, wie Julia nach ihm rief, aber eigentlich lauschte er nur den Geräuschen, die die Kügelchen machten.

Sie prallten von irgendetwas ab.

Jason warf wieder eine vor seine Füße.

Erst Stille, dann tock, tock, tock ... und schließlich wieder Stille.

Ein dritter, noch längerer Wurf.

Tock.

Das Bällchen aus Ton war liegen geblieben, ohne zu fallen. Es war auf der anderen Seite liegen geblieben.

Also war das hier vor ihm gar kein Abgrund, sondern nur ein Loch. Ein Loch, das den Korridor durchtrennte, aber nicht länger sein konnte als ... Wie viel? Einen Meter?

Vielleicht auch weniger.

Einen Augenblick lang glaubte Jason ein winziges Licht zu sehen, einen schwachen Schimmer, der dort aufleuchtete, wohin er die kleine Tonkugel geworfen hatte.

Ein Lichtsignal, das sich plötzlich entzündete und gleich wieder erlöschte.

Wie kann das sein?, fragte er sich.

»Jason! Jason!«, rief Julia hinter ihm.

Lichtjahre von ihm entfernt.

Jason atmete tief aus. Ließ die Schachtel ins Leere fallen.

Und sprang.

Es war ein Sprung ins Leere, ins Nichts, ins Unbekannte.

Jason sprang, weil er davon überzeugt war, dass es richtig sei, es zu tun. Weil der Ausgang, für den sie sich entschieden hatten, der Einzige war, der abwärtsführte. Weil es der Einzige war, der sie nach unten bringen konnte.

Er sprang, weil er fand, dass man manchmal einfach den Mut haben musste, und fertig, ohne eine andere Gewissheit zu haben als die, dass man das Richtige tat.

Er sprang, weil er in sich Mut und Entschlossenheit spürte.

Jason landete völlig unerwartet auf massivem Gestein und atmete erleichtert aus.

Rick und Julia hatten das leise Klackern der aufschlagenden Tonkügelchen gehört, ohne zu begreifen, was da vor sich ging.

Jasons plötzliches Lachen kam für sie völlig überraschend.

»Leute! Er ist ganz klein!«, rief er. »Das ist der kleinste Abgrund, den es je gegeben hat.«

»Jason?«

»Ich bin drübergesprungen! Und er ist absolut lächerlich klein! Weniger als ein Meter. Ihr braucht euch nur zum Rand vorzutasten und ein Bein auszustrecken. Rick? Julia? Habt ihr mich gehört?«

»Was soll das heißen, du bist gesprungen?«, schrie Julia.

»Ich habe vorher mit den Tonkügelchen getestet wie breit das Loch ist. Und so ...«

»Du bist verantwortungslos!«

Jason antwortete seiner Schwester nicht. Es war nicht leicht, die Losgelöstheit zu erklären, die er vor dem Sprung empfunden hatte. Oder den Grund, aus dem er die Schachtel mit den kleinen Tonkugeln ins Leere hatte fallen lassen.

»Ich habe es getan und fertig. Entschuldigt bitte.«

»Dich entschuldigen? Ich ... ich ... Sobald Mama wieder da ist, werde ich ...«

Rick versuchte Julia zu beruhigen. Dann ging er vorsichtig zum Rand des Lochs und fragte Jason, ob es auf der anderen Seite ebenfalls einen starken Luftzug gab.

»Klasse!«

Dann konzentrierte Rick sich, sprang und landete neben Jason. Nach einigen missglückten Versuchen gelang es ihm, die Kerzen anzuzünden. Ihr Licht genügte, damit sie einander wieder sehen konnten: Jason und Rick auf einer Seite, Julia auf der anderen.

»Schau!«, rief Jason und deutete nach unten.

Der »Abgrund« war eigentlich nur ein Graben, der früher durch so etwas wie eine Falltür überbrückt gewesen sein musste, denn im Fels sah man noch die Überreste einiger alter, verrosteter Scharniere.

»Hier muss es einmal eine Abdeckung gegeben haben, vielleicht ein Gitter«, vermutete Rick.

Jason streckte Julia einen Arm entgegen. Sie ignorierte das Angebot und machte, ohne nach unten zu schauen, einen langen Schritt auf die andere Seite. »Na, dann los«, sagte sie, nahm von Rick eine Kerze und ging voran.

Schweigend legten sie ein Stück ihres Weges zurück, bis der Gang plötzlich aufhörte.

»Hier ist jetzt wohl endgültig Schluss«, stellte Julia genervt fest.

Sie befanden sich in einem schmucklosen, in den Fels gehauenen Raum, aus dem es offenbar keinen Ausgang gab. Ebenso wie im steinernen Zimmer bildeten aus Stein gehauene Blöcke den Fußboden.

»Ich glaube, hier hört alles auf«, meinte Julia und sah sich um.

Jason und Rick leuchteten Wände, Fußboden und Decke des Raums sorgfältig mit ihren Kerzen ab. Sie bemühten sich kein einziges Detail zu übersehen: Wer auch immer diesen Raum geschaffen hatte, konnte dabei die Absicht gehabt haben, eventuelle Besucher in die Irre zu führen.

»Oh nein!«, protestierte Julia nach der langwierigen, aber ergebnislosen Untersuchung. »Ich kehre jetzt nicht mehr um!«

Sie stellte sich mitten in den Raum und sah sich alles noch einmal gründlich an.

»Es gibt wirklich keinen Ausgang«, murmelte Rick, der die leicht gekrümmten Wände abtastete. Das Felsgestein schmiegte sich an die steinerne Rippe wie die Planken eines Schiffsrumpfs an den Kiel. Je mehr er über diese Ähnlichkeit nachdachte, desto mehr hatte Rick das Gefühl, sich unterhalb eines umgedrehten Schiffes zu befinden. Er erinnerte sich an die vielen Male, als er sich am Strand unter umgestülpten Booten versteckt hatte, die an Land gezogen worden waren, um zu trocknen.

Jason näherte sich den Rändern des Raums und tastete Zentimeter für Zentimeter den Schnittpunkt zwischen Fußboden und Wand ab. »Stein ... Stein ... Stein ...«

Julia, die noch immer mitten im Raum stand, hob ihre Kerze höher.

»Eins ... zwei ... drei ... vier ...«, hatte sie zu zählen begonnen.

Jason beendete ratlos seine Runde. »Hier außen herum gibt es nur massiven, undurchdringlichen Fels.«

Klack!, machte etwas Schweres, das über Stein rollte. Klack!, und dann: Tum–Tum–Tum–Klack!

»Ich glaube, ich habe da etwas entdeckt«, sagte Julia und klang sehr zufrieden.