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Die Bibliothek befand sich links von der Treppe, die in den ersten Stock führte. Sie hatte eine mit blauen und roten Medaillons bemalte Decke und zwei große Fenster, eines zum Hof und eines zum Garten. Mit Büchern vollgestopfte Regale bedeckten die Wände. Außerdem standen in der Bibliothek noch ein mit Büffelleder bezogenes Sofa, ein Klavier, auf dem sich Zeitschriften stapelten und zwei unbequeme Drehsessel. Ein an jedem Regal angebrachtes Messingschildchen gab Auskunft über den jeweiligen Inhalt: Geschichte, Medizin, Geografie und viele andere Themen.

Jason, Julia und Rick begannen sofort nach den Büchern zu suchen, von denen Nestor gesprochen hatte.

»Es muss dieses Regal sein«, befand Julia nach einer Weile.

» Paläografie. «

Jason runzelte die Stirn. »Und was bitte soll ›Paläografie‹ sein?«

»Auf Griechisch bedeutet ›paläo‹ alt, so wie in Paläolithikum. Und wenn ich mich nicht irre, heißt ›Grafie‹ Schrift.«

Rick und Jason sahen Julia voller Bewunderung an.

Dann stellte sich Rick auf die Zehenspitzen und zog ein dickes Buch aus dem Regal, auf dessen Rücken Wörterbuch der vergessenen Sprachen stand. In ihm fanden sie Dutzende von Abbildungen alter Schriften: das phönizische und ein indisches Alphabet, die ägyptischen Hieroglyphen, die geheimnisvolle Sprache der Etrusker, das unbekannte Rongorongo der Osterinsel und viele andere mehr.

Auf jeder einzelnen Seite des Wörterbuchs erwarteten sie neue Überraschungen. Da gab es Symbole, Zeichnungen, Geheimcodes, vergessene Sprachen und verschwundene Wörter.

Als Rick bei Seite einhundertsiebenundneunzig angelangt war, rief Jason plötzlich: »Halt! Ist es die hier?«

Auf einer Doppelseite war eine große Abbildung zu sehen:


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Die geheimnisvollen Zeichen der Scheibe von Phaistos

»Ja, das könnten sie sein.«

»Was steht da unten?«

Rick las laut vor: »›Es handelt sich um die fünfundvierzig geheimnisvollen Piktogramme – Bildzeichen, die auf der sogenannten ›Scheibe von Phaistos‹ aufgemalt sind. Diese unregelmäßig geformte Tonscheibe wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von den Archäologen Halbherr und Pernier auf der Insel Kreta entdeckt und ist bisher noch nicht übersetzt worden‹ ...«

»Das geht ja gut los«, sagte Julia leise.

»›Die Scheibe zeigt auf beiden Seiten eine spiralig angelegte Inschrift, die an eine Schlange erinnert. Die Buchstaben neben den einzelnen Piktogrammen gehen auf die phonetische Übersetzung durch den Paläografen Elton Carter im März 2003 zurück‹ ...«

Tatsächlich standen neben den einzelnen Zeichen jeweils die Buchstaben unseres Alphabets oder Zahlen.

»Das gehende Männchen steht für die Zahl Eins. Die Scheibe mit den Pünktchen entspricht unserem A«, murmelte Jason.

»Versuchen wir das Pergament zu übersetzen!«, rief Julia.

Rick schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Es genügt nicht, die Bedeutung der Buchstaben zu kennen, um eine Botschaft in einer alten Sprache zu entschlüsseln. Wir müssten auch die Sprache kennen, in der sie geschrieben ist.«

»Und woher willst du wissen, dass das eine alte Botschaft ist?«

»Aber das ist doch klar: ›Die Zeichen, die wir von der Scheibe von Phaistos her kennen‹«, las er in dem Wörterbuch, »wurden einige tausend Jahre vor Christi Geburt Benutzt.«

Die Zwillinge waren anderer Ansicht. Jason schnappte sich Papier und einen Stift und schrieb neben jedes Zeichen auf dem Pergament dessen phonetische Entsprechung. »›In‹!«, rief er, nachdem er die beiden ersten Zeichen identifiziert hatte.

Rick schüttelte abermals den Kopf. »Das bedeutet doch gar nichts«, sagte er.

»›Der‹!«, rief Julia.

Die Zwillinge sahen einander an: »›In der‹!«, sagten sie gleichzeitig.

Natürlich bedeutete das etwas.

Rick staunte. Konnte dieses Pergament wirklich eine Nachricht in ihrer Sprache enthalten, die jedoch in einem unbekannten Alphabet geschrieben war?

Nach und nach kam etwas heraus, das Sinn machte:

In der dunklen Höhle ...

Genau in diesem Augenblick gab der Stift, mit dem sie die Bedeutung der Zeichen übertrugen, seinen Geist auf.

»So ein Mist«, schimpfte Jason und schüttelte verärgert den Kugelschreiber. »Hol einen anderen«, wies er Julia an.

»Geh du doch!«

»Ich weiß nicht, wo die Stifte sind.«

»Wo ist denn der gelandet, mit dem du den Plan gezeichnet hast?«, mischte sich Rick ein.

»Hm«, machte Jason und erinnerte sich daran, dass er ihm aus der Hand gefallen und unter einen Schrank gerollt war. »Er ist unten. Ich hol ihn schnell.«

Er rannte die Treppe hinunter, während Rick und Julia sich wieder an die Entschlüsslung der Botschaft machten.

Jason hatte inzwischen die Tür zum steinernen Zimmer erreicht, als er plötzlich einen Schatten zu sehen glaubte, der sich vor ihm bewegte. Er blieb wie erstarrt stehen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken umher.

Von oben drangen gedämpft die Stimmen von Rick und seiner Schwester zu ihm, die ständig den gleichen Satzfetzen wiederholten: »›In der dunklen Höhle leuchtet a...‹«

»›... leuchtet das ...‹«

»›... leuchtet das Erd...‹«

Allmählich ließ das Gefühl von Panik nach. Jason schaute sich gründlicher um, konnte aber niemanden sehen und hörte auch nichts Verdächtiges. Vielleicht hatte er sich den Schatten nur eingebildet.

Vorsichtig schlich er sich in das steinerne Zimmer.

Auf dem Tisch lag die Karte, die sie kurz zuvor fertig gezeichnet hatten. Wachsam durchquerte Jason den Raum. Er kauerte sich vor den Schrank, unter den der Stift gerollt war, und tastete mit den Händen den Fußboden ab.

Offensichtlich war der Kugelschreiber in die hinterste Ecke gerollt und Jason musste mehr oder weniger unter den Schrank kriechen, um an ihn zu gelangen.

Als er ihn endlich zu fassen bekam, stutzte er. Er hatte mit seinen Fingern die Wand hinter dem Schrank berührt und sie hatte sich anders angefühlt, als erwartet. Irgendwas war hier faul.

Er schaute unter den Schrank und sah, dass sich dahinter eine schwere Holztür befand.

Einige Minuten später kehrte Jason in die Bibliothek zurück. Er übergab den anderen beiden den Stift und beobachtete gedankenverloren, wie sie die Botschaft entschlüsselten. Julia schrieb sie als Vierzeiler auf, wie ein Gedicht, und las sie mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme vor.

Während Jason ihr zuhörte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

In der dunklen Höhle

leuchtet das Erdlicht wie Gold

beleuchtet hell die Flotte

die deinen Wünschen folgt

»Donnerwetter«, flüsterte Rick.

»Gibt es hier in der Gegend Höhlen?«, fragte Julia.

Rick zuckte mit den Schultern. »Es geht vermutlich um Kilmore Cove. Mit Cove kann eine kleine Bucht gemeint sein, aber auch eine Höhle. Einer Sage zufolge versammelten sich früher während der Frühlings-Tagundnachtgleiche in Kilmore Cove die Druiden und hielten in einer Höhle am Meer ihre Zusammenkünfte ab. Aber während der römischen Eroberung soll die Höhle eingestürzt oder zerstört worden sein.«

»Hast du das gehört, Jason? Druiden!«, rief Julia. »Das heißt, das ist schon Tausende von Jahren her!«

Nachdem sie die Botschaft auf dem Pergament übersetzt hatte, konnte Julia es gar nicht mehr erwarten, hinter die Bedeutung der geheimen Nachricht zu kommen.

Rick zählte alle Sagen auf, in denen es um Höhlen, Schluchten oder Flotten ging und überlegte vergeblich, was man sich denn unter einem »Erdlicht« vorstellen sollte.

Jason dagegen, der selbst gerne Rätsel und unverständliche Worte erfand, lehnte still und gedankenverloren am Klavier.

»Jason?«, fragte seine Schwester. »Geht es dir gut? Tun dir die Kratzer weh?«

Ihr Bruder blickte starr ins Leere, auf einen nicht existierenden Punkt zwischen Julia und Rick.

»Jason! Bist du verhext worden, oder was?«, rief Julia nochmals und schüttelte ihn an der Schulter.

Das schien Jason allmählich in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Was?«

»Er schläft im Stehen.« Julia stöhnte. »Jetzt, wo wir wirklich mal ein echtes Geheimnis lüften wollen, macht mein Bruder ein Nickerchen. He, Jason, wach auf!« Julia knuffte ihren Bruder in die Seite.

Jason zuckte vor Schmerz zusammen.

»Hallo, Erde an Jason!«, rief Julia. »Hast du mitbekommen, was wir über die Druiden gesagt haben?«

»Jaja«, murmelte er, während er mit der Hand über sein T-Shirt strich. »Es ist nur so, dass die Höhle ...«

»Rick meint, dass es früher in der Nähe von Kilmore Cove eine Höhle gab, in der sich die Druiden versammelten und die in der Zeit der römischen Eroberung zerstört wurde.«

Jason schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Sie wurde nicht zerstört.«

»Woher willst du denn das wissen?« Julia warf ihrem Bruder einen spöttischen Blick zu.

»Weil ich, als ich heute in die Klippen geschaut habe«, sagte er leise, »weil ... ich habe sie heute gesehen.«