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Julia verdrehte die Augen. »Unglaublich!«, rief sie. Es war genau so, wie sie schon vermutet hatte: Nestor war ein verschrobener alter Mann. Klar, dass er alleine lebte: Wer würde es mit ihm aushalten!

Sie stand auf, ging zum Herd hinüber und hob den Deckel vom Topf. Widerstrebend musste sie zugeben, dass die Suppe sehr lecker roch. Ihr Magen fing laut an zu knurren.

Es war erst sieben Uhr. Doch nach ihren Streifzügen durch das Haus und dem Ausflug zum Strand war der Gedanke an eine Suppe mit knusprigen Brotstückchen unwiderstehlich.

»Unglaublich!«, sagte sie nochmals und schüttelte den Kopf, obwohl sie gar nicht mehr gegen den Gemüseeintopf protestieren wollte.

»Was ist unglaublich?«, fragte Jason, der gerade in die Küche kam.

Er hatte das schwere Wörterbuch der vergessenen Sprachen dabei und auch das Pergament, das in der Schachtel mit den Schlüsseln gewesen war.

Er legte alles auf den Küchentisch und rief: »Wow! Was für ein Duft! Warum spachteln wir das nicht gleich weg?«

Auch Rick kehrte in die Küche zurück und erzählte, dass er in der Villa Argo übernachten dürfe.

Julia lächelte. »Sehr schön.«

Jason reichte ihm das Wörterbuch. »Erst entschlüsseln wir das hier und dann wird gegessen«, sagte er.

Nestor sah zu den erleuchteten Fenstern der Küche von Villa Argo hinüber.

Er hörte, wie die Kinder lachten, durcheinanderredeten, einander laut etwas zuriefen.

Dann vernahm er das gedämpfte Klirren von Geschirr und Besteck. In der Villa gingen an verschiedenen Stellen Lichter an und aus.

Der alte Gärtner lächelte: Die Villa Argo schien zu neuem Leben erwacht. Er hoffte, dass dank der Kinder eine Zeit anbrach, die besser als die alte sein würde. Er dachte an die Begegnung mit Oblivia Newton am Nachmittag zurück und spürte plötzlich das Verlangen, etwas zu zerschlagen.

»Dieses Haus bekommst du nie, Oblivia«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Die junge, wohlhabende Geschäftsfrau verwaltete eine bedeutende Immobiliengesellschaft. Nestor wusste nicht, worin genau ihre Tätigkeit bestand, aber er nahm an, dass sie Häuser kaufte und verkaufte. Der Fachbegriff war wohl »Immobilienmaklerin«. Unter Umständen konnte sie an einem Haus mehr verdienen als die Architekten, die es geplant, oder die Maurer, die es gebaut hatten.

Die Ungereimtheiten der modernen Welt, dachte Nestor.

Oblivia Newton ging es immer und in erster Linie ums Geld. Nestor nicht.

Und dieser Unterschied zwischen ihnen verunsicherte die Maklerin: Sie hatte Nestor viel, sehr viel Geld geboten, sie hatte ihm eine Wohnung oder ein Haus seiner Wahl in einer beliebigen Ecke des Planeten versprochen. Sie hätte ihm alles gegeben, nur um die Herrin der Villa Argo zu werden.

»Wünschen Sie sich, was Sie wollen«, hatte sie ihm erst an diesem Nachmittag wieder gesagt, »und Sie werden es bekommen.«

»In Ordnung. Ich wünsche mir, dass Sie verschwinden«, hatte Nestor geantwortet und sie war vor Wut nahezu ausgerastet.

Draußen regnete es immer heftiger.

Nestor ließ sein Abendbrotgeschirr auf dem Tisch stehen, nahm seinen schwarzen Wachsmantel vom Haken und zog ihn an.

»Ich bin mir sicher, dass diese Kinder verstehen werden, warum das Haus so wertvoll ist«, murmelte er und ging hinaus.

Die Villa ächzte unter den heftigen Windböen. In der Küche war soeben der letzte Löffel Gemüsesuppe vertilgt worden, nachdem die geheime Nachricht entschlüsselt worden war. Jetzt saßen Julia, Jason und Rick über die Übersetzung des zweiten Pergaments gebeugt und lasen sie laut vor. Die erste Botschaft war schon unverständlich gewesen, aber nichts im Vergleich zu dieser:

Wenn du mit vieren eine öffnest nach Sinn

zeigt der Dritte von vieren das Motto an

zwei von vieren führen in den Tod

und der mit dem Motto bringt dich nach unten

»Tatsache ist«, stellte Rick düster fest, »dass nicht gesagt ist, dass die erste Nachricht tatsächlich die Erste ist. Es wäre doch eigentlich wahrscheinlicher gewesen, wenn uns ganz am Anfang dieses Pergament in die Hände gefallen wäre.«

»Auf jeden Fall besitzen wir jetzt vier Schlüssel«, fasste Julia zusammen. »Und hier steht: ›Wenn du mit vieren eine öffnest nach Sinn‹ ... blablabla und so weiter. Ich denke, mit ›eine‹ ist die Tür dort gemeint.«

»Oder einer der Schlüssel«, entgegnete Jason. »Aber was bedeutet ›nach Sinn‹?«

»Der Grund aus dem man etwas tut«, warf Rick ein. »Oder vielleicht die Richtung, wie zum Beispiel im Uhrzeigersinn.«

Jason führte seine Freunde ins steinerne Zimmer, ohne das Licht einzuschalten. Er durchquerte die zwei Wohnzimmer, die im Dunkeln sehr düster wirkten: Die verschiedenen Einrichtungsgegenstände sahen wie schlafende Lebewesen aus. Regen und Wind hatten an Stärke zugenommen und peitschten stark auf das Haus ein. Das Türmchen ächzte und knarrte und auf der Treppe zog es heftig.

Jason hatte die vier Schlüssel mitgenommen und spürte ihr Gewicht in seiner Hosentasche. Gedankenverloren griff er nach ihnen und nahm sie in die Hand. Im steinernen Zimmer tastete er nach dem Lichtschalter, doch noch bevor er ihn fand, zerriss ein Blitz die Nacht und tauchte den Raum in gleißendes Licht.

Jason sah zum Fenster hinüber. Und blickte in ein Gesicht, aus dem ihm zwei funkelnde Augen entgegenstarrten.

Er schrie auf.